Die Erfahrungen am UKT sowie die berichteten Hürden bei der Wahrnehmung von klinischer Ethikberatung wurden zum Anlass genommen, weitergehende Möglichkeiten der Implementierung von Strukturen der Ethikberatung zu bedenken. Diese sollten sowohl die Qualität und Unabhängigkeit der bestehenden Angebote wahren sowie durch neue Maßnahmen Hemmnisse der Nutzung von Ethikberatung reduzieren. Im Ergebnis wurde in einem Pilotmodell am Universitätsklinikum Tübingen ein neuer Ansatz des Ethikmanagements konzipiert, implementiert und (zukünftig) evaluiert: das Tübinger Modell der Ethikbeauftragten der Station.
Der Impuls für die Entwicklung des Tübinger Modells ging von der AG Ethik aus, die in einer Unterarbeitsgruppe Möglichkeiten diskutierte, die Ethikkompetenz insbesondere der Pflegekräfte zu fördern und den Austausch über ethische Belange in den jeweiligen Stationen des Klinikums zu stärken.Footnote 2 Nach einer Phase der Ideenfindung wurde die Arbeitsgruppe 2016 durch die Pflegedirektion des Klinikums mit der Entwicklung eines Konzeptpapiers betraut. Zwischen 2016 und 2019 wurden in regelmäßigen Planungstreffen durch Mitglieder der AG Ethik, der Geschäftsführung des Ethik-Komitees sowie der Stabsstelle Pflegeorganisation des Universitätsklinikums Zielsetzungen und Maßnahmen zum Ausbau des Ethikmanagements formuliert und mit relevanten KlinikvertreterInnen diskutiert.
Die Konzeptentwicklung erfolgte im Austausch mit den TeilnehmerInnen des „Ethiktreff“, die Impulse für mögliche Verbesserungen der Organisationsstruktur des Ethikangebots am UKT gaben. Im Planungsteam wurden zudem bestehende Ansätze und Modelle eines umfassenden Ethikmanagements recherchiert und erfasst, die in deutschsprachigen Einrichtungen der Patientenversorgung eingesetzt werden. Dabei hatte insbesondere METAP (Albisser Schleger et al. 2019) eine Vorbildwirkung für das Tübinger Modell. Dieses knüpft damit zugleich an verschiedene Bemühungen in ausländischen Gesundheitseinrichtungen an, ethisches Denken und Handeln als Teil der gesamten Organisationskultur zu fördern, Strukturen zur Verknüpfung zwischen den etablierten Formaten der Ethikberatung und den jeweiligen Organisationseinheiten aufzubauen, und damit ein Wertebewusstsein in der alltäglichen Praxis der Gesundheitsberufe zu stärken (exemplarisch: Bates et al. 2017; MacRae et al. 2005; Fox et al. 2010).
Zielsetzungen des Tübinger Modells
Primäre Zielsetzung des Tübinger Modells stellt die verbesserte Organisation von Ethik am Universitätsklinikum dar. Für diesen Zweck werden dauerhafte, dezentrale Strukturen geschaffen, die das bestehende Angebot einer zentralen Ethikberatung durch das Ethik-Komitee bzw. die AG Ethikberatung ergänzen sollen. Zu den Organisationseinheiten des Tübinger Modells gehören i. eine verstetigte Projektstelle für die Ethikbeauftragten, ii. ein Pool an EthiktrainerInnen sowie iii. die Ethikbeauftragten auf den jeweiligen Stationen. Als initiale Zielgruppe stehen die professionell Pflegenden des Klinikums im Mittelpunkt des Vorhabens. Dies einerseits als Ethikbeauftragte, die in ihrer Rolle ethische Fragestellungen identifizieren und die Angebote der Ethikberatung aufzeigen sowie koordinieren. Andererseits geht es auch darum, die Hemmschwelle innerhalb der Berufsgruppe der Pflegenden zu reduzieren, professionsbezogene Konflikte zu benennen und belastende ethische Konfliktsituationen zur Sprache zu bringen.
Durch ein Qualifizierungsprogramm für Pflegekräfte soll deren ethische Sensibilität unterstützt und diese bekräftigt werden; ihre ethischen Wahrnehmungs- und Entscheidungskompetenzen sollen gefördert werden. Auf den jeweiligen Stationen des Klinikums sollen zudem Routinen institutionalisiert werden, die den Austausch über ethische Fragen nicht auf Akutsituationen begrenzen und – in Form des zentralen Angebots einer klinischen Ethikberatung – an Dritte übertragen, sondern regelhaft in den Arbeitsalltag integrieren. Das Tübinger Modell möchte somit zugleich Hinderungsgründe umgehen, die der Ethikberatung in Einrichtungen des Gesundheitswesens im Wege stehen.
Die vorläufige Fokussierung auf die Berufsgruppe der Pflegekräfte war durch verschiedene Faktoren bedingt: Aus Perspektive der Organisationsentwicklung sind sie als größte Berufsgruppe am Klinikum naheliegender Adressat für ein integratives Ethikangebot. Da das ärztliche Personal häufig im Rotationsprinzip Stationen des Klinikums wechselt, die Ethikbeauftragten allerdings als kontinuierliche Ansprechpartner fungieren sollen, hatte die Qualifizierung von Pflegekräften während der Pilotphase des Tübinger Modells zudem Vorrang und wurde auch im Sinne einer Professionalisierung der Pflege aktiv durch die Pflegedirektion in Abstimmung mit dem Klinikumsvorstand unterstützt. Aufgrund der häufig gegebenen Nähe in der Patientenversorgung sind Pflegekräfte überdies eng in ethisch sensible Situationen eingebunden. Damit in Verbindung stehen zugleich Belastungserlebnisse, die nicht nur auf Personal- oder Ressourcenmangel, sondern auch auf anhaltenden moralischen Stress („moral distress“) zurückgeführt werden können und nicht selten zum Berufsausstieg führen – eine langanhaltende Entwicklung, die sich im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie noch einmal verschärft.
Als sekundäre Zielsetzung des Tübinger Modells gilt daher die Reduzierung von moralischem Stress („moral distress“) des Pflegepersonals und anderer MitarbeiterInnen. Es wird hypothetisiert, dass die routinemäßige Verhandlung von ethisch aufgeladenen Situationen im Behandlungsteam die Risikofaktoren für moralischen Stress (Corley et al. 2001; Epstein und Hamric 2009) verringert und schließlich auch zur Arbeitszufriedenheit beiträgt. Begleitend zur Implementierung wird daher eine Prä-Post-Erhebung zur Wahrnehmung und Relevanz ethischer Konflikte im Stationsalltag sowie zum Erleben von moralischem Stress durchgeführt (siehe Abschnitt „Evaluation“). Dies soll zugleich eine Evaluation dieses erweiterten Angebots der Ethikberatung erlauben. Durch die Stärkung von Ethikkompetenz auf den Stationen sowie durch die Gewährleistung eines regelhaften Austauschs über entsprechende Themen im Behandlungsteam wird zudem ein positiver Effekt auf die Zufriedenheit von PatientInnen sowie Angehörigen wie auch in Bezug auf den Erhalt der Versorgungsqualität erhofft.
Aufgaben der Ethikbeauftragten und Vernetzung zum KEK
Ethikbeauftragte der Station (EBS) sind MitarbeiterInnen, die nach einer mehrtägigen Schulung durch sogenannte EthiktrainerInnen auf ihrer Station als AnsprechpartnerInnen und Bezugspersonen für ethische Fragen fungieren. Die EBS erfüllen dabei sowohl stationsinterne als auch stationsübergreifende Aufgaben. Im Rahmen ihrer Tätigkeit auf Station sollen sie ethische Handlungsbereiche identifizieren, das Stationsteam für entsprechende Fragestellungen sensibilisieren und dabei unterstützen, dass diese regelhaft zur Sprache kommen. Die EBS moderieren hierzu auch „kleine“ Fallbesprechungen im Behandlungsteam, die sogenannten FiBs. Diese stellen eine niederschwellige Ergänzung zu den etablierten ethischen Fallbesprechungen durch die AG Ethikberatung des KEK dar. Aus ihrer Stationserfahrung sollen EBS zudem einen möglichen Weiterbildungsbedarf im Kollegium hinsichtlich Themen der klinischen Ethik bzw. der Pflegeethik identifizieren und an die Projektstelle für die Ethikbeauftragten bzw. an die EthiktrainerInnen kommunizieren. Entsprechende Impulse werden in fortlaufenden (Aufbau‑)Schulungen oder im Weiterbildungsangebot für die EBS aufgegriffen.
Die EBS sind während der Arbeitstätigkeit die ausgewiesenen Ansprechpersonen für ethisch sensible Entscheidungssituationen auf ihren jeweiligen Stationen. Um ethische Konfliktsituationen frühzeitig zu identifizieren, soll eine regelhafte Kommunikation bspw. einmal wöchentlich in der Übergabe von Früh- auf die Spätschicht oder in jeder Teamsitzung erfolgen. Dabei liegt der thematische Fokus auf der stationären Versorgung der PatientInnen, insbesondere hinsichtlich ethischer Fragen einer möglichen Über‑, Unter- oder Fehlversorgung, Entscheidungskonflikten mit Angehörigen oder bspw. wenn die Pflegekraft die Patientenautonomie als gefährdet einstuft. Strukturell zu klärende Fragen (z. B. Unterbesetzung des Pflegeteams und daraus resultierende Überlastanzeigen) sollen nicht in diesem Rahmen besprochen werden.
Die EBS sollen so (potenzielle) ethisch sensible Vorkommnisse wahrnehmen, ansprechen und gemäß definierter Entscheidungsroutinen entsprechende Schritte in die Wege leiten. Die Bearbeitung von ethischen Konfliktsituationen erfolgt dabei in Anlehnung an das vierstufige Eskalationsmodell von METAP (Albisser Schleger et al. 2019, S. 229–238) und sieht folgende Routine vor: 1. Individuelle Entscheidungsfindung der Betroffenen mit dem/der EBS, 2. Beratung mit den EthiktrainerInnen, 3. Fallbesprechung im Behandlungsteam (FiBs) sowie 4. Inanspruchnahme einer ethischen Fallbesprechung durch das Ethik-Komitee. Bevor ein Ethikkonsil ausgelöst wird, werden Konfliktsituationen also zunächst auf den Stationen adressiert: durch Austausch mit den EBS, den EthiktrainerInnen bzw. durch eine Besprechung der MitarbeiterInnen auf den Stationen.
Ähnlich wie METAP verfolgt das Tübinger Modell damit das Anliegen, ein mehrstufiges Beratungsangebot zu initiieren, welches auf ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Organisationsebenen im Klinikum setzt. Das Tübinger Modell weicht dabei nicht nur hinsichtlich der Zielgruppe der Pflegekräfte und dem für sie entwickelten Ausbildungsprogramm von METAP ab, sondern hat den Algorithmus des Eskalationsmodells (Albisser Schleger et al. 2019, S. 234) an gegebene Organisationsstrukturen und -erfordernisse angepasst. Die EBS sowie die MitarbeiterInnen der zentralen Projektstelle erfüllen dabei im Wesentlichen die Aufgaben der in METAP vorgesehenen Steuergruppe der jeweiligen Abteilungen. Bereits die erste Stufe der im Tübinger Model vorgesehenen Entscheidungsroutine ist dialogisch ausgerichtet, sodass im Fall einer potenziellen Konfliktsituation ein kontinuierlicher Austausch zwischen den Betroffenen und einer festen Bezugsperson in Form der/des jeweiligen EBS erfolgt. In der zweiten Stufe wird der in METAP vorgesehene Austausch mit einem Mitglied der Steuergruppe durch eine kollegiale Besprechung mit den EthiktrainerInnen der übrigen Stationen ersetzt. Anders als in der dritten Stufe des METAP Eskalationsmodells möchte die Fallbesprechung im Behandlungsteam (FiBs) im Tübinger Modell bewusst kein übliches Ethikkonsil abbilden und somit bekannte Hemmnisse bei der Wahrnehmung einer zeit- und ressourcenintensiven ethischen Fallbesprechung reduzieren. Die FiBs bilden vielmehr eine niederschwellige Routine ab, bei der ethische Aspekte des Arbeitsalltags regelmäßig auf den Stationen zur Sprache kommen dürfen und sollen. Erst in der letzten Stufe wird eine ethische Fallbesprechung initiiert, wofür die bestehenden Angebote der AG Ethikberatung des KEK genutzt werden. Durch den anhaltenden Austausch zwischen EBS, EthiktrainerInnen und Projektstelle sowie zwischen Projektstelle und dem KEK wird das Beratungsangebot dabei zugleich in die Breite der Organisation getragen.
Die EBS erfüllen so auch klinikumsweit eine Scharnierfunktion zwischen den jeweiligen Stationen und dem Klinischen Ethik-Komitee. Die EBS arbeiten hierzu in einem engen Verbund mit der Projektstelle der Ethikbeauftragten sowie den EthiktrainerInnen, die bei Bedarf weitere kollegiale Unterstützung durch EthiktrainerInnen vermittelt. Die EBS dokumentieren zudem aufkommende und sich wiederholende ethische Fragestellungen und berichten diese in den monatlichen Vernetzungstreffen der EBS aller Stationen. Über die Teilnahme der EBS an den regelmäßig stattfindenden Vernetzungstreffen können diese zugleich Informationen über laufende Bemühungen des Ethikmanagements am Klinikum erfahren und an ihr Kollegium weitergeben sowie ihre Praxiskenntnisse und -erfahrungen austauschen und reflektieren. Eine Teilnahme der EBS am „Ethiktreff“ dient unter anderem der Vertiefung in der Wahrnehmung ethischer Frage- und Problemstellungen – oftmals konkret anhand eines Falles – sowie dem berufsgruppenübergreifenden Austausch. Zugleich berichten Mitglieder der „AG Ethik“ bzw. die Mitarbeiterinnen der Projektstelle in jeder Sitzung des Klinischen Ethik-Komitees über den aktuellen Projektstand und Erfahrungen zu den Aktivitäten auf den Stationen der EBS und stehen in regelmäßigem Kontakt mit der Geschäftsführung des Klinischen Ethik-Komitees. Durch diese Verknüpfung von Bottom-up- und Top-down-Elementen soll ein effektives Ethikmanagement am Universitätsklinikum gefördert werden.
Besetzung der EBS und Kompetenzanforderung
Am UKT verantworten eine Bereichsleitung und deren Stellvertretungen fachlich und disziplinarisch alle nichtärztlichen Versorgungs- und Organisationsprozesse in einer zugewiesenen Pflege- bzw. Versorgungseinheit. Entsprechend der im Klinikum verankerten Tätigkeitsbeschreibungen liegt die Aufgabe des/der EBS im Verantwortungsbereich der stellvertretenden Bereichsleitung II. Er/Sie hat die Möglichkeit, diese Tätigkeit selbst zu übernehmen oder das Zeitkontingent für die Erfüllung der Aufgaben an eine Pflegekraft des Bereichs zu übertragen.
Die Übernahme der Tätigkeit des/der EBS erfolgt dabei stets freiwillig. Ein Interesse an ethischen Fragen sowie die Bereitschaft zur Weiterqualifikation wird vorausgesetzt. Eine mindestens fünfjährige Erfahrung im Fachbereich sollte gegeben sein, ebenso wie ein Maß an Kommunikations‑, Reflexions- und Durchsetzungsfähigkeit sowie eine bestehende Vertrauensbasis im Kollegium der jeweiligen Station.
Ressourcenausstattung und Implementierung
Im Vorfeld der Projektumsetzung wurde ein Ressourcenplan erstellt, der den Zeitbedarf der Qualifizierungsmaßnahmen (Basis- und Aufbauqualifizierung) beinhaltet sowie die monatlichen Vernetzungstreffen und kollegialen Beratungen, Fortbildungen und die Aufgabenwahrnehmung auf den jeweiligen Stationen. Der Ressourcenbedarf umfasst im ersten Implementierungsjahr 200 h pro EthiktrainerIn sowie 250 h pro Mitglied der AG Ethik. Um eine kontinuierliche Projektumsetzung und -evaluation zu gewährleisten, wurde eine Projektstelle für das Tübinger Modell mit einem Beschäftigungsumfang von 50 % an der Pflegedirektion etabliert, die fachlich von der Gruppenleiterin der Stabsstelle Qualitätsentwicklung und Pflegeberatung der Pflegedirektion begleitet wird. Die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen der Stelle sind fachabteilungsübergreifend tätig. Zu den Aufgaben gehören insbesondere die Struktur- und Qualitätsentwicklung bspw. Projektevaluation, Fortbildungen und Öffentlichkeitsarbeit.
Mittelfristig sollen ausgebildete EBS das Ethikmanagement des Klinikums auf allen bettenführenden Stationen unterstützen. Zur Implementierung wurde ein Roll-out-Plan mit 5 Phasen definiert: Phase 1 beginnt an den „Hot-Spots“, den Intensivstationen und eng angrenzenden Stationen. Phase 2 widmet sich peripheren Stationen in räumlicher Nähe der Stationen in Phase 1. Die in Phase 1 qualifizierten MitarbeiterInnen agieren zugleich als Multiplikatoren und entlasten die EthiktrainerInnen während der nachfolgenden Implementierungsphasen. In Phase 3 und Phase 4 werden weitere periphere Stationen qualifiziert. Phase 5 ist als übergreifende Qualifizierung geplant.
Die Implementierungsphase des Tübinger Modells ist für eine Zeitdauer von vier Jahren angelegt (2020–2024). Die Anzahl der EBS pro Station ist abhängig von der Anzahl der Betten auf Station. Die interne Festlegung beinhaltet für Intensivstationen eine/n EBS pro 20 Betten und für (periphere) Stationen eine/n EBS pro 30 Betten. Pro Station wird mindestens ein/e EBS qualifiziert, so dass insgesamt 60 bis 80 EBS qualifiziert werden.