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„Die kommen alle her und gaffen.“ Das Zitat, das dem Fallbeispiel den Titel gibt, ist alltäglich für die Adipösen. Im Alltag gaffen die Klassenkameraden und die Menschen auf der Straße; aber auch im Gesundheitssystem treten Stigmatisierungen auf, die der Logik des „Eigenverschuldens“ folgen: Adipöse seien selbst verantwortlich für ihr Gewicht.
Auffällig am Film ist, dass er wenige Gefühle der Figuren zum Ausdruck bringt. Sie versuchen zu funktionieren und das Familiensystem aufrecht zu erhalten. Das funktioniert im Lauf der Geschichte immer weniger, Bonnie, die hochgradig adipöse Mutter, und ihre Familie benötigen Unterstützung. Wenn Gefühle dargestellt werden, sind es Schamgefühle in Bezug auf den geistig behinderten, fast 18-jährigen Sohn, Arnie: Scham über den Suizid des Vaters vor 17 Jahren nach Arnies Geburt und Scham über den Körper der Mutter. Es folgt eine Schamabwehr durch sogenanntes emotionales Essen der Mutter. Emotionales Essen tritt bspw. bei Trauer, Ängsten oder Stress auf. Das Essen und die verbundenen angenehmen Gefühle können diese unangenehmen Gefühle – kurzfristig – dämpfen. Über das Schamgefühl ergibt sich ein Bezug des Films zur realen Welt, denn die Betroffenen empfinden oft Scham.
Daher ist es bei der Beratung der Betroffenen wichtig, eine offene Atmosphäre zu schaffen und Orientierung zu bieten. Wäre Bonnie eine reale Adipositas-Patientin, würde ich ihr Fragen zu ihrer Biografie stellen, um zu verstehen, was sie erlebt, was sie geprägt und was sie im Zusammenhang mit Essen gelernt hat. Zentral in der Behandlung dieser Patienten ist die therapeutische Aufgabe, mit dem Patienten herauszufinden, warum er weit über die Sättigung hinaus isst, ob man eine Kompensationsmöglichkeit in der Emotionskontrolle erarbeiten kann und ob man erfassen kann, warum er Gewicht reduzieren möchte. Die Adipositas ist häufig kein Problem der Disziplin, sondern der Emotionsregulation.
Die Therapie zur Gewichtsreduktion sollte in Gruppen stattfinden u. a. mit Ernährungsberatung, Sättigungsprotokollen, Körperwahrnehmungsübungen, „realistischem“ Sport bspw. Aqua Fitness, Entspannungsverfahren, Gewichtskontrollen und Emotionsregulationstraining.
Es hilft, wenn Behandelnde sich klar machen, dass Verhaltensänderungen jeden Tag für den Betroffenen eine Schlacht mit Versuchungen und Gewohnheiten ist, in die er zieht. Das Gesundheitssystem verschließt derzeit durch fehlende Maßnahmen die Tür vor den Betroffenen. Sie isolieren sich und werden komplexer krank (Spätfolgen durch Diabetes mellitus, Arthrose, kardiale Belastungen, Depressionen usw.). Dadurch suchen sie noch seltener und zu spät den Kontakt zum Gesundheitssystem (Sikorski et al. 2011).
Konkret auf die Patientin im Film übertragen hieße das: Sobald Bonnie sich wünschen würde, beraten zu werden, sehe ich auf individueller Ebene keine ethischen Probleme.
Falls sie nicht den Wunsch haben sollte, beraten zu werden?
Jeder hat das Recht, zu viel essen zu dürfen. Das mag i.R. einer freien Persönlichkeitsentfaltung sein. Dennoch denke ich, dass es oft an Aufklärung oder Therapien fehlt und Ängste den Betroffenen die Wege zur Gewichtsreduktion versperren. Adipöse Patienten sind oft überrascht, wenn man sie darüber aufklärt, dass übermäßiges Essen „selbstverletzendes Verhalten“ darstellt. Es besteht Leidensdruck.
Ich sehe ethische Probleme in der Haltung u. a. durch Professionelle gegenüber den Betroffenen u. a. in der Beratung zu Diäten ohne nachhaltige Effekte, Sport ohne Berücksichtigung der Einschränkungen und in unrealistischen Erwartungen bezüglich der Hoffnung in Adipositas-chirurgische (bariatrische) Operationen. Eine solche Haltung riskiert, den Betroffenen nicht zu helfen, sondern ihnen sogar zu schaden.
Am Beispiel der bariatrischen Operationen lässt sich dies illustrieren: Sie beinhalten u. a. Verringerung des Magenvolumens mit dem Ziel der Gewichtsreduktion. Die Indikation sind hohe Adipositas und ggf. Folgeerkrankungen. Die Genehmigungen durch die Krankenkassen sind Einzelfallentscheidungen. Bei der Behandlung müssen Risiko und Nutzen sorgfältig abgewogen werden: Eine bariatrische Therapie kann hohe Gewichtsreduktionseffekte erzielen, aber nach bariatrischer Operation zeigte sich in Metaanalysen eine fast dreifach erhöhte Suizidrate im Vergleich zu adipösen Kontrollpatienten ohne Operation (Castaneda et al. 2019). In den Diskussionen um diese Ergebnisse werden Suchtverlagerung (Essen wird z. B. mit Alkohol kompensiert), zu hohe Erwartungen an Operationsergebnisse und die fehlende Emotionsregulation genannt. Denn durch Operationen lernt man nicht zwangsläufig, bei Trauer eine Freundin anzurufen anstatt Schokolade zu essen.
Beispielhaft für einen Therapieverlauf ist die Biografie der Darstellerin von Bonnie, Darlene Cates. Mit einem Gewicht von 153 kg erhielt sie ein Magenband (obsoletes, komplikationsreiches Verfahren zur Gewichtsreduktion) und nahm 37 kg ab. Fünf Jahre später wurde sie immobil und wog mehr als 200 kg.Footnote 1
Wäre Bonnie eine reale Patientin, sollte transparent über Risiken aufgeklärt und es sollten auch Alternativen erwogen werden, bspw. Psychotherapie vor bariatrischer Operation und Familienhilfe.
Zudem sollte sie langfristig standardisiert nachbetreut werden, insbesondere auf der psychischen Ebene. Diese Struktur fehlt derzeit im Gesundheitssystem. Das stellt für mich ein ethisches Problem dar.
Notes
https://de.wikipedia.org/wiki/Darlene_Cates, zugegriffen: 08. April 2020.
Literatur
Castaneda D et al (2019) Risk of suicide and self-harm is increased after bariatric surgery—a systematic review and meta-analysis. Obes Surg 29:322–333
Sikorski C et al (2011) The stigma of obesity in the general public and its implications for public health—a systematic review. BMC Public Health 11:661. https://doi.org/10.1186/1471-2458-11-661
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Janowitz, D. Kommentar II zum Fall: „‚Die kommen alle her und gaffen.‘ Hohes Körpergewicht als medizinische, ethische und gesellschaftliche Herausforderung“. Ethik Med 32, 209–211 (2020). https://doi.org/10.1007/s00481-020-00578-y
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