Zusammenfassung
In Deutschland stellen sich in Bezug auf die pflegerische Versorgung grundlegende Gerechtigkeitsprobleme. Sechs sozialethische Probleme werden behandelt, deren Lösung Priorität hat, wenn es um gerechtere Rahmenbedingungen für die berufliche Pflege geht: Da jeder Pflegekräftemangel insofern menschenrechtsrelevant ist als berechtigte Hilfsansprüche Pflegebedürftiger nicht erfüllt werden können, muss erstens die Überwindung des Personalmangels oberste Priorität erhalten. Zweitens verteilen Pflegegutachter(innen) ein großes Finanzvolumen aus der Pflegeversicherung mittels Pflegegradbeurteilungen. Aus Gründen der Bedürfnisgerechtigkeit wird vorgeschlagen, dass Pflegende sich bei dieser sozialstaatlichen Aufgabe stärker am Selbstverständnis der Sozialarbeit orientieren und die Weiterbildungen in einen Studiengang überführt werden. Angesichts weitreichender Auswirkungen von Zeitdruck auf pflegerische Interaktionen und das Berufsbild ist drittens ein Teil der Zeitverdichtung zurückzunehmen. Viertens wird dargelegt, welche Belastungen mit einem hohen Krankenstand und Personalmangel einhergehen und wie Risikofaktoren entgegenzuwirken ist. Fünftens müssen den speziellen Belastungen des Pflegeberufs Ressourcen zur Seite gestellt werden, und sechstens könnten Strukturen der Ethikberatung moralischen Stress verringern.
Abstract
Problems and conclusions
In Germany, fundamental problems of justice arise in relation to nursing care. Six socio-ethical problems are dealt with, the solution of which has priority when it comes to fairer framework conditions for nursing care: Since every shortage of nursing staff is relevant to human rights in so far as it is not possible to meet the justified entitlements of those in need of nursing care, overcoming the shortage of personnel must have top priority. Secondly, nursing care supervisors distribute a large financial volume from nursing care insurance by means of nursing care grade assessments. For reasons of need justice, it is proposed that nurses orient themselves more closely to the self-image of social work in this task of the welfare state and that further training should be transferred to a course of study. Thirdly, in view of the profound effects of time pressure on nursing interactions and on professional understanding, part of the time compression must be reduced. Fourthly, it is explained which burdens are associated with a high level of sickness and staff shortages and how these risk factors could be countered. Fifthly, resources must be made available to support the special burdens of the nursing profession, and sixthly, structures for ethical counselling should be strengthened to deal with ethical problems and reduce moral stress.
Notes
Trotz unterschiedlicher Bildungswege, Ausbildungsgänge, Berufsbezeichnungen und Fachbereiche, Gesundheitsversorgungsstrukturen (ambulant, stationär) und Tätigkeitsfelder u. a. m. ist im Folgenden übergreifend von professionell Pflegenden im Sinne der Rahmen-Berufsordnung des Deutschen Pflegerats von (2004) die Rede, da Ausdifferenzierungen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würden.
Siehe hierzu den Beitrag von Helen Kohlen in diesem Themenheft.
Siehe hierzu die Beiträge von Constanze Giese sowie von Sonja Lehmeyer und Annette Riedel in diesem Themenheft.
Vgl. zur anthropologischen und moralischen Kategorie der Verletzlichkeit Haker (2015). Siehe zur Care-Ethik den Beitrag von Helen Kohlen in diesem Themenheft.
Siehe hierzu auch die Beiträge von Hartmut Remmers und von Helen Kohlen in diesem Themenheft.
Vgl. für psychologische Grundlagenliteratur zum Burn-Out Demerouti et al. (2000, S. 463 f.)
Für Recherchen und wertvolle Hinweise zur Arbeitspsychologie danke ich Nicolai Kleineidam.
Vgl. für eine Übersicht über Studienergebnisse Höhmann et al. (2016, S. 73–82).
Siehe hierzu den Beitrag von Lehmeyer und Riedel in diesem Themenheft.
Siehe hierzu den Beitrag von Kohlen in diesem Themenheft.
Siehe hierzu den Beitrag von Monteverde in diesem Themenheft.
Vgl. außerdem für die rechtliche Relevanz Dannecker und Becker (2010).
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Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Bobbert, M. Berufliche Pflege und soziale Gerechtigkeit: sechs sozialethische Problemanzeigen. Ethik Med 31, 289–303 (2019). https://doi.org/10.1007/s00481-019-00551-4
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Schlüsselwörter
- Pflege
- Pflegegutachter(in)
- Sozialethik
- Gerechtigkeit
- Personalmangel
- Moralischer Stress
- Anerkennung
- Arbeitspsychologie
- Ethikberatung