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Organspende und Entscheidungspflicht. Eine skeptische Kritik

Organ donation and decision-making duty. A sceptical critique

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Eine Entscheidungspflicht fordert, dass jeder Bürger die Frage nach der Organspende mit Ja oder Nein beantworten muss. Der Aufsatz prüft, ob sich eine solche Verbindlichkeit ethisch rechtfertigen lässt. Betrachtet werden mehrere Begründungsversuche: die Berufung auf das Prinzip der Hilfeleistung, die Vereinbarkeit mit dem Selbstbestimmungsprinzip, ein Konsistenzargument sowie die Frage, ob die gegenwärtige Belastung der Angehörigen für eine solche Verpflichtung spricht. Zusätzlich wird eine im Organspendediskurs verbreitete Begriffskonfusion zwischen Wollen und Wünschen untersucht. Alle Argumente für eine Erklärungspflicht erweisen sich im Vergleich mit der bestehenden gesetzlichen Regelung als nicht überzeugend.

Abstract

Definition of the problem A decision-making duty demands that all citizens have to answer the question concerning organ donation with yes or no. Arguments The essay considers four aspects to create this ethical and legal obligation: assistance principle, principle of autonomy, a consistency argument, and the burden to next of kin. In addition, the paper explores the confusion of terminology between wanting and wishing, which is widespread in the organ donation discourse. Conclusion A decision-making duty is, compared with an extended consent solution, not a convincing alternative.

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Notes

  1. Der Text verwendet, den Verfechtern einer Entscheidungspflicht folgend, die Termini Erklärungs-, Äußerungs- und Entscheidungspflicht synonym (vgl. [12], S. 21; [13], S. 146; [14], S. 27).

  2. Entscheidung wird als „eine ethische Pflicht“ [11] aufgefasst. Sie soll das Organaufkommen steigern und so Menschen in Not helfen. Diesen Anspruch kann sie jedoch nur einlösen, wenn sie zugleich mit der Kraft rechtlicher Verbindlichkeit eine Entscheidung einfordern kann. Denn ohne einen solchen Zwang ließe sich das unterstellte Ja der schweigenden Mehrheit kaum in eine explizite Zustimmung verwandeln. Die Pflicht zur Entscheidung wäre daher Tugend- und Rechtspflicht in einem. Da diese Pflicht ein explizites Ja oder Nein einfordert, ist für sie Schweigen nicht nur ein stilles Nein, sondern zugleich Verstoß gegen geltendes Recht, der geahndet werden müsste. Wie dieses Verhältnis zwischen Moral und Recht genauer zu verstehen ist und ob bzw. welche Sanktionen angemessen wären, wird von den Vertretern einer Entscheidungspflicht nicht reflektiert. Ich werde daher im Folgenden lediglich prüfen, inwieweit sich eine solche Pflicht ethisch begründen lässt.

  3. Dass diese empirische Annahme begrifflich problematisch ist, wird im letzten Abschnitt genauer untersucht.

  4. Umstritten ist vor allem die Hirntodkonzeption: Für die einen formuliert sie den Tod des Menschen, für andere sind Hirntote schwerstgeschädigte Sterbende; wiederum andere sprechen von einem Zwischenreich, für das uns lebensweltlich die Worte fehlen. Je nach Position resultieren daraus andere Streitfragen, etwa ob und inwieweit Menschen nach diagnostiziertem Hirntod noch empfindungsfähig sind oder ob das Fortsetzen intensivmedizinischer Maßnahmen den Sterbeprozess verlängert, was etwa mit den Ideen der Hospizbewegung konfligiert. Auch die Hirntoddiagnostik produziert Ambivalenzen. Soziologisch gesehen provoziert ihr Prozedere bei den Ärzten sowohl institutionell als auch semiotisch „stetig einen stummen Zweifel an der Stimmigkeit und Schlüssigkeit des“ Hirntodkonzepts ([7], S. 340). Zudem birgt sie medizinische Risiken, etwa die Gefahr eines apallischen Syndroms. Für die Hinterbliebenen ist die Frage nach der Explantation eine starke Belastung, die später zu Zweifeln und Schuldgefühlen führen kann, aber ebenso auch als tröstlich erlebt wird: als Sinngebung des unfassbaren Todes. Für die Schwerstkranken ist die Transplantationsmedizin eine Chance auf ein „zweites Leben“. Aber auch diese medizinisch begründete Hoffnung hat eine Schattenseite, weil sie den Blick auf ein „neues“ Leben verengt und so ein bewusstes Sterben verhindern kann, das nur im Loslassen zu haben ist. Die Dankbarkeit der Empfänger mischt sich mit Schuldkonflikten, da sie vom Tod anderer profitieren, wenn auch diesen nicht verantworten; Zweifel plagen, ob man überhaupt der Gabe würdig sei, ob diese auch freiwillig erfolgte usw. Ambivalent sind auch institutionelle Faktoren, etwa die mangelnde staatliche Aufsicht, damit verbundene Ängste vor Organhandel und Bevorzugung finanziell potenter Patienten. Ebenso kann die in der öffentlichen Aufklärung nahezu fehlende Differenzierung zwischen Organ- und Gewebespende als Täuschung erscheinen und misstrauisch stimmen (vgl. [6], S. 209) etc.

  5. Die hier misslingende Handlungsautonomie schließt mithin eine höherstufige personale Autonomie nicht automatisch aus, sondern kann im Gegenteil diese entscheidend mit prägen bzw. ihr Ausdruck sein. Obgleich in diesem Fall alle Voraussetzungen für Handlungsautonomie erfüllt sind (mentale Kompetenz, Informiertheit, Freiheit von äußeren Zwängen), scheitert eine punktuelle Selbstbestimmung, woraus folgt, dass diese Voraussetzungen allein keine hinreichenden Bedingungen sind, um von Autonomie sprechen zu können.

  6. „Wenn keine Willensbekundung zur postmortalen Organspende vorliegt, müssen die Angehörigen entscheiden“ ([15], S. 433; Hervorh. K. H.).

  7. „Wenn Sie sich zu Lebzeiten nicht für oder gegen eine Organ- oder Gewebespende entscheiden, verpflichtet das Gesetz Ihre Angehörigen, so zu entscheiden, wie Sie es vermutlich gewollt hätten“ ([16], S. 164; Hervorh. K. H.).

  8. Vgl. zur Differenz von Wünschen und Wollen in der analytischen Handlungstheorie und modernen Psychologie sowie zur Unterscheidung verschiedener Arten von Wünschen: [3], S. 25–67.

  9. Implizit insofern, als bei der Bestimmung eines mutmaßlichen Willens auch Wunschvorstellungen einbezogen werden – neben Bedürfnissen, Interessen und Werthaltungen. Da es hier Konfliktmöglichkeiten gibt (wir haben durchaus Wünsche, die wir als ethisch fragwürdig beurteilen oder die unseren Bedürfnissen widerstreiten), können Wunschvorstellungen für sich genommen nicht darüber entscheiden, was mutmaßlich der Wille einer Person ist.

  10. Eine solche synonyme Gleichsetzung von Wollen und Wünschen findet sich in dem bereits angeführten Zitat von Nagel et al. ([13], S. 147), aber auch bei Schöne-Seifert, die die in Deutschland geltende Regelung so beschreibt: „Die Mehrzahl schweigt sich zu Lebzeiten aus, so dass nun ersatzweise die Angehörigen eine Spende verfügen könnten. Dabei sind sie gehalten, soweit möglich als Sprachrohr des Verstorbenen zu dienen, sich also an dessen mutmaßlichem Willen zu orientieren. Nur wenn kein Anhalt über die eigenen Wünsche des potentiellen Spenders besteht, kommt den Angehörigen ein subsidiäres Entscheidungsrecht nach eigenem Dafürhalten zu“ ([17], S. 143, Hervorh. K. H.). Auch Schöne-Seifert referiert eine offenbar übliche Praxis und nicht geltendes Recht, wenn sie den Angehörigen ein Entscheidungsrecht zuerkennt, das so weit geht, dass dabei nicht einmal konkrete Wünsche bekannt sein müssen, um eine Explantation zu legitimieren.

  11. So Marita Donauer, betroffene Angehörige, DSO-Aktivistin und Mitstreiterin für eine Entscheidungspflicht. Sie versteht die Frage nach der Organspende explizit als eine, „die man nur mit Ja oder Nein beantworten kann. Man kann nicht nicht antworten, sich also der Verantwortung entziehen, denn keine Antwort wäre auch eine Antwort – in diesem Falle Nein […] Sich nicht zu entscheiden geht also nicht“ ([2], S. 56).

  12. So konzediert auch Nagel (mit Bezug auf den Vorschlag des Nationalen Ethikrates, die Zustimmungsregelung via Entscheidungslösung in eine Widerspruchsregelung zu transformieren), es spiele „keine Rolle, ob hinter einem Erklärungsmodell eine erweiterte Zustimmungs- oder eine Widerspruchslösung steht. Ohnehin wird von einer solchen gesetzlichen Regelung kein wesentlicher Input für den Bereich der Organspende zu erwarten sein“ ([10], S. 10).

  13. Etwa Schuld und Reue: Die Übernahme einer Schuld impliziert die Einsicht, dass ich es getan, also auch gewollt habe. Reue besteht darin, dass ich mir zugleich wünsche, ich hätte es nicht gewollt – und dabei weiß, dass dieser Wunsch, so stark er auch sein mag, unerfüllbar (und daher gerade kein Wollen) ist: Denn das, was geschehen ist, kann ich nicht mehr ändern bzw. zurücknehmen (vgl. [3], S. 41).

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Interessenkonflikt

K. Haucke gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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Haucke, K. Organspende und Entscheidungspflicht. Eine skeptische Kritik. Ethik Med 27, 207–218 (2015). https://doi.org/10.1007/s00481-014-0306-8

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