Zusammenfassung
Empirische Daten belegen, dass die moderne Geburtsmedizin Schwangerschaft und Gebären vorrangig als krankhaft wahrnimmt, was zu einem Legitimationsdefizit führt: Eine primär invasive Geburtsmedizin verletzt das Prinzip der Nichtschädigung, verursacht vermeidbare Kosten und ist nicht ohne weiteres durch das Autonomieprinzip gedeckt. Von den unmittelbar Beteiligten ist diese Pathologisierung als eine solche jedoch kaum wahrgenommen worden. Daher stellt sich die Frage, wie es zur sozialen Akzeptanz einer derart drastischen Wahrnehmungsverschiebung kommen konnte. Da Begriffe unsere Wahrnehmung strukturieren, interessiert uns vor allem die konzeptionelle Dimension dieser geburtsmedizinischen Verkehrung des Normalen ins Krankhafte, die in einer Reflexion auf die zwei Quellen legitimen ärztlichen Handelns erkennbar wird. Sowohl der Krankheitsbegriff als auch das moderne Verständnis von Selbstbestimmung weisen eine interne Unschärfe auf, die pathologisierende Tendenzen begünstigt. Der moderne Krankheitsbegriff erschwert eine klare Abgrenzung zwischen krank und gesund. Und Autonomie ist ein mehrdeutiges Konzept, das in einer spezifischen Auslegung die Pathologisierung fördert. Da beide Konzepte ärztliches Handeln rechtfertigen, bleibt ihr delegitimierendes Potential in der Praxis unscheinbar. Erst reflexiv und polylogisch lässt sich dieser blinde Fleck beobachten, so dass eine Korrektur der Pathologisierung möglich wird.
Abstract
Definition of the problem Empirical data prove that obstetrical gynecology perceives pregnancy and birth predominantly as disease related, which leads to a legitimization deficit: primary invasive medical practice in obstetrics violates the principle of causing no harm, causes unnecessary costs, and is not completely covered by the principle of autonomy. Arguments However, this pathologization is generally not perceived as such by the immediately involved community. This raises the question how such a drastic shift in perception could arise. Because concepts structure our perception, we explore the conceptual aspects of this reversal of normal to pathological, which become apparent in a reflection on the two sources of legitimate medical intervention. Both the concept of disease/illness and the modern understanding of self-determination have an inherent lack of focus which fosters pathologization. The modern concept of disease/illness makes a clear distinction between ill and healthy more difficult. And autonomy is an ambiguous concept that in a specific interpretation favors pathologization. Conclusions Because both concepts legitimize medical intervention, their delegitimizing potential remains negligible. Only reflectively and polylogically can this blind spot be observed in order to correct the pathologization.
Notes
Im Jahr 2002 reichte das Spektrum der Sectiofrequenz von 13,5 % in den Niederlanden über 23,7 % in Deutschland bis zu 36 % in Italien ([35], S. 79).
Der fehlende Kausalnexus wird auch von führenden Geburtsmedizinern konstatiert: „Die mit der Steigerung der Sectiofrequenz gleichzeitige radikale Verbesserung der geburtshilflichen Ergebnisse […] dürfte eher ein begleitendes Phänomen und nicht Folge dieser Zunahme sein“ ([20], S. 850).
Nach Einschätzung der DGGG bietet hingegen allein die ärztliche stationäre Geburtshilfe „das wünschenswerte Höchstmaß an Sicherheit“, wodurch sich das geltende Recht der Frauen begründe, auch dann eine ärztliche Geburtshilfe zu wählen, „wenn nichts auf eine Risikogeburt hinweist“ [10]. Diese Leitlinie entspricht nach AWMF-Standard der Stufe 1, ist also nicht evidenzbasiert.
Allein ein Absenken der Sectiorate von 30 auf 15 % birgt ein Einsparpotential von 88 Mio. € p. a. in Deutschland ([21], S. 177).
Sieht man einmal von der öffentlich kaum präsenten Berufsgruppe der (freien) Hebammen und der Frauengesundheitsbewegung ab.
Eine Geburt ist zu allen Zeiten ein existenzielles Ereignis gewesen. Dennoch ist es ein Unterschied, ob solche Grenzsituationen allein schon durch ihre Häufigkeit eine kulturelle Normalität gewinnen oder ob sie einen sozial ekstatischen Charakter haben, was die sinnhafte Integration in eine Lebensgeschichte erschwert. In Zeiten sinkender Geburtenraten nimmt daher die Notwendigkeit der (vorrangig psychosozialen) Betreuungsarbeit durch Hebammen kulturell zu.
Dass im DRG-System etwa Kaiserschnitte weit stärker entlohnt wurden als physiologische Geburten, ist ebenso bekannt wie die nach wie vor signifikant höhere Sectiofrequenz bei privatversicherten Frauen [25, 26, 33, 35]. Es ist daher begrüßenswert, dass sich auch Ärzte gegen solche finanziellen Fehlanreize aussprechen ([20], S. 855), ebenso, dass dies in Deutschland 2010 erstmals korrigiert wurde: Durch Abwertung der DRG für die primäre Sectio ist eine spontane Geburt ökonomisch attraktiver geworden [21].
Gegen dieses vermeintlich dichotomische Verständnis von Gesundheit und Krankheit wendet sich das Konzept der Salutogenese, allerdings ohne zu sehen, dass wesentliche Gemeinsamkeiten bestehen. Die Vorstellung eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums ([1], S. 23) ist im modernen biomedizinischen Krankheitsbegriff ebenso enthalten wie die Auffassung, dass Krankheit „keineswegs ein unübliches Ereignis“ ([1], S. 22) ist, da „Heterostase, Altern und fortschreitende Entropie die Kerncharakteristika aller lebenden Organismen“ ([1], S. 29, vgl. S. 65, 124) sind. Antonovskys Ansatz bewegt sich daher im Rahmen des modernen Krankheitskonzepts, wiederholt dessen begriffliche Unschärfe und verstärkt diese noch. Durch die Ressourcenorientierung und das Interesse an Resilienzphänomenen ist die salutogenetische Sichtweise in der Geburtshilfe vor allem für Hebammen relevant geworden, da Hebammenarbeit auf dem Vertrauen in die Kraft der Frauen beruht und sie durch dieses Vertrauen zu stärken sucht. Zugleich aber ist die Tragfähigkeit dieses Konzepts für Hebammen beschränkt. Die für ihre Arbeit grundlegende Annahme, dass Schwangerschaft und Geburt in der Regel physiologisch sind, lässt sich mit dem Konstrukt eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums begrifflich kaum ohne weiteres begründen. Ebenso wenig ist diese Sichtweise per se geeignet, pathologisierende Tendenzen in der Geburtshilfe aufzudecken, da die Rede von einer Pathologisierung die begriffliche Möglichkeit einer Dichotomie zwischen Krankheit und Gesundheit voraussetzt. Dass empirisch Geburten mehr oder weniger physiologisch verlaufen können, ist unstrittig. Ein begrifflich verstandenes Kontinuum zwischen krank und gesund wirft hingegen ethische Legitimationsprobleme auf.
Diese Argumente sind wiederum empirischen Einwänden ausgesetzt. Vgl. insbesondere zur Frage des Alters ([35], S. 100, 150, 172, 174).
So heißt es in der Stellungnahme der DGGG zur Sectio: „Zu den relativ indizierten Schnittentbindungen zählen auch solche, zu denen sich der Arzt aus Gründen der Klinikorganisation und Personalbesetzung (Entbindung in der Kernarbeitszeit durch erfahrenes Personal, sofortige Bereitschaft der Sekundärabteilungen), aus Mangel an Erfahrung“ [11] entschließt.
Ob eine invasive Geburtsmedizin diese Versprechen einlösen kann, ist empirisch fragwürdig. Uns geht es hier um die argumentative Möglichkeit, inwieweit sich eine Pathologisierung rechtfertigen ließe, wenn die mit ihr verbundenen Nachteile und Schäden als Förderung von Autonomie begriffen werden können.
Dass eine physiologisch verlaufende Geburt eine Frau traumatisieren kann, wird niemand leugnen. Insofern Techniken wie die PDA dazu beitragen, die Integrität der Frauen zu schützen, ist ihr Einsatz ethisch legitim. Ebenso wenig behaupten wir, dass die Mehrzahl der Geburtsmediziner tatsächlich dieses Bild von physiologischen Geburten hat. Uns geht es lediglich um begriffliche Konsequenzen: Wenn man mit Rekurs auf den Wert der Selbstbestimmung eine pathologisierende Geburtsmedizin rechtfertigen will, dann kann das nur mit dem skizzierten Verständnis von Autonomie gelingen. Und wenn man ein solches Konzept von Selbstbestimmung verwendet, dann impliziert das eine derartige Haltung gegenüber spontanen Vaginalgeburten.
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Danksagung
Unsere wichtigste Referenz lässt sich in keinem Literaturverzeichnis aufführen. Daher widmen wir den Aufsatz einer „weisen Frau“: Daniela Zahl.
Interessenkonflikt
Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
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Haucke, K., Dippong, N. Legitimationsprobleme moderner Geburtsmedizin. Ethik Med 24, 43–55 (2012). https://doi.org/10.1007/s00481-011-0131-2
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