Zusammenfassung
Dass unsere Gesellschaften den Tod verdrängen, ist eine weit verbreitete Überzeugung. Sie lässt sich jedoch soziologisch weder belegen noch widerlegen: A) Die Moderne ist sich des Todes wohl bewusst. Zum einen kennt sie aufgrund ihrer funktionalen Differenzierung viele Todesbilder. Zum anderen ist sie stark individualisiert, so dass der Tod eine neue Bedeutung gewinnt. Er wird zum irreversiblen Verlust einer unersetzbaren und in sich wertvollen Person. B) Die Moderne wird aber auch als todesverdrängend erlebt, insofern viele ihrer Todesbilder diesen individuellen Tod ignorieren. Diese Ambivalenzen lassen sich in einer Betrachtung moderner Medizin genauer aufklären: A) Diese thematisiert den Tod durchaus, aber vorrangig erfahrungswissenschaftlich, so dass die Person und der ihr eigene Tod gerade ausgeklammert werden. Da die subjektive Dimension auch für Schmerzphänomene konstitutiv ist, grenzt eine solche Medizin diese ebenfalls aus. Sie gelten als tendenziell sinnlos und werden ignoriert oder aber beseitigt. B) Zugleich ist moderne Medizin stets schon mehr als reine Naturwissenschaft, da sie auch einer Logik individuellen Fallverstehens folgt. Beide Logiken sind spannungsvoll, können einander ergänzen, aber auch konfligieren. Während eine dominante Orientierung an den Naturwissenschaften weder den Schmerzen noch dem individuellen Tod gerecht wird, ermöglicht das individuelle Fallverstehen eine reflexive Kritik. Derzeit ist es vor allem die Palliativmedizin, die sich für eine neue Balance dieser Handlungslogiken einsetzt, wobei offen ist, ob sie einen verdrängenden Umgang mit dem Tod überwinden kann.
Abstract
Definition of the problem It is a very common conviction that modern societies are suppressing death. But this belief is hard to verify sociologically, and it also seems to be impossible to disprove it. (A) Modernity is certainly aware of death. Because of its functional differentiation, it works with various images of death. Its high standard of individualization, on the other hand, gives death a new meaning: death is looked upon as the irreversible loss of a unique person worth in his own right. (B) Because many of modernity’s images of death ignore individual death, it is also seen as suppressing death. Arguments A closer look at modern medicine helps to make sense of these ambiguities: (A) Because medicine addresses death primarily in an empirical way, it excludes the unique person and his own death. This is also true for pain, which is the reason why modern medicine tends to ignore both death and pain. (B) At the same time, modern medicine is more than just science since it is, of course, also interested in understanding the individual patient’s case. Conclusions These two tendencies can contradict, but they can also complement each other. Whereas the exclusive focus on natural sciences does not do justice to either the individual death or to pain, the focus on the individual case sheds light on the complexity of this phenomenon. It also allows the respective paradigm of modern medicine to be criticized. Especially palliative medicine tries to find a new balance between these two logics of medical action. It remains to be seen whether it will succeed.
Notes
So wie die klinisch-anatomische Sicht nicht den individuellen Tod wahrnehmen kann und daher die Nöte und Ängste der Sterbenden und ihrer Lieben abblendet, so liegen auch Schmerzen jenseits ihres Blickfeldes, so dass man analog zum Tod von einer schmerzverdrängenden Tendenz moderner Medizin sprechen kann. Die moderne Medizin konstituiert sich historisch „auf der Basis eines Dualismus, indem sie das Individuum methodisch ausklammerte, um ihr Wissen auf den in seiner Struktur zergliederten menschlichen Körper und seine pathologischen Verläufe zur Anwendung zu bringen. Der leidende Mensch als Person ist in diesem Paradigma von vornherein nicht enthalten“ ([17], S. 61). Weil Schmerzen immer an eine subjektive Dimension gebunden bleiben, lassen sie sich nicht instrumentieren und in ein Faktum verwandeln, sind sie für den klinisch-anatomischen Blick irrelevant. Sie vermehren das Wissen nicht; sie helfen nicht bei Diagnose und Therapie (vgl. [13], S. 62); sie erschweren die Kooperation zwischen Arzt und Patient. Weil der Schmerz für den klinisch-anatomischen Blick nutzlos ist, lässt er sich sowohl ignorieren als auch ausschalten. Gleichgültigkeit gegenüber Schmerzen (etwa bei Sterbenden, die nur unzureichend mit Analgetika versorgt werden (vgl. [20], S. 26; [26], S. 241)) wie auch eine möglichst umfassende Anästhesierung (etwa in der Geburtsmedizin, die physiologisch normale Prozesse extrem pathologisiert (vgl. [17], S. 191; [24]; [25])) sind aus dieser Perspektive zwei mögliche Optionen einer solchen Schmerzverdrängung. So ergeht es den Schmerzen wie dem individuellen Tod: Sie werden aus der Klinik verbannt als das, was aus der Sicht des verum-factum-Prinzips als irreal erscheinen muss.
Natürlich ist die Formel „je erfahrungswissenschaftlicher desto todesverdrängender“ eine zu starke Vereinfachung, da sie soziologische Faktoren wie Organisationsstrukturen und spezifische Berufsrollen außer Acht lässt. Denn der Pathologe, der Epidemiologe oder der im Laboratorium arbeitende Mediziner folgen dem verum-factum-Prinzip weit strikter als der Kliniker. Und doch sind es vor allem die klinischen Ärzte, auf die sich die Verdrängungsthese zumeist richtet, weil sie es nicht nur mit Zellen, Statistiken oder Leichnamen zu tun haben, sondern mit leibhaftigen Menschen, die in ihrer „Würde“ wahrgenommen werden wollen, was institutionell in großen Kliniken kaum möglich ist.
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Haucke, K. Zwischen Todesverdrängung und -integration. Ambivalenzen moderner Medizin. Ethik Med 22, 331–340 (2010). https://doi.org/10.1007/s00481-010-0083-y
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