Zusammenfassung
Der Aufsatz widmet sich dem Wohlfahrtseffekt öffentlicher Ausgaben unter besonderer Berücksichtigung der Bereiche Gesundheitswesen und Bildungswesen. Ausgangspunkt ist die Feststellung des bemerkenswert geringen Ertrags hoher Aufwendungen für öffentliche Gesundheit, der insbesondere im Vergleich von Ländern mit teils deutlich variierenden Gesundheitsbudgets auffällt. Da das Gesundheitswesen aufgrund der Opportunitätskostenproblematik mit anderen Bereichen sozialpolitischer Sicherheitsgewähr um knappe öffentliche Mittel konkurriert, ist darauf zu achten, dass deren Allokation bestmöglich optimiert wird. Im deutschen Fall mit seinem ungewöhnlich hohen Anteil öffentlicher Gesundheitsausgaben legt das eine Verschiebung der Prioritäten zugunsten des Bildungswesens nahe, wofür neben potentiellen Verbesserungen des Gesundheitsstatus der Bevölkerung und funktionalen, die gesellschaftliche Integration betreffenden Erwägungen auch solche der sozialen Gerechtigkeit sprechen. Ein Programm zur Reformierung des Gesundheitswesens, das diesen Leitlinien folgt, wird skizziert.
Abstract
Definition of the problem Public health care consumes a large and growing fraction of fiscal resources devoted to social security in socio-economically advanced countries without necessarily improving population health or social welfare in general. Arguments Using various performance indicators, the article assesses the efficacy of public health spending in light of its opportunity costs, i.e., the budget constraints it imposes on other fields of social policy, in a cross-country comparison. The study confirms the findings of earlier research, namely that public health care exceeding a basic level of provision for the entire population yields remarkably little benefit, and that countries spending more than others do not necessarily achieve better health outcomes. Indeed, countries allocating a greater share of public resources to education fare better in several dimensions of social welfare, including aggregate health. Conclusion Under conditions of fiscal austerity, a policy shift that places greater emphasis on public education should be seriously considered, if necessary, at the cost of public health.
Notes
Das ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil Japan den unter allen Industrieländern ungünstigsten Altersaufbau der Bevölkerung, d. h. den höchsten Anteil über 65-Jähriger aufweist ([40], S. 243), die bekanntlich überdurchschnittlich hohe Gesundheitskosten verursachen. Außerdem liegt Japans Urbanisierungsgrad (teils deutlich) unter dem von Ländern vergleichbarer Entwicklungsstufe ([40], S. 243), was die Pro-Kopf-Aufwendungen für die flächendeckende Bereitstellung einer hochwertigen medizinischen Infrastruktur erhöht.
Diese Aussage ist insofern abzuschwächen, als sie unter dem Vorbehalt der Vergleichbarkeit der angeführten Daten steht, die nicht in allen Fällen uneingeschränkt gegeben sein muss. An der Stoßrichtung des hier entwickelten Arguments ändert das aber nichts. Speziell mit Blick auf die ostasiatischen Gesundheitsdaten wird dieses auch durch die Befunde einer neueren Vergleichsstudie [17] gestützt.
Vgl. dazu auch die bei Huster [15] genannte Literatur. Nach einer neueren Studie [26] kann beispielsweise ausgeprägte Fettleibigkeit die durchschnittliche Lebenserwartung um bis zu zehn Jahre verkürzen – genauso stark wie lebenslanges Rauchen. Tritt beides zusammen auf, ist die Wirkung additiv, kommt es also zu einer weiteren Verkürzung der Lebenserwartung.
Dieser Befund wird auch durch Untersuchungen gestützt, die zeigen, dass arme Länder und Regionen durch Sicherstellung einer medizinischen Grundversorgung für die gesamte Population mit vergleichsweise geringem Mittelaufwand teils enorme Steigerungen der Lebenserwartung erzielen konnten [4]. Das gilt z. B. für China und Osteuropa vor dem Übergang zur Marktwirtschaft, für Costa Rica, Kuba und (mit Einschränkungen) Chile, für den indischen Bundesstaat Kerala und für große Teile Ostasiens. Die Performanz vieler osteuropäischer Länder übertraf diejenige Ostasiens in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich, fiel aber ab ca. 1980 in der Folge einer stärkeren Akzentuierung von Elementen kurativer Medizin allmählich zurück. Die meisten lateinamerikanischen Länder setzen bei starker Vernachlässigung basaler Gesundheitsdienste ähnliche Akzente – mit dem Ergebnis vergleichsweise schwacher Aggregatdaten aufgrund der systematischen Unterversorgung disprivilegierter Bevölkerungsteile [13].
Das hat auch negative Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit sozialer Sicherungssysteme. Denn je größer der Anteil prekär oder gar nicht ins Erwerbssystem inkludierter Bevölkerungsteile wird, umso stärker schrumpft (bei steigendem Bedarf an Solidarleistungen) die Basis der für Umverteilungszwecke abschöpfbaren Einkommen.
Laut Statistischem Bundesamt betrug das deutsche Bruttoinlandsprodukt 2008 2.489,40 Mrd. €.
Im vorliegenden Fall könnten das im Einklang mit dem im vorangehenden Abschnitt Gesagten z. B. positive Gesundheitserträge von (erhöhten) Bildungsaufwendungen sein.
Die wissenschaftliche Begleitforschung, die solche Diagnosen stellt bzw. ihnen zusätzliche Legitimation verschafft, schließt sich diesen Forderungen gerne an; oft wird sie gar zu deren eigentlichem Sprachrohr, weshalb sie sich aller (teilweise durchaus kritisch gemeinten) Offenlegung von Performanzdefiziten zum Trotz vielfach in einer Art „heimlichen“ Allianz mit den von ihr untersuchten Systemen befindet.
Einige Beispiele für negative Externalitäten sind die vom arbeitsrechtlichen Entlassungsschutz langjährig beschäftigter Arbeitnehmer ausgehende Erhöhung der Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt und dadurch induzierte Kosten für entgangene Einkommen ausgleichende staatliche Transferleistungen, für medizinische Behandlungen von Depressionssymptomen bei (Langzeit-)Arbeitslosen sowie für nicht gezahlte Beiträge zu sozialen Sicherungssystemen.
Zu diesem Argumentationskomplex ausführlicher Schmidt [31]. Wohlgemerkt: Relative Bedeutungsminderung heißt nicht Marginalisierung des öffentlichen Gesundheitswesens, sondern nur Korrektur der Anomalie einer im internationalen Vergleich ungewöhnlich starken allokativen Priorisierung des Gesundheitswesens gegenüber dem Bildungswesen. Da (aufwendig ausgestattete) öffentliche Gesundheitssysteme dazu tendieren, vor allem die Interessen mittlerer Einkommensgruppen zu bedienen [11], ist nicht damit zu rechnen, dass sozial Schwache von dadurch bedingten Leistungskürzungen überproportional stark betroffen wären. Sie könnten aber, zumal bei einer vorrangig auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Mittelverwendung, überproportional von verbesserten Bildungsinvestitionen profitieren, und genau das wäre im Sinne einer an Rawls’schen Maximen orientierten Sozialpolitik.
Dasselbe Urteil gilt für die am Leitbild eines statuserhaltenden Lebensstandards ausgerichtete Rentenpolitik, die hier allerdings außer Betracht gestellt bleibt.
Folgt man Elster [6], dann wird das Rechtfertigungsproblem paternalistischer Regulierung unter demokratischen politischen Bedingungen allerdings insofern entschärft, als sie dann als odysseusartige Selbstbindung des Wahlpublikums interpretiert werden kann: Weil wir uns im Wissen um unsere Willensschwäche selbst nicht trauen, beauftragen wir den Gesetzgeber, uns gleichsam an die kurze Leine zu legen und dafür zu sorgen, dass wir langfristigen Interessen zuwiderlaufenden situativen Impulsen nicht uneingeschränkt nachgeben können. Auch nach dieser Interpretation bleibt der Paternalismus freilich ein notwendiges Übel, mit dem man sich arrangieren kann, dem jedoch keinerlei intrinsische Wertigkeit zukommt.
Für Kinder und Jugendliche übernimmt der Staat die Kosten der Zusatzversicherung komplett, damit eventuelle Nachteile der sozialen Herkunft nicht auf ihre medizinische Versorgung durchschlagen.
Das entspricht der Logik „expliziter Rationierung“, wie sie erstmals in dem weltweit diskutierten Modell des amerikanischen Bundesstaats Oregon praktiziert wurde [38].
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Danksagung
Der Aufsatz entstand während meines Aufenthalts als Visiting Fellow am Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ der Universität Münster von August 2008 bis Juni 2009. Ich bedanke mich beim Cluster für vorzügliche Arbeitsbedingungen, insbesondere bei Thomas Gutmann für die äußerst generöse Unterstützung meiner Arbeit und für unzählige höchst anregende Gespräche, von denen ich sehr profitiert habe. Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem Anja Schlichting und Lucas Behrendt für wertvolle Zuarbeit, den Teilnehmern des Fachgesprächs „Ethische Fragen der Public Health-Politik“ am 19.–20. März 2009 an der Europäischen Akademie Bad Neuenahr-Ahrweiler für kritische Kommentare und nützliche Hinweise zur Vortragsfassung, sowie zwei anonymen Gutachtern.
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Schmidt, V.H. Priorisierung auf der Makroebene. Das Gesundheitswesen im Ensemble sozialpolitischer Leistungsbereiche. Ethik Med 22, 275–288 (2010). https://doi.org/10.1007/s00481-010-0075-y
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00481-010-0075-y
Schlüsselwörter
- Öffentliches Gesundheitswesen
- Öffentliche Bildung
- Sozialpolitik
- Opportunitätskosten
- Soziale Gerechtigkeit