Umfrageergebnisse und Fragestellung

„Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben.“ Dieser Aussage stimmen 38,1 % der Deutschen in einer Umfrage aus dem Jahr 2020 zu, zusätzlich 18 % stimmen ihr zum Teil zu. Der Satz „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“ findet bei 33,4 % der Befragten Zustimmung und bei 19,1 % zum Teil (Decker et al. 2020b, S. 201). Ich zitiere aus der Leipziger Autoritarismus-Studie, die von Oliver Decker und Elmar Brähler, unterstützt von der Heinrich-Böll- und der Otto-Brenner-Stiftung, seit 2002 zur Entwicklung politischer Einstellungen in der Bevölkerung durchgeführt wird. Die repräsentative Stichprobe umfasst 2503 Personen im Alter von 14 bis 91 Jahren (Decker et al. 2020a, S. 27 ff.). Die Zustimmung zu oben genannten Aussagen war seit 2002 rückläufig, stieg aber im Zuge der COVID-19-Pandemie wieder an (Decker et al. 2020b, S. 201).

Eine im Jahr 2020 von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragte Studie mit 1750 repräsentativ ausgewählten deutschen Staatsbürger*innen erbrachte ähnliche Ergebnisse. In Telefoninterviews meinten 45,2 % der Befragten, dass geheime Organisationen politische Entscheidungen beeinflussen würden, ebenfalls 45,2 % sehen Politiker als gelenkte Marionetten, und 46,9 % denken: „Die Medien und die Politik stecken unter einer Decke“ (Zick und Küpper 2021, S. 290 ff.).

Die von der Konrad-Adenauer-Stiftung initiierte repräsentative telefonische Befragung 2018 kommt unter anderem zu folgenden Ergebnissen: Es stimmen 38 % von 5585 Befragten der Aussage „Die da oben machen doch nur, was sie wollen“ zu, 30 % sind der Ansicht, dass die Medien nur das bringen, „was die Herrschenden vorgeben“, und 22 % befürworten die Aussage: „Die eigentliche Meinung des Volkes wird unterdrückt“ (Pokorny 2020, S. 55).

Offensichtlich drücken große Teile der Bevölkerung (ungefähr 30–40 %) ein starkes Misstrauen gegenüber den gewählten Repräsentanten des demokratischen Staats aus. In allen drei Studien bejahen zwar über 90 % der Bevölkerung ganz allgemein, dass sie die Demokratie für die beste Staatsform halten (Pickel et al. 2020, S. 98), wobei aber die Zufriedenheit mit der derzeit in Deutschland praktizierten Demokratie deutlich geringer ist. Nach den Ergebnissen der von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie sind 37 % mit der Demokratie „alles in allem so, wie sie in Deutschland besteht“ zufrieden und 45 % sind zum Teil zufrieden (Pokorny 2020, S. 7). Die Zahlen aus der Leipziger Autoritarismus-Studie lauten: Es sind 57,6 % „zufrieden mit der Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert“ (Decker et al. 2020a, S. 62). Zum einen also die gute Nachricht, dass nur wenige Menschen eine rechtsautoritäre Diktatur befürworten (das sind nur 3,2 %; Decker et al. 2020a, S. 52), über die Art, wie Demokratie praktiziert wird, gehen die Meinungen aber auseinander. Viele Menschen sind offenbar unzufrieden darüber, wie die demokratische Idee von deren Repräsentanten in der Politik praktisch umgesetzt wird. Letzteres betrifft vor allem die Bevölkerung im Osten Deutschlands: Das Institut für Demoskopie Allensbach berichtet, dass in einer Befragung 2019 die Demokratie, „die wir in der Bundesrepublik haben“, für 72 % der Westdeutschen die beste Staatsform ist; dies gilt aber nur für 31 % der Ostdeutschen (Institut für Demoskopie Allensbach 2019). Bei allen durchschnittlichen Angaben müssen in der Regel also mehr oder weniger starke Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen berücksichtigt werden.

Diese Befunde sind beunruhigend. Wenn den Repräsentanten des Wählerwillens so viel Misstrauen entgegenschlägt, ist auch die gemeinsame Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben erschwert. Probleme, die sich durch mangelndes Vertrauen bei Teilen der Bevölkerung ergeben, sind aktuell zum Beispiel bei der Bekämpfung der Pandemie zu beobachten. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts waren Anfang Februar 2022 21 % der 18- bis 59-Jährigen nicht geimpft. In dieser Gruppe kommen offenbar die Empfehlungen der Bundesregierung nicht an bzw. werden von Teilen sogar als Versuch gewertet, die Bevölkerung zu unterdrücken.

Woher kommt das weitverbreitete Misstrauen? Ist es durch die bestehenden Verhältnisse oder durch Erfahrungen mit den politisch Handelnden gerechtfertigt? Oder handelt es sich um bösartige Unterstellungen oder sogar um Verschwörungstheorien? Im Folgenden wird versucht, unterschiedliche Aspekte bei der Untersuchung dieser Fragen zu berücksichtigen.

Die Autoren der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 referieren die von ihnen erhobenen, oben genannten Zahlen unter der Überschrift: „Zustimmung bzw. Ablehnung zur Verschwörungsmentalität“ (Decker et al. 2020b, S. 201). Decker und Brähler rufen zum Kampf „gegen die Feinde der Demokratie auf“ (Decker und Brähler 2020, S. 12) und möchten durch das Aufzeigen der in der Gesellschaft verbreiteten Ressentiments sowie nationalistischen, rassistischen und demokratiefeindlichen Einstellungen auf die Gefahren für die Gesellschaft hinweisen. Sie sprechen in Anlehnung an die Forschungsprojekte, die unter anderem von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno während und nach dem 2. Weltkrieg zur autoritären Persönlichkeit durchgeführt wurden, von einem „autoritären Syndrom“ als individueller Seite einer gesellschaftlichen autoritären Dynamik (Decker et al. 2020b, S. 179): „Uns geht es nicht nur um das Verhalten der Menschen, sondern auch um die Verhältnisse, unter denen sie leben. Die Verhältnisse bringen die Bedürfnisse der Menschen hervor, die sich dann in ihrem Verhalten Geltung verschaffen sollen. Und es sind diese Verhältnisse, die eine autoritäre Dynamik in Gang setzen, die von Kindheit an über die gesamte Lebensspanne die Alltagserfahrungen bestimmt: Die Vergesellschaftung in der Schule, am Arbeitsplatz oder durch die Verwaltung ist autoritär, und erst sie bringt beim Individuum die Bereitschaft zu Vorurteil und Ressentiment hervor. Das autoritäre Syndrom ist Ausdruck der autoritären Dynamik.“ (Decker et al. 2020b, S. 180). Die Idee einer starken Wirtschaft nähme heutzutage die Position einer Autorität ein und ersetze den autoritären Familienvater früherer Zeiten. „… die Autorität der „Wirtschaft“ (kann) von den Gesellschaftsmitgliedern Unterwerfung verlangen. Durch gewaltvolle Anpassung produziert sie genauso wie die Unterwerfung unter personelle Autorität Aggressionen, die dann auf jene Menschen projiziert werden, die diese wirtschaftliche Größe scheinbar gefährden, schwach sind oder die Fantasie wachrufen, „anders“ zu sein oder nicht dazugehören“ (Decker et al. 2020b, S. 207).

Meiner Ansicht nach besteht bei diesem Denkansatz die Gefahr, dass sich eine Art „linke Verschwörungstheorie“ entwickelt, bei der eine mächtige „Wirtschaft“ Grund aller antidemokratischen Fehlentwicklungen ist. Die von den Autoren durchgeführte Studie ergibt eine Fülle von Daten, die auch andere Interpretationen und Schlussfolgerungen zulassen. Im Folgenden sollen Untersuchungsergebnisse unter dem Aspekt psychologischer Zusammenhänge und Erklärungsansätze betrachtet werden.

Zu diesem Zweck wird zunächst ein weiterer Befund referiert. Zwei Studien (Leipziger Autoritarismus-Studie und Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung) verwenden in ihren Untersuchungen eine Frage, die mit der politischen Einstellung auf den ersten Blick nichts zu tun hat, die sich aber als sehr bedeutsam erweist, wenn man die Beantwortung dieser Frage in einen Zusammenhang mit den geäußerten Meinungen zur Demokratie setzt. In beiden Studien wird um Zustimmung oder Ablehnung zu folgender Aussage gebeten: „Den meisten Menschen kann man vertrauen.“ Dieser Aussage stimmten 45 % (Pokorny 2020, S. 55) bzw. 54,1 % (Pickel et al. 2020, S. 101) der Befragten zu. Die Verneinung dieses Satzes geht überdurchschnittlich häufig mit oben zitierten ablehnenden Äußerungen zur Demokratie in Deutschland, außerdem mit Fremdenfeindlichkeit und nationalistischen Einstellungen einher (Pickel et al. 2020, S. 103, 105). Um es auf einen plakativen Punkt zu bringen: Nur 31 % derjenigen, die die AfD wählen, meinen, dass man Menschen im Allgemeinen vertrauen kann, während 58 % der Grünwähler*innen, die die Demokratie in ihrer derzeitigen Form in besonders hohem Maß befürworten, ihr generelles Vertrauen in andere Menschen bekunden (Pokorny 2020, S. 56). Bei Pickel et al. (2020, S. 112) ist der Unterschied noch deutlicher: interpersonales Vertrauen bei AfD-Wähler*innen: 35,9 % und bei Grünwähler*innen: 78,3 %.

Während man zunächst annehmen kann, dass ein politisches System, das von einem großen Teil der Bevölkerung negativ bewertet wird, erhebliche Mängel aufweisen muss, so muss natürlich auch erfasst werden, welchen Einschränkungen diejenigen unterliegen, die das System bewerten. Und da lässt sich offenbar feststellen, dass viele derjenigen, die kein Vertrauen in Politiker*innen haben, auch kein Vertrauen in andere Menschen haben, also ihre Umwelt insgesamt eher mit Misstrauen betrachten. Auch die gängige Erklärung, dass Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Haushaltseinkommen in besonderer Weise zur Ablehnung demokratischer Institutionen und Politiker*innen neigen, ist nach den zitierten Untersuchungen nur sehr beschränkt zutreffend.

Auswertungen der Leipziger Autoritarismus-Studie führen zu dem Ergebnis, dass mangelndes Sozialvertrauen, Gefühle persönlicher Benachteiligung und mangelnder Anerkennung sowie die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage insgesamt mit der Ablehnung der praktizierten Demokratie einhergehen, während Haushaltseinkommen und Bildung dafür nicht relevant sind (Pickel et al. 2020, S. 108–110). Die Autoren*innen fassen zusammen: „Der zentrale Faktor für die Legitimität der Demokratie ist aber das Vertrauen: Wer Verschwörungen vermutet und kein Vertrauen in Menschen hat, stellt die Staatsform auch eher infrage“ (Pickel et al. 2020, S. 108). Es sei nicht zwingend die objektive Lage, die über die Zufriedenheit der Bürger und Bürgerinnen entscheide, sondern es seien die Gefühle mangelnder sozialer Anerkennung und ein allgemeines Misstrauen (Pickel et al. 2020, S. 108).

Begriff des Vertrauens und entwicklungspsychologische Aspekte

Was bedeutet Vertrauen bzw. im engeren Sinn das interpersonelle – also zwischenmenschliche – Vertrauen? „Interpersonelles Vertrauen stellt eine generalisierte Erwartungshaltung bei Individuen oder Gruppen dar, sich auf Worte (mündlich oder schriftlich) verlassen zu können.“ (Wirtz 2021). Unter dem Stichwort „Vertrauen“ wird im „Dorsch Lexikon der Psychologie“ weiter ausgeführt, dass Vertrauen mit einer positiven Zukunftserwartung verbunden ist, einer Vorleistung durch den Vertrauensgeber, aus der auch negative Konsequenzen resultieren können. Im organisationspsychologischen Kontext werde Vertrauen sowohl als Voraussetzung, vor allem aber auch als Resultat gelingender Kooperation betrachtet. „Auf der Systemebene kann Vertrauen in die Krise geraten, wenn Erwartungen an die Institution im Hinblick auf Prozesse oder Produkte (Fairness, Qualität, Zuverlässigkeit etc.) enttäuscht werden.“ Es geht also um ein interaktionelles Geschehen zwischen einem „Vertrauensgeber“ und einem „Vertrauensempfänger“.

Was bedeutet es, wenn das interpersonelle Misstrauen bei den Vertrauensgeber*innen, das heißt der Bevölkerung, die ihre politischen Vertreter*innen wählen kann, so weit verbreitet ist, dass dadurch auch die Handlungsfähigkeit demokratischer Institutionen beeinträchtigt wird? Welche Möglichkeiten gibt es, der individuellen Disposition von etwa 30 % der Bevölkerung auf gesellschaftlicher Ebene zu begegnen?

Peter Fonagy, der als Psychoanalytiker für Erwachsene und Kinder, als Entwicklungspsychologe und Bindungsforscher an der Universität in London (UCL) umfangreiche Untersuchungen aufgearbeitet und selbst durchgeführt hat, gibt dem interpersonellen Vertrauen in den von ihm entwickelten Konzepten eine besondere Bedeutung: Der Säugling entwickelt in der Bindung zu den ersten Bezugspersonen sein soziales Verständnis. Im Rahmen der Bindung entfalten sich die kognitiven Fähigkeiten, die uns das Leben und das Arbeiten mit anderen ermöglichen. Die stetige kontingente Reaktion der Bezugsperson „ermöglicht die Herstellung einer spezifischen, unersetzlichen Bindung und weckt gleichzeitig die vertrauensvolle Überzeugung, dass dieser Mensch als Informationsquelle zuverlässig ist. … Die Bindung ist eine spezifische Voraussetzung für die Entstehung epistemischen Vertrauens – [das heißt] der Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Information, die wir erhalten, als relevant erachten …“ (Fonagy und Campbell 2017, S. 292). Diese Informationen prägen die Wahrnehmung unserer sozialen Umgebung und vermitteln kulturelles Wissen. Der Ausdruck „epistemisches Vertrauen“, der in „Vertrauen in Erkenntnis“ übersetzt werden könnte und der für Fonagys Überlegungen zentral ist, beschreibt „die Bereitschaft, neue Informationen von einer anderen Person als vertrauenswürdig, generalisierbar und relevant anzunehmen“ (Schröder-Pfeifer et al. 2018, Abstract). Man könnte dies als eine Differenzierung der oben genannten Definition des „interpersonellen Vertrauens“ betrachten. Die Herstellung des Kontakts zu einem Kleinkind und die kontingente einfühlsame Responsivität führen dazu, dass das Kind eine sichere Bindung entwickelt und sich darauf einstellt, wichtige und bedeutsame Informationen zu erhalten. Die Entstehung eines epistemischen Vertrauens ist also maßgeblich durch das Verhalten der Bezugspersonen bedingt. Fonagy und Campbell (2017, S. 293) beschreiben, wie Bezugspersonen speziell durch bestimmtes Verhalten im Kleinkind das Gefühl erzeugen, Aufmerksamkeit und Interesse zu wecken und verstanden zu werden: durch Blickkontakt, ostentative Zeichen (Gestik, Mimik, Tonfall) und „markiertes Spiegeln“.

Massive Beeinträchtigungen in der Entwicklung des epistemischen Vertrauens spielen in fast allen psychischen Störungen eine Rolle. Misshandlung, sexueller Missbrauch und Vernachlässigung sind im schlimmsten Fall die Gründe dafür, dass extremes Misstrauen oder völlige Abstumpfung die Entwicklung der Persönlichkeit beeinträchtigen. Aber auch emotionale Kälte, Desinteresse, Entwertung seitens der Bezugspersonen, die vielleicht selbst erkrankt oder in anderer Weise – etwa durch ökonomische Bedingungen – in der Ausübung der Fürsorge beeinträchtigt sind, können zu Störungen im allgemeinen Vertrauen und damit in den sozialen Beziehungen führen. Das gilt insbesondere dann, wenn zusätzlich genetisch ungünstige Bedingungen beim Kind bestehen. Informationen, die beeinträchtigte Beziehungspersonen geben, werden nicht als verlässlich hilfreich und bedeutsam wahrgenommen, weil sie oft widersprüchlich sind und der Kontext die Qualität der Information konterkariert. Auch ein/e Psychotherapeut/in wird von betroffenen Personen erst einmal nur mit Misstrauen betrachtet; vermittelte potenziell hilfreiche Inhalte können deshalb nicht aufgenommen werden. Solche Patient*innen neigen zu der Annahme, dass der/die Therapeut/in es nicht ehrlich meint, ihre/seine wirklichen Absichten verbirgt und den wahren Sachverhalt mit Interventionen vertuschen will.

So wie ein Kind nur Vertrauen entwickeln kann, wenn die Bezugsperson sich vertrauenswürdig verhält, so kann Psychotherapie psychisch erkrankten Menschen nur dann helfen, wenn es dem Therapeuten, der Therapeutin gelingt, eine Beziehung aufzubauen, die das epistemische Vertrauen wiedererweckt bzw. stärkt. (Im folgenden Absatz wird zur besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet.) Fonagy und Allison führen aus, dass sich der Patient in einer erfolgreichen Psychotherapie durch die Informationen, die der Therapeut zu seinen Problemen gibt, verstanden fühlt und diese Informationen für relevant hält. Das setzt voraus, dass der Therapeut das Narrativ des Patienten versteht, dem Patienten zeigt, dass er seine Perspektive einnehmen kann, sein Problem anerkennt und dass er die Bedürfnisse des Patienten anspricht. Der Patient entwickelt dadurch Vertrauen, öffnet sich für neue Informationen und beginnt mit deren Hilfe die Fähigkeit zu entwickeln, das Verhalten anderer und der eigenen Person in ihrer und seiner inneren Verfasstheit wahrzunehmen, das heißt in Fonagys Terminologie: Er beginnt zu mentalisieren. Mit diesen neuen Fähigkeiten kann er die Erfahrung und Reflexion mit dem Therapeuten auf seine soziale Umgebung übertragen, die Hypervigilanz, also das übermäßige Misstrauen, lässt nach, was wiederum gute Erfahrungen, die sich insgesamt positiv auswirken, ermöglicht. „… the experience of feeling thought about in therapy makes us feel safe enough to think about ourselves in relation to our world, and to learn something new about that world and how we operate in it“ (Fonagy und Allison 2014, S. 14). Empirische Befunde zeigen, dass die Beziehung zwischen Therapeut und Patient und die Kompetenz des Therapeuten, eine vertrauensvolle Beziehung zu fördern, bedeutsamen Anteil an einem guten Therapieergebnis haben, unabhängig von der angewandten Therapiemethode (Wampold et al. 2018, S. 228, S. 269.) Eine effektive Therapie, in der Patienten „find themselves in the mind of the therapist“ (Fonagy und Allison 2014, S. 19) „causes the patient to give weight to communication from the social world“ (Fonagy und Allison 2014, S. 17).

Dasselbe lässt sich von Ärzt*innen und Lehrer*innen sagen: Die vermittelten Inhalte werden vor allem dann angenommen und können genutzt werden, wenn bei Patient*innen/Schüler*innen Vertrauen besteht, weil das Gegenüber Fachkompetenz auf die spezifische individuelle Situation anwendet (Fonagy 2018, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, S. 98 „learning through the eyes of students“).

Vertrauen in Politiker*innen

Diese Überlegungen sind für das von etwa 40 % der Befragten geäußerte Misstrauen in die Politiker*innen bedeutsam. Menschen nehmen eher die Informationen und Botschaften desjenigen auf, halten denjenigen für kompetent, von dem sie sich verstanden und in ihren Belangen angesprochen fühlen. Wahlergebnisse aus der letzten Zeit sind vielfach unter anderem als Resultat für einen Spitzenkandidaten bzw. eine Spitzenkandidatin, der/die besondere Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung genießt, interpretiert worden, so zum Beispiel das Ergebnis der Wahlen in Baden-Württemberg: Winfried Kretschmann gehört zu den beliebtesten Politikern. Auch die hohen Vertrauenswerte für Angela Merkel, die jahrelang die beliebteste Politikerin selbst nach 16 Jahren Regierungszeit war, haben bis zu ihrem Ausscheiden zum insgesamt stetigen Erfolg ihrer Partei beigetragen.

Die anfangs zitierten misstrauischen Äußerungen, die überzogen, verzerrt und pauschalierend erscheinen, haben einen realen Kern. Seit Jahren wird über den Lobbyismus gestritten und Transparenz gefordert, sodass die Bürger*innen besser erkennen könnten, wer Einfluss auf Politiker*innen nimmt. Dass Politiker*innen häufig die Wahrheit verschweigen bzw. nicht die ganze Wahrheit sagen, ist eine allgemeine Erfahrung. Vor den Wahlen gibt es nicht selten Versprechungen, die später nicht eingehalten werden können. Es werden Erwartungen geweckt, die nicht zu erfüllen sind. Auch dass Politiker oft zu sehr mit ihrem Geltungsdrang und ihren Wünschen nach Macht und Bedeutung als mit der ernsthaften Lösung von Problemen beschäftigt sind, ist kein Vorurteil. Erinnert sei nur an die Doktorarbeiten zahlreicher Politiker und Politikerinnen, die nach genauer Prüfung zurückgezogen werden mussten. Auch der Vorwurf, dass geistige, finanzielle, kulturelle Eliten, die meinungsbildend sind, hauptsächlich mit den Interessen und der Lage ihres eigenen Milieus beschäftigt sind und exklusive Netzwerke bilden, ist gerade im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung in den USA auch von seriösen Kommentatoren selbstkritisch erhoben worden. Misstrauen ist also durchaus in vielen Fällen angebracht.

Menschen, die generell misstrauisch sind, sind für das oben beschriebene Fehlverhalten allerdings besonders sensibel. Für das Misstrauen gibt es fast immer auch einen realen Anlass; der realistische Anteil ist mehr oder weniger hoch. Genauso wie Eltern, Lehrer*innen, Ärzt*innen und Therapeut*innen Fehler machen, unvollkommen oder nicht ausreichend oder wenig vertrauenswürdig sein können, so sind es auch die Politiker*innen. Misstrauen ist nicht generell falsch; es kann bestätigt oder entkräftet werden. Wählerinnen und Wähler geben einen Vertrauensvorschuss, der nur durch fachlich kompetentes und moralisch integres Verhalten angemessen bestätigt werden kann. Wir vertrauen nur denjenigen auf Dauer, die die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, Fehler korrigieren oder nachvollziehbare Begründungen geben, wenn Erwartungen enttäuscht werden. Auch die beste Werbestrategie, das optimale Selbstmarketing kann nicht verbergen, wenn diese Anforderung nicht erfüllt ist.

Eine aktuelle Online-Umfrage der Universität Bamberg unter 758 Politikern, Pressesprechern und Journalisten zeigt, dass die Hälfte dieser Personengruppe sich als Teil einer postfaktischen Demokratie sieht, das heißt, sie unterstellen Politiker*innen, dass „ihnen der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen eher unwichtig sei“ (Hoffjann und Seeber 2021, S. 496). Ein besonders großer Anteil in der Gruppe der Politiker*innen gibt an, dass sie nicht an faktische Politik glauben (55 %; Hoffjann und Seeber 2021, S. 469). Das „Ergänzen von ungeprüften Aussagen, die wahr sein könnten, um Aussagen zu unterstützen“, sei weit verbreitet (35,9 %), ebenso das „Erfinden von Aussagen, um die These eines Statements zu stützen“ (21,8 %; Hoffjann und Seeber 2021, S. 494). Nur etwa 5 % halten das für legitim, Übertreibungen aber immerhin schon rund ein Drittel. Auf der anderen Seite verurteilen 94 % der Befragten Lügen und halbwahre Aussagen (Hoffjann und Seeber 2021, S. 494). Wenn also viele Politiker*innen schon selbst denken, dass die meisten der Kolleg*innen (natürlich nicht sie selbst!) sich nicht genau an die Wahrheit halten, wie soll man dann von der Bevölkerung erwarten, dass sie den Politiker*innen glaubt?

Vertrauen in das Handeln von Politikerinnen und Politikern ist eben auch ein interpersonelles interaktives Geschehen: Moralisch fragwürdiges Verhalten und falsche Versprechungen geben den Wählerinnen und Wählern Anlass zu Zweifeln oder sogar zur Abwendung vom politischen Geschehen. Andererseits untergraben übermäßiges Misstrauen und übertriebene Erwartungen bei der Bevölkerung ernsthaftes Bemühen von Mandatsträger*innen.

Wird Misstrauen in der Bevölkerung ohne ausreichende Prüfung des Anlasses und der Hintergründe als unangemessen oder gar als Verschwörungstheorie interpretiert, setzt sich die Abkehr vieler Menschen vom politischen Geschehen fort. Im schlimmsten Fall wenden sich Menschen Populist*innen zu, von denen sie sich ernst genommen und nicht entwertet fühlen, die sich wie sie selbst marginalisiert erleben und deshalb Verständnis zeigen. Für diese Schmach bieten sie anscheinend einfache Lösungen an: Vereinfachung komplexer Sachverhalte, Identifizierung von Sündenböcken, Verharmlosung echter Probleme und Überschätzung des eigenen Standpunkts. Adorno (1970, S. 502) schreibt in Anlehnung an Freuds Ausführungen zur Massenpsychologie, dass die Ähnlichkeit zwischen Führer und Geführtem für den Erfolg der populistischen Propaganda entscheidend sei: „Der Führer kann die seelischen Bedürfnisse und Wünsche der für seine Propaganda Anfälligen erraten, weil er ihnen seelisch ähnlich ist, und was ihn von ihnen unterscheidet, ist nicht irgendeine echte Überlegenheit, sondern die Fähigkeit, das, was in ihnen latent ist, ohne ihre Hemmungen auszudrücken.“ Es setzen in dieser Situation die regressiven Vorgänge ein, die Freud (1921, S. 128) in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ beschrieben hat: Der Führer, der sich der gefühlten oder tatsächlichen Herabsetzung und Ohnmacht mutig entgegenstellt, entspricht dem Ich-Ideal der sich gedemütigt und entwertet sehenden Menschen. Sie setzen dieses Ich-Ideal anstelle ihres Ich. Das gemeinsame Ich-Ideal stellt die libidinöse Verbindung zwischen den Anhängern und Anhängerinnen her, sie identifizieren sich miteinander. „Noch heute (1921!) bedürfen Massenindividuen der Vorspiegelung, dass sie in gleicher und gerechter Weise vom Führer geliebt werden, …“ (Freud 1921, S. 138). In dieser schwärmerischen Begeisterung für den populistischen Politiker entsteht tiefe Verbundenheit, und das quälende Misstrauen kann endlich aufgegeben werden. Die Abwehr der Realitätsprüfung in diesem seligen Gefühl ist robust und kann oft nur durch massives offensichtliches Versagen und enttäuschte Erwartungen aufgehoben werden. Freud und Adorno beschreiben in einer anderen Theoriesprache als Fonagy die Sehnsucht der Menschen nach einer Spiegelung und den Wunsch, wahrgenommen und verstanden zu werden, wobei es Fonagys Verdienst sein könnte, diesem Motiv in seiner Relevanz einen höheren Stellenwert einzuräumen.

Exkurs

Freud (1925–1931, S. 499) definiert die Aufgabe des „Kulturprozesses“, also der Vergesellschaftung des Menschen, als „die Vereinigung vereinzelter Menschen zu einer unter sich libidinös verbundenen Gemeinschaft“. Das Glück und die Sicherheit des Einzelnen gehen unvermeidlich mit der „Einreihung in oder Anpassung an eine menschliche Gemeinschaft“ einher (Freud 1925–1931, S. 500), was immer nur unzureichend gelingt. „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“ (Freud 1925–1931, S. 506). Freud stellt eine Analogie zwischen „dem Kulturprozess der Menschheit und dem Entwicklungs- oder Erziehungsprozess des einzelnen Menschen“ fest, bzw. „dass die beiden sehr ähnlicher Natur sind“ (Freud 1925–1931, S. 499/500). Sowohl die Gesellschaft als auch die Erziehungspersonen vertreten Regeln und Werte, die sie dem Einzelnen nahebringen wollen, um das friedliche Zusammenleben zu ermöglichen. So wie das Kind seine spontanen Triebimpulse den Eingrenzungen der Eltern anpasst, um deren Liebe zu erhalten, so ordnet das Individuum seine individuellen Interessen den gesellschaftlichen Vorschriften unter, um an den Leistungen der Gemeinschaft teilzuhaben. Ob dieser Kulturprozess beim Einzelnen gelingt, hängt aber nicht nur von der konstitutionellen Stärke des von Freud als gegeben angenommenen Aggressionstriebes ab, sondern auch von den „Einflüssen des Milieus der realen Umgebung“ (Freud 1925–1931, S. 490), so wie bei der Entstehung der Neurosen die Ätiologie als Ergänzungsreihe von konstitutionellen, vergangenen und aktuellen Umweltbedingungen konzipiert wird. Sowohl die Eltern als auch die Kultur können den einzelnen mit seinen Erwartungen überfordern und so das Ziel der Integration der aggressiven Strebungen verfehlen, „denn die rachsüchtige Aggression des Kindes wird durch das Maß der strafenden Aggression, die es vom Vater erwartet, mitbestimmt werden“ (Freud 1925–1931, S. 489). „Es ist nicht schwer, sich zu überzeugen, dass die Strenge der Erziehung auch auf die Bildung des kindlichen Gewissens einen starken Einfluss übt“ (Freud 1925–1931, S. 490). In Analogie dazu kritisiert Freud das „strenge“ Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ als eines, das „sich nicht genug um die Tatsachen der seelischen Konstitution des Menschen“ kümmert, „es erlässt ein Gebot und fragt nicht, ob es dem Menschen möglich ist, es zu befolgen“ (Freud 1925–1931, S. 503). Es sei eine „Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs“ (Freud 1925–1931, S. 503), das wie ein zu strenges Über-Ich des Einzelnen zu negativen Reaktionen bei vielen führen und sein eigentliches Ziel verfehlen kann.

Dieser Exkurs sollte zeigen, wie ich mich an einem Vorgehen zu orientieren suche, das festgestellte Probleme bei der Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben durch die Verzahnung individueller Bedingungen mit gesellschaftlichen Dynamiken versteht.

Aufbau von Vertrauen

Im Hinblick auf die deutlich kritischeren Meinungen zur gelebten Demokratie in den östlichen Bundesländern soll zum Schluss noch an einem Bespiel gezeigt werden, wie der Umgang mit gesellschaftlichen Problemen in der Beziehung zwischen Politiker*innen und Bürger*innen verbessert werden könnte.

In der öffentlichen Diskussion sollte stärker berücksichtigt werden, wie die Menschen in den östlichen Bundesländern sowohl von der Naziherrschaft als auch von den Erfahrungen mit der SED-Diktatur geprägt sind. Die Bevölkerung wurde damals tatsächlich in erheblichem Ausmaß betrogen, sie blieb über die wirtschaftlichen Verhältnisse im Unklaren, die Wahlergebnisse waren gefälscht, und es ging den Politiker*innen schließlich nur noch um den Machterhalt der Partei. Vertrauen in eine neue Regierungsform und eine andere staatliche Verfasstheit ist aufgrund dieser historischen Erfahrungen, die psychologisch nachhaltig prägen, nur schwer zu entwickeln. Nach der Wende sind Versprechungen enttäuscht worden, auch wenn vieles verbessert wurde. Die Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs hat zu Belastungen geführt, die nicht immer nachvollziehbar waren oder als gerecht empfunden wurden. Es braucht eine lange Zeit, in der korrigierende gute Erfahrungen gemacht und neue Erkenntnisse gesammelt werden können – wie auch im Westen nach dem Ende der Nazidiktatur –, bis sich die Einstellungen wirklich ändern.

An einem Beispiel aus der öffentlichen Kommunikation möchte ich illustrieren, wie die bisherigen Überlegungen vielleicht Anwendung finden könnten.

Die Äußerungen von Marco Wanderwitz, dem früheren Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer und ein CDU-Politiker aus Sachsen-Anhalt, haben im letzten Jahr zu empörten Reaktionen Anlass gegeben. Er wurde vor den Landtagswahlen in einem FAZ Podcast (Steppat 2022) interviewt und kommentierte die Neigung von rund 20–30 % der Wähler*innen in Sachsen-Anhalt, eine rechtsextreme Partei zu wählen, mit folgenden Worten: „Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.“ Ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung habe „gefestigte nichtdemokratische Ansichten“ und sei durch gute Politik nicht zurückzugewinnen. Unter anderem diese Äußerungen haben den CDU-Politiker sein Direktmandat für den Deutschen Bundestag gekostet; dieses hatte er seit 2002 inne. Er verlor es an einen Kandidaten der AfD. Man kann Verständnis haben, für einen frustrierten Politiker, der seine Enttäuschung und seinen Ärger zum Ausdruck bringt. Er hat dies aber in einer Art und Weise getan, die man nur als Beleidigung und Herabsetzung der Wähler*innen ansehen kann, auch wenn er Sachverhalte und Zusammenhänge anspricht, die weiter oben ebenfalls benannt wurden. Diese Sachverhalte benutzt er aber, um eine Menschengruppe zu diffamieren, sie sogar für minderwertig zu erklären, sie zu einer Personengruppe zu machen, die aufgrund ihrer Eigenschaften aus der künftigen Kommunikation auszuschließen ist. Dass die Gemeinten sich in ihrer Wut auf Politiker*innen dadurch nur bestätigt sehen, dass dies ihre Ablehnung noch weiter steigert, ist naheliegend.

Die damalige Bundekanzlerin Angela Merkel versuchte, den Schaden zu beheben. „Meine Herangehensweise ist immer die, dass in einer Demokratie jede Bürgerin und jeder Bürger zählt.“ „Es ist natürlich beschwerlich, wenn Menschen sich von der Demokratie abwenden.“ „Aber ich werde mich nie damit abfinden, dass man das als gegeben hinnimmt, sondern immer weiter dafür arbeiten, auch wenn es manchmal lange dauert und langen Atem verlangt, jeden auch wieder für die Demokratie zu gewinnen“ (DER SPIEGEL 2021). Merkel möchte den ausgrenzenden Charakter der Aussage von Wanderwitz korrigieren. Sie bekräftigt ihre demokratische Überzeugung, in der jede Bürgerin und jeder Bürger zähle. Dann aber begibt sie sich meiner Interpretation nach in eine paternalistische bzw. maternalistische Rolle und spricht indirekt von den „armen Verirrten“, die man mit Geduld auf den rechten Weg bringen muss. Dass es berechtigte Kritik geben könnte, dass sich nicht jede Bürgerin und jeder Bürger ausreichend berücksichtigt sehen, dass das Verständnis der praktizierten Demokratie durchaus unterschiedlich sein kann, wird quasi nicht in Betracht gezogen. Dadurch entsteht durch Fürsorglichkeit eine hierarchische Situation. Sie hätte auch die eigene Grundüberzeugung deutlich und offensiv feststellen, dann aber ein Gesprächsangebot auf Augenhöhe machen können, das etwa folgendermaßen lauten könnte: Ich werde immer wieder versuchen zu erfahren, welche Gründe es für demokratiefeindliche Einstellungen gibt, um mich damit auseinanderzusetzen und nach Wegen zu suchen, wie wir zu einer Verständigung über die Art unseres Zusammenleben kommen können.

Tino Chrupalla, einer der Vorsitzenden der AfD, hat am Abend nach der Wahl in Sachsen-Anhalt (06.06.2021) in der ARD-Sendung „Anne Will“ gesagt: „Ich finde es eine absolute Demütigung, dass wir 31 Jahre nach der Wiedervereinigung noch einen Ostbeauftragten haben.“ Fürsorge kann das Gefühl der Herabsetzung erzeugen. In derselben Sendung wurden Umfragen zitiert, die zeigen, dass sich die meisten Ostdeutschen immer noch als Bürger zweiter Klasse ansehen.

Merkel hat sich erstmals am 03.10.2021 in Halle anlässlich des Jahrestags der Deutschen Einheit offen über ihre Erfahrungen als Ostdeutsche im Westen geäußert. Man habe ihr Leben in der DDR in einer Festschrift 2020 als „Ballast“ bezeichnet, in einem anderen Aufsatz sei sie als „angelernte Bundesdeutsche“ bezeichnet worden, „so als zähle dieses Leben vor der deutschen Einheit nicht wirklich“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2021, S. 4). Im selben Artikel werden Ostdeutsche zitiert, die es als Lob verstehen sollten, wenn sie hörten: „Merkt man gar nicht, dass du aus dem Osten kommst“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2021, S. 4). Merkel weiß also, wie es ist, aufgrund des Lebens in der DDR mitleidig betrachtet zu werden, und mancher wäre froh gewesen, sie hätte schon zu einem früheren Zeitpunkt davon gesprochen. Am Ende ihrer Rede sagte sie: „Wir dürfen verschieden sein“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2021, S. 4). Diese Wahrnehmung ist für alle Beteiligten die Voraussetzung für einen Dialog, der Vertrauen schaffen kann.