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Hungerwahn?

Eine Kritik an der medialen Dramatisierung von Essstörungen

Hunger mania?

Criticism of the dramatization of eating disorders by the media

  • Originalarbeit
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Forum der Psychoanalyse Aims and scope

Zusammenfassung

In den Medien häufen sich Berichte darüber, dass Essstörungen, insbesondere Anorexie, Bulimie und Fressattacken, in den letzten Jahren zugenommen haben. Der vorliegende Aufsatz zeigt hingegen, dass dies nicht der Fall ist. Ihre wirklichen Vorkommenshäufigkeiten (Realprävalenzen) sind vielmehr, wie epidemiologische Untersuchungen zeigen, seit Jahren beziehungsweise Jahrzehnten konstant. Davon zu unterscheiden sind gelegentlich festgestellte Zunahmen der Diagnosehäufigkeiten (Diagnoseprävalenzen). Diese sind jedoch kein Ausdruck wirklich zunehmender Häufigkeiten, sondern reflektieren eine höhere Sensibilität sowie eine Verbesserung im Versorgungssystem und in der Erkennung solcher Erkrankungen.

Die mit der Steigerungsthese einhergehende Ursachenbehauptung konzentriert sich oft auf mediale Einflüsse wie zum Beispiel die Sendung Germany’s Next Topmodel, die für die Vermittlung von unrealistischen Schlankheitsidealen und daraus resultierenden Essstörungen verantwortlich gemacht werden. Auch hier zeigt ein Durchgang durch die einschlägige Forschung, dass der Einfluss solcher Sendungen beziehungsweise der Medien insgesamt eher gering ist, sich auf Mädchen im adoleszenten Alter beschränkt und dort auf solche, die bereits Störungen im Körperbild aufweisen. Weder haben also Essstörungen zugenommen (Ausnahme: Adipositas), noch sind Medien deren wesentliche Verursacher.

Abstract

Reports in the media are becoming more frequent that eating disorders, in particular anorexia, bulemia and binge-eating, have increased in recent years. In contrast, the present approach shows that this is not the case. The true frequencies of occurrence (real prevalences) have in fact been relatively constant for many years, as shown by epidemiological studies. This must be differentiated from occasionally determined increases in the frequencies of diagnosis (diagnosis prevalences); however, this not an expression of actual increases in frequencies but reflects a higher sensitivity and improvement of the healthcare system and in the recognition of such diseases.

The allegation of causes associated with the intensification hypothesis often concentrates on the influence of the media, such as the program Germany’s Next Topmodel, which is made responsible for the mediation of an unrealistic pursuit of thinness and the resulting eating disorders. A passage via the relevant research again shows that the influence of such programs or the media in total is only minor, is limited to young girls in adolescence and then to those who already show disorders related to body image. Eating disorders have therefore neither increased (with the exception of obesity) nor are the media the main causal agent.

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Notes

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  3. Hinzuzufügen ist, dass in dieser als einzige Referenz herangezogenen Publikation die Zahl der Verdachtsfälle mit 22 % für alle möglichen Essstörungen in der Adoleszenz recht hoch ist. Aus den Untersuchungen von Swanson et al. (2011), Le Grange et al. (2012), den Angaben des BZgA (2015) und den Daten zur Adipositas kann man als Summe von echten Fällen, unterschwelligen beziehungsweise partiellen Störungen und Adipositas 11–12 % errechnen; davon sind gut die Hälfte adipös. Schätzdaten und Verdachtsfallzahlen liegen fast immer höher, nämlich zwischen 14 und 22 % (Swanson 2011, S. 714). Zur Fettleibigkeit siehe den nächsten Abschnitt.

  4. Kurth und Schaffrath-Rosario (2007, S. 737 f.) berichten in Bezug auf eine Referenzpopulation der Jahre 1985–1999 von erheblichen Steigerungen für Übergewicht und Adipositas bei 3‑ bis 17-Jährigen. Mittlerweile scheint der Trend jedoch gestoppt zu sein. Beides nahm, zumindest soweit sich das anhand von Daten der gesundheitlichen Schuleingangsuntersuchung feststellen lässt, bis 2004 zu und zwischen 2004 und 2008 geringfügig ab (Moss et al. 2012). Ansonsten lässt sich einer Pressemitteilung des Bundesfachverbandes Essstörungen (BfE 2015a) entnehmen, dass 78 % der 6‑ bis 19-jährigen deutschen Kinder und Jugendlichen normalgewichtig sind, 16 % übergewichtig, sodass für die Untergewichtigen 6 % verbleiben. Kurth und Schaffrath-Rosario (2007, 2010) geben für 2‑ bis 17-Jährige 15 % Übergewichtige an, davon 6 % Adipöse. Übergewicht und Adipositas werden anhand des Grades der Überschreitungen eines bestimmten Body-Mass-Index-Wertes voneinander unterschieden. Genau genommen zählt Adipositas in der ICD und im DSM nicht zu den psychisch bedingten (Ess‑)Störungen, sondern zu den Stoffwechselerkrankungen – eine in meinen Augen fragwürdige Zuordnung.

  5. Eine subtile Lanze für adoleszente Einflüsse bricht Habermas in seinem theoretisch und empirisch gleichermaßen vorzüglichen Buch über Heißhunger (1990, insbesondere S. 90, 95 f.). Dort werden neben frühen auch bestimmte späte Aspekte der Ich-Ideal-Bildung zur Erklärung dieser Einflüsse herangezogen. Ableitung der Störungen aus den üblichen Verdächtigen wie Schlankheits- beziehungsweise Schönheitsideal, Jugendwahn, Twiggy als Vorbild etc. (wie bei Kloepfer und Weiguny 2016) werden als theoretisch naiv und empirisch unterkomplex betrachtet (Habermas 1990, S. 85 ff.). Sowohl der Zusammenhang zwischen Kultur und Symptom als auch die Motive für Essstörungen sind, wie man auch dem Folgebuch über Anorexie entnehmen kann (Habermas 1994), erheblich vielschichtiger als die schlichte Ableitung von Essstörungen aus sozialen und/oder medialen Idealen suggeriert.

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Ich danke Martin Altmeyer für eine gründliche Diskussion des Textes und viele Verbesserungsvorschläge.

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Dornes, M. Hungerwahn?. Forum Psychoanal 34, 81–97 (2018). https://doi.org/10.1007/s00451-017-0284-9

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