Zusammenfassung
Interpersonelle Beziehungen werden immer auch mit nichtsprachlichen körperlichen Mitteln reguliert und gestaltet. Der Gebrauch dieser Mittel erfolgt überwiegend unbewusst (prozedurales Beziehungswissen). Für die Behandlung von Störungen, die sich vor allem interpersonell manifestieren wie schwere Persönlichkeitsstörungen oder strukturelle Störungen, ist es deshalb erforderlich, auch das prozedurale Beziehungswissen des Patienten zu erreichen. Prozedurales Beziehungswissen ist nicht in Sprache zu übersetzen und darum nicht „deutungsfähig“. Indem unbewusste Beziehungserfahrungen und deren Wiederholung in gegenwärtigen Beziehungen gedeutet und bewusst werden, ändert sich unbewusstes prozedurales Beziehungswissen deshalb noch nicht hinreichend. Dazu muss sich der Therapeut auf dichte Interaktion mit dem Patienten einlassen und ihm mit resonanten „Antworten“ die interpersonellen Wirkungen der Mittel vor Augen führen, mit denen er zwischenmenschliche Verhältnisse unbewusst reguliert und gestaltet.
Abstract
Regulating and producing interpersonal relationships requires nonverbal bodily means. These means are predominantly used unconsciously (procedural relational knowing). For the treatment of interpersonal disorders, such as severe personality disorders or structural deficits it is necessary to therapeutically reach this unconscious relational knowing of the patient. Procedural relational knowing cannot be “translated” into words and is therefore not able to be interpreted. Interpreting and thus making unconscious relational experiences and their repetition in present relationships conscious does not sufficiently change unconscious procedural relational knowing. With this aim the therapist must be prepared to be involved in interactions and to make clear to the patient with resonant “answers” the interpersonal effects of the means and methods with which the patient unconsciously regulates and produces relationships.
Notes
„Interaktion“ ist für die Psychoanalyse lange Zeit ein Fremdwort gewesen – und ist es in weiten Teilen bis heute geblieben.
„In der Psychoanalyse hat“ – so Nahum et al. (2002) – „die Untersuchung interaktiver Prozesse im Behandlungszimmer noch kaum begonnen.“
„Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der überzeugt sich, dass die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. Und darum ist die Aufgabe, das verborgenste Seelische bewusst zu machen, sehr wohl lösbar“ (Freud 1905, S. 240).
Schon Georg Christoph Lichtenberg (Über Physiognomik; wider die Physiognomen) hatte in Antwort auf Lavater diese „Raserei für Physiognomik“ scharfsinnig kritisiert (zit. nach Ohage 1992).
Die Begriffe „Handeln“ und „Verhalten“ werden hier identisch gebraucht. Das englische „to behave“ wird meist mit „Verhalten“ übersetzt, ist im Deutschen aber ein dreistelliges Verb: jemand (1) verhält sich (2) zu etwas oder einem anderen (einschließlich sich selbst, 3), während „to behave“ ein einstelliges, intransitives Verb ist, das man geläufig mit „sich benehmen“ übersetzen würde; der psychologische Begriff „behavior“ ist ein Kunstbegriff. Im Deutschen steht „Verhalten“ zu „Verhältnis“ in Beziehung; „sich zu jemandem verhalten“ oder „sich zueinander verhalten“, meint das Lebendige eines Verhältnisses, „ein Verhältnis eingehen“, sein Tun zu dem Tun anderer in Beziehung setzen (Streeck und Streeck 2002).
Ein anschauliches und witziges Beispiel für die Bedeutung, die der Kontext hat, um den Sinn der Wörter zu verstehen, führt Auer (1992) an: Ein Besucher, der zum ersten Mal in seinem Leben in eine psychiatrische Klinik kommt, um einen Angehörigen zu besuchen, ist davon überzeugt, dass er Zeuge „irrer“ Kommunikation ist, als er in einem Nachbarraum folgenden Dialog mitanhört:
– 1. Stimme: Ich habe übrigens einen Sohn.
– 2. Stimme: Das macht nichts.
– 1. Stimme: Ich habe auch einen Hund.
– 2. Stimme: Oh, das tut mir leid.
Die Sache klärte sich als höchst sinnvoller Dialog auf, als sich herausstellte, dass hier eine Krankenschwester mit einem Vermieter sprach, an dessen Wohnung sie interessiert war.
Konversationsanalytiker sprechen davon, dass Interaktion „turn by turn“ abgewickelt wird. Die Boston Change Process Study Group nennt diese aufeinanderfolgenden Handlungsschritte im Zusammenhang ihres Konzeptes des „impliziten Beziehungswissens“ nicht „turn“ sondern „relational move“.
Das gilt auch umgekehrt; auch Patienten behandeln eine Blickabwendung des Therapeuten oft in gleicher Weise wie einen Entzug von Aufmerksamkeit.
Bei G.H. Mead (1968 [1934]; S. 82 f.) heißt es: „… die Bedeutung einer Geste … ist gleich der Antwort eines Organismus auf die Geste eines anderen in einem gegebenen Akt sozialen Handelns.“
Das hat gute Gründe: Der Analysand kann sich unabgelenkter auf sich selbst konzentrieren und leichter für sein Erleben aufmerksam sein.
Bei Simmel heißt es: „… der Mensch ist für den Andern keineswegs schon ganz da, wenn dieser ihn ansieht, sondern erst, wenn er auch jenen ansieht“ (Simmel 1992, S. 725).
Die Erinnerungssysteme körperlich-interaktiver Erfahrungen scheinen getrennt von Erfahrungen aktiviert werden zu können, die an sprachliche Symbole gebunden sind (Leuschner und Hau 1995; Mahl 1977). Sie werden möglicherweise als motorische Erinnerungen („motor recognition“; Dowling 1982) und körpernahe Interaktionsengramme („action thought“; Busch 1995) gespeichert und als körperlich-interaktive Erfahrungen in nichtsprachlichen Interaktionskontexten leichter aktiviert als über sprachliche Symbole. Man könnte in diesem Zusammenhang von körperlicher Erinnerung oder einem Gedächtnis des Körpers sprechen. Werden sie aktiviert, scheinen sie wiederum in körperlich-gestisches Verhalten eher einzugehen als in sprachliches Ausdrucksverhalten. Wäre das so, könnte es sein, dass nicht das an Sprache gebundene Denken im Sinne eines Probehandelns das Handeln vorbereitet, sondern umgekehrt das nichtsprachliche Verhalten vorangeht und dem Denken gleichsam vorzeigt, was es zu denken hat. Denken und Sprechen würden so nur nachholend verarbeiten, was der Körper bereits getan hat und was in körperlich vermittelter Interaktion längst geschehen ist.
Dass Patient und Psychotherapeut sich gegenübersitzen, gewährleistet alleine noch nicht, dass das prozedurale Beziehungswissen des Patienten therapeutisch erreicht wird; auch in Behandlungen „face to face“ werden die Äußerungen des Patienten meist ausschließlich auf die psychische Binnenwelt des Patienten bezogen.
Zu den Voraussetzungen, derer es aufseiten des Therapeuten bedarf, um für den Patienten Interaktionspartner im Gegenüber zu sein: Rudolf und Rüger (2016).
In den Psychotherapie-Richtlinien zählt die psychoanalytisch-interaktionelle Methode zur Gruppe der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien.
Demgegenüber lautet der Kommentar zu den Psychotherapie-Richtlinien (2017) diesbezüglich: „Wissenschaftlich anerkannt und (auch in der Versorgung) empirisch gut untersucht sind die
– Psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM; Streeck und Leichsenring),
– Strukturbezogene Psychotherapie (Rudolf),
– Übertragungsfokussierte Therapie (TFP, Clarkins et al.),
– Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT, Bateman und Fonagy).
Die drei zuerst genannten Konzepte haben ganz eindeutig eine psychodynamische bzw. psychoanalytische Grundorientierung“.
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Streeck, U. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Forum Psychoanal 33, 235–250 (2017). https://doi.org/10.1007/s00451-017-0281-z
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