Zusammenfassung
Manche Elemente aus Bions Denktheorie sind inzwischen allgemein anerkannt. Begriffe wie „containing“ und „projektive Identifizierung zum Zweck der Kommunikation“ tauchen in fast jeder klinischen Diskussion auf. Weniger allgemein zur Kenntnis genommen wird seine Theorie über die Entwicklung des Denkens und dessen Störungen, denn Bion liest sich schwer. Er abstrahiert beobachtbare Phänomene zu mathematischen Zeichen in der Hoffnung, sie damit leichter kommunizierbar zu machen. Außerdem wählt er gelegentlich mehrdeutige Begriffe, um deren breites Assoziationsfeld zu erhalten. Damit setzt er den Leser mit voller Absicht den Ungewissheiten im Verstehen aus, die, wie er fordert, ein Analytiker in seiner Arbeit mit den Analysanden ertragen können muss.
Im Text werden die verschiedenen Modelle Bions für die Entstehung und den Gebrauch von Gedanken erklärt: psychosomatischer Verdauungstrakt, Alpha-Funktion, „container – contained“, Entstehung von Konzepten durch das Zusammentreffen von Präkonzeptionen mit Realisierungen.
Fallvignetten haben dabei ein besonderes Gewicht. Sie erfüllen eine doppelte Funktion. Einerseits führen sie in die Problemstellungen ein, die Bion in seiner Denktheorie entwickelt hat. Andererseits machen sie Bions Abstraktionen anschaulich und zeigen, wie ein Nachdenken mit Bion klinische Phänomene genauer erfassen helfen und das Verstehen von Patienten fördern kann. An einem Fall wird gezeigt, wie sich die Möglichkeiten zu denken und zu kommunizieren erweitern, wenn Emotionen einen Namen bekommen. Weitere Beispiele verdeutlichen, auf welche Weise Denkfunktionen gestört werden, wenn den emotionalen Erfahrungen in der äußeren oder psychischen Realität ausgewichen wird, weil sie als zu schmerzlich erlebt werden.
Abstract
Many aspects of Bion’s theory of thinking have come to be widely recognized. Concepts like “containment” and “communicative projective identification” turn up in almost every clinical discussion. Bion’s ideas regarding the development of thinking and disorders in thought have received less attention, for the simple reason that his writing on these topics is often hard to read. In the hope of making observable phenomena more communicable, he abstracts them into mathematical symbols. In addition, he occasionally chooses ambiguous or polysemic terms in order to retain the wide range of associations they offer. In this manner he deliberately confronts the reader with the kind of uncertainty which, he says, the analyst working with an analysand must be able to endure. This paper explains Bion’s various models for the development and the use of thought: psychosomatic digestive tract, alpha function, container-contained, and the genesis of concept through the meeting of preconception with realization.
Special weight is given to the case vignettes that alternate with theoretical passages, serving two purposes. On the one hand they show how Bion conceptualized specific problems as he built his theory of thinking. On the other hand they give intuitive access to Bion’s abstractions, and show how tracing Bion’s thought processes can help in the grasp of clinical phenomena and in the understanding of patients. One case serves to show how giving a name to emotions helps open the door to thought and communication. Additional examples clarify the manner in which thought functions become disturbed as a result of the avoidance of unbearably painful external or psychic reality.
Notes
Loch hat zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre fast jährlich in Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen veröffentlicht. In allen diesen Arbeiten zitiert er Bion, zum Teil ausführlich.
Die viel zitierte Formulierung, „dass ‚keine Milch’ zum ersten Gedanken wird“, stammt von Loch 1970, S. 253.
Vgl. Krejci: „Das Hungergefühl ist für den Säugling vermutlich so, als hätte er etwas Böses in sich. Falls er sich aber daran erinnern kann, dass sich bei früheren Gelegenheiten durch Nahrung und Liebe dieses ‚Böse‘ aufgelöst hat und er sein eigenes, unvollständiges Selbst wieder als heil und vollständig empfinden konnte, dann verknüpft er eine gute und eine schlechte Erfahrung zu einem Gedanken“ (2012, S. 195).
Zur Begriffsbildung vgl. Bott-Spillius 1990, S. 103–109.
„Das Denken muss entstehen, um die Gedanken zu bewältigen.“ (Bion 1990b, S. 226).
Vgl. bei Money-Kyrle die Anerkennung der „facts of life“, 1971, S. 442–449.
Später, in Aufmerksamkeit und Deutung 2006 spricht Bion in diesem Zusammenhang von „Geduld“ und „Sicherheit“, wie von Beland 2008, S. 186 f., herausgearbeitet.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
Gertrud Reerink gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder Tieren.
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Überarbeitete Fassung eines Vortrags vor dem Hamburger Institut der DPG, 2013.
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Reerink, G. Nachdenken mit Bion. Forum Psychoanal 30, 421–440 (2014). https://doi.org/10.1007/s00451-014-0182-3
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