Liebe Leserinnen und Leser,

Ihnen, insbesondere wenn Sie an dem internationalen Kongressgeschehen teilnehmen oder sich auch vielleicht nur für Ihre Facharztprüfung vorbereiten, wird möglicherweise aufgefallen sein, dass in diesem Jahr kein Update der „ESC/EACTS Guidelines on Myocardial Revascularization“ zustande gekommen ist. Üblicherweise war das für die Jahrestagung der European Society of Cardiology (ESC), die gerade Ende August in Barcelona stattfand, zu erwarten und dann auch während der Jahrestagung der European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) im Oktober 2022 in Mailand. Diese Erwartungshaltung begründet sich durch den regelmäßigen Turnus der letzten drei Publikationen dieser bidisziplinären Guidelines in den Jahren 2010 [1], 2014 [2] und 2018 [3]. Das Fehlen des Updates 2022 ist umso tragischer, da das Heart-Team in der EACTS/ESC Version 2010 erstmalig offiziell reüssierte.

Wenn man dann auch auf europäischer Ebene (ESC) einmal nachsieht, was diesbezüglich in den letzten Jahren herausgegeben wurde, so findet man dann allenfalls monosozietäre Guidelines der ESC in 2019: Chronic Coronary Syndromes [4], 2019: Diabetes and Prediabetes in Patients with Cardiovascular Disease [5], 2020: Acute Coronary Syndromes in Patients ST-Segment Elevation [6]. und 2021: on Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice [7] bzw. auch 2022: Non-Cardiac Surgery: Cardiovascular Assessment and Management [8].

Mit dem starken Interesse nach neuen Informationen geht der Blick dann schnell in die USA, und hier wird man dann fündig, in der 2021 ACC/AHA/SCAI Guideline for Coronary Artery Revascularization [9].

Dabei fallen dann direkt zwei gravierende Punkte auf:

  1. 1.

    Auch hier handelt es sich der Konzeption nach um eine monodisziplinäre Guideline ohne angemessene Beteiligung der Society of Thoracic Surgeons (STS) und American Association for Thoracic Surgery (AATS).

  2. 2.

    Mit Blick auf die Algorithmen und Tabellen besteht dann doch der definitive Eindruck, dass die „praktische Präzision“ früherer Guidelines irgendwie abhanden gegangen ist, und man vermisst klare Statements für den Entscheidungsprozess.

Etwas konkreter formuliert: An der Stelle, wo sich die Frage stellt: Wo der Frosch die Locken hat – Bypass-Chirurgie oder perkutane Intervention – bleibt es dann sehr schwammig.

Somit besteht das Dilemma auf der einen Seite veralteter ESC/EACTS Guidelines und auf der anderen Seite zwar neuerer, aber nicht so ganz praxisnaher und nicht ganz so anwendungsfreundlicher, amerikanischer Guidelines.

Aktuell wurde die 6. Version der „Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK“ veröffentlicht

Fast wie zufällig ist dann aber doch eine Lösung des Dilemmas greifbar, zumindest für den deutschsprachigen Markt. Ganz aktuell ist nämlich die 6. Version der „Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK“ [10] abschließend veröffentlicht worden.

Und hier findet der Herzmediziner dann wieder sehr konkrete Handlungsanweisungen/Empfehlungen, was man unbedingt tun sollte bzw. was eben ausdrücklich nicht angebracht ist, für den Individualfall anwendbar formuliert, speziell für die regelmäßige, ergebnisoffene Heart-Team-Konferenz.

Abgesehen davon würde ich diese Leitlinie als medizinisch besonders wertvoll einordnen, da sie

  1. 1.

    neutral durch das Ärztliche Zentrum für Qualität der Medizin (ÄZQ) moderiert wurde und

  2. 2.

    auf einer deutlich breiteren medizinischen Basis steht

bei Beteiligung von letztlich 16 nationalen Fachgesellschaften, die mit dem Thema KHK zu tun haben.

Im Resümee stellen sich dann zwei ganz grundsätzliche Fragen, nämlich wie es um das europäische Heart-Team steht, und ob denn mit Leitlinien Medizin („guidance“) oder Berufspolitik („governance“) betrieben werden soll.

Wer hier etwas tiefer einsteigen möchte, findet dann im Anhang die entsprechenden Referenzen und wird überrascht sein, wie viele „höherwertige“ (mehr Pfeile) Empfehlungen aktuell (immer noch) für die Bypass-Chirurgie in der NVL Chronische KHK bestehen.

Mit besten Grüßen

Ihr

Jochen Cremer