Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die im Untertitel gestellte Frage ist natürlich provokativ gemeint: Jeder Herzchirurg hat während einer Operation Stress, mal mehr, mal weniger. Aber zugeben mag es kaum jemand, denn es widerspricht dem Bild des souveränen, die Situation immer beherrschenden Herzchirurgen, der am OP-Tisch keine Schwäche zeigt. Dabei setzt sich die Wissenschaft mittlerweile auch mit diesem Thema auseinander und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen. Eine aktuelle Arbeit von Anton et al. mit dem Titel „What stress coping strategies are surgeons relying upon during surgery?“ [1] wird in der Rubrik „Im Brennpunkt“ von Herrn Dr. Noack, auch Leiter der Rubrik „Karriere und Perspektiven“ der Zeitschrift für Herz‑, Thorax- und Gefäßchirurgie, für Sie zusammengefasst. Durch die Befragung von 72 Probanden (Chirurgen aus unterschiedlichen Bereichen) wurde klar, dass verschiedene Stressoren die Leistungsfähigkeit des Operateurs reduzieren. Stressoren werden individuell unterschiedlich stark wahrgenommen; das persönliche Reaktionsmuster auf Stress kann durch Techniken zur Stressbewältigung beeinflusst werden. Besonders interessant: Operateur und Assistent nehmen Stressoren sehr unterschiedlich war. Es beobachteten 40 % aller Befragten, dass intraoperativer Stress in Komplikationen mündete, aber nur 15 % gaben zu, dass sie persönlich davon betroffen waren. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Eigenwahrnehmung verschoben sein kann.

Offensichtlich scheint auch die Art des Eingriffs einen Einfluss auf das Stressniveau zu haben: Mandegar et al. konnten nachweisen, dass der Stresslevel in der „Off-pump“-Chirurgie höher ist als in der „On-pump“-Koronarchirurgie, insbesondere bei der posterioren distalen Anastomose [2]. Es kann jetzt spekuliert werden, ob die fast stagnierende Akzeptanz der „Off-pump“-Chirurgie auch auf diesen Umstand zurückzuführen ist, frei nach dem Motto: Den Stress tue ich mir nicht an …

Das persönliche Reaktionsmuster auf Stress ist durch Techniken zur Stressbewältigung beeinflussbar

In einer anderen Untersuchung von Kuhn et al. konnte gezeigt werden, dass Stress mit zunehmender Erfahrung nicht weniger wird [3]. Beim Vergleich des Stresslevels zwischen „attendings“ und „residents“ in der Herzchirurgie waren bei beiden die intraoperative Herzfrequenz und die sympathovagale Balance erhöht, beim Attending insgesamt sogar auf ein höheres Niveau und besonders dann, wenn er dem Resident assistiert – während der Resident deutlich stressfreier operiert. Dabei wurde schlechte Assistenz als einer der wesentlichen Stressoren für den Operateur identifiziert. Überhaupt scheinen ältere Chirurgen mit Stress schlechter umzugehen: In einer Untersuchung von Shanafelt et al. mit 7905 Chirurgen des American College of Surgeons trug sich einer von 16 Kollegen in den letzten 12 Monaten mit Selbstmordgedanken (6,3 %; [4]). Burn-out und Depression waren hochsignifikant assoziiert. Obwohl die große Mehrheit der 45 Jahre alten und älteren Chirurgen stabile Lebensumstände mit wenigen potenziellen Risikofaktoren für einen Suizid aufwies, war der Anteil Betroffener, verglichen mit der US-amerikanischen Bevölkerung, um das 1,5- bis 3,0-Fache größer.

Eine Behandlung lehnten die meisten Betroffenen ab, um ihre Zulassung nicht zu gefährden. Das macht dann doch schon nachdenklich und verschiebt das scheinbar laxe Thema in einen ernsteren Bereich.

Was tun? In der von Dr. Noack vorgestellten Arbeit werden einige Lösungsvorschläge angeboten, so z. B. Neubewertung der Situation, intraoperative (Neu‑)Planung, kontrollierte Kommunikation und Techniken der Distanzierung. Es wird aber auch klar, dass jeder Chirurg Stressoren unterschiedlich stark empfindet, und dementsprechend Maßnahmen zur Reduzierung von Stress individuell gefunden werden müssen – der eine fängt an zu brüllen, der andere schweigt eisig; beides sicherlich nicht ideal; hier ist noch Raum für bessere Techniken.

Eine Maßnahme ist einfach und scheint, trotz aller Kritik, das Stresslevel zu reduzieren: Musik! Bosanquet et al. fassen in einem Editorial im British Medical Journal die Wirkung von Musik im OP zusammen [5]. Obwohl nicht von allen gern gehört – insbesondere Anästhesisten dominieren in der Gruppe der Ablehnenden, und wenn, dann wollen sie reflexive Musik wie Klassik und Jazz hören – scheint Musik während der Operation zur Entspannung beizutragen. Die meisten Operateure favorisieren dynamischen Pop. Patienten profitieren von einem Grundrhythmus, der der Herzfrequenz ähnelt, mehr als von Midazolam als präoperativem Anxiolytikum (sic!). Prinzipiell sei alles erlaubt, was Spaß macht (mit Ausnahme einiger textlich ungeeigneter Songs wie „Stairway to heaven“). Natürlich nicht zu laut, im Konsens ausgewählt und nicht in kritischen oder in Ausbildungsphasen. Und sollte sie doch stören, kann man die Musik auch abschalten …

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich wenig Stress im OP und besonders beim Lesen der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Herz‑, Thorax- und Gefäßchirurgie!

Mit herzlichen Grüßen,

Ihr

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Prof. Dr. Klaus Kallenbach