„Der Behandler hat nur eine Aufgabe, zu heilen, und wenn ihm das gelingt, ist es gleichgültig, auf welchem Wege es ihm gelingt.“

Hippokrates von Kós ca. 460 – um 375 v. Chr.

Dieser Ausspruch des Arztes Hippokrates dürfte mittlerweile in dieser Form keine Gültigkeit mehr haben. Ärztliches Handeln wird heute aus diversen Gründen kritisch gesehen. Dies gilt insbesondere für den „off-label use“.

Rechtliche Rahmenbedingungen

Fertigarzneimittel dürfen in Deutschland nur dann in den Verkehr gebracht werden, wenn das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn eine Zulassung erteilt hat oder eine Europäische Zulassung für das Inverkehrbringen vorliegt. Die Zulassung betrifft Indikation, Darreichungsform, Anwendungsart und Dosierung des Arzneimittels. Sollen eine Änderung oder Erweiterung der Indikation bzw. der Darreichungsform vorgenommen werden, sind weitere Erkenntnisse aus klinischen Prüfungen für eine erneute Nutzen-Risiko-Bewertung bei der zuständigen Zulassungsbehörde vorzulegen. Hier wird dann auf dieser Grundlage über eine Erweiterung der Zulassung entschieden. Gleichwohl kommt es in der täglichen Praxis immer wieder zu Situationen, in denen ein zugelassenes Arzneimittel in einem Anwendungsgebiet zum Einsatz kommen soll, auf das sich die Zulassung gerade nicht erstreckt.

Für diese Situation existieren keine gesetzlichen Grundlagen oder Definitionen. Der anwendende Arzt befindet sich gleichwohl nicht in einem rechtsfreien Raum. Er muss eine Reihe rechtlicher Rahmenbedingungen beachten und sich dementsprechend verhalten.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist der „off-label use“ als zulässig angesehen worden, wenn

  • es um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung geht,

  • keine andere Therapie verfügbar ist und

  • aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg kurativ oder palliativ erzielt werden kann.

Insbesondere nach der letzten Voraussetzung müssen Forschungsergebnisse vorliegen, welche die Erwartung begründen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn

  • entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist,

  • die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive ein klinisch relevanter Nutzen bei vertretbaren Risiken vorliegen oder

  • außerhalb des Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht wurden, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund dieser in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinn besteht [1].

Auch das Bundesverfassungsgericht hält den „off-label use“ für zulässig. Ein Patient wurde bei einer lebensbedrohlichen chronischen Lungenerkrankung mit Ilomedin behandelt. Dieses Medikament war für die vorgesehene Indikation nicht zugelassen. Deshalb verweigerte die Krankenkasse die Kostenübernahme. Der Patient versuchte auf dem Wege einer einstweiligen Anordnung eine Kostenübernahme zu erreichen, was jedoch von den Instanzgerichten abgelehnt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hob diese Entscheidungen auf [2]. In seiner Begründung wies es auf die Bedeutung des Art. 2 Abs. 2, Satz 1 Grundgesetz hin. Leben und körperliche Unversehrtheit haben danach einen hohen Rang. Hieraus folgerte das Gericht die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd für die Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit einzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer späteren Entscheidung zu einem vergleichbaren Fall diese Entscheidung bestätigt [3].

Beispielhafte Fälle des „off-label use“ in der Herzchirurgie

  • NO, Stickstoff-Monoxid. Der Klassiker schlechthin: Es liegt lediglich eine Zulassung zur Behandlung des frühkindlichen Lungenschadens und keine für die Behandlung des „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS) vor. Eine solche Zulassung ist nach den Ergebnissen der verschiedenen Studien des ARDS-NET auch niemals beantragt worden. Ebenso liegt keine Zulassung zur Senkung des pulmonal-vaskulären Widerstands bei rechtsventrikulärer Dysfunktion vor. Jede NO-Applikation mit dieser Indikation stellt einen Heilversuch dar.

  • Levosimendan. Levosimendan ist indiziert zur Kurzzeitbehandlung der akut dekompensierten, schweren chronischen Herzinsuffizienz („acutely decompensated severe chronic heart failure“, ADHF) in Situationen, in denen eine konventionelle Therapie nicht ausreichend ist und eine Therapie mit inotrop wirkenden Substanzen geeignet erscheint. Nach neueren Zulassungskriterien wird zwischen ischämischer oder dilatativer Kardiomyopathie keine Unterscheidung mehr vorgenommen. Levosimendan wurde im Jahr 2000 in Schweden als weltweit erstem Land zugelassen, 2001 folgte die Zulassung in anderen europäischen Ländern. In Deutschland ist über den Antrag derzeit noch nicht entschieden. Indikationen wie Rechtsherzversagen, postischämisches Stunning, Weaning vom kardiopulmonalen Bypass oder Herztransplantation stellen generell Heilversuche dar.

  • Iloprost. Die einzig belegte Indikation für dieses Medikament ist die fortgeschrittene Thromboangiitis obliterans (Buerger-Krankheit) mit schweren Durchblutungsstörungen in Fällen, bei denen eine Revaskularisierung nicht indiziert ist. Bei solchen Patienten wird Iloprost intravenös appliziert. Zur Senkung pulmonal-vaskulärer Widerstände liegt keine Zulassung vor, ebenso nicht für die inhalative Anwendung der Substanz. Auch hier handelt es sich definitiv um kritischen „off-label use“.

  • Aprotinin (Trasylol®). Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat am 5. November 2007 die Zulassung für das Aprotinin-haltige Medikament Trasylol® der Firma Bayer ausgesetzt. Trasylol® war bis zu diesem Tag in Deutschland als Infusionslösung zur Verminderung von starken Blutverlusten bei Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko bei herzchirurgischen Eingriffen zugelassen. Der Grund besteht in den vorläufigen Ergebnissen einer kanadischen klinischen Studie [4], da deren Zwischenanalyse zeigte, dass massive Blutungen in der mit Aprotinin behandelten Patientengruppe zwar seltener auftraten, die 30-Tage-Sterblichkeit jedoch erhöht war. Alternativ verwenden nun viele herzchirurgische Kliniken als Infusionslösung die Substanz Tranexamsäure (Cyklokapron®), die bislang keine Zulassung für diese Indikation hat.

  • Clopidogrel (Plavix®; Iscover®). Obwohl heute die kombinierte Gabe von Azetylsalizylsäure (ASS) und Clopidogrel den Standard in der Nachbehandlung bei koronarer Stentimplantation darstellt, hat Clopidogrel in der Tat keine Zulassung für diese Indikation. Aufgrund der erdrückenden Studienlage im Zusammenhang mit Thrombozytenaggregationshemmern muss heute die Kombination aus ASS und Clopidogrel zur Vermeidung einer (sub)akuten Stentthrombose verschrieben werden – auch wenn es nicht den formalen Vorschriften im Gesundheitswesen entspricht.

Haftungsrisiken

Im Zusammenhang mit „off-label use“ stellen sich für die Beteiligten nicht unerhebliche Haftungsfragen.

Verordnender Arzt

Angesichts der strengen Voraussetzungen könnte sich der Behandler auf den vordergründig nachvollziehbaren Standpunkt stellen, vom „off-label use“ erst gar keinen Gebrauch zu machen. Hiermit gehen jedoch zwingend Schwierigkeiten einher. Zum einen kommt der Arzt in Konflikt mit seinem ärztlichen Gewissen und der ärztlichen Berufsordnung; ein Arzt kann und darf einen Patienten, bei dem die begründete Aussicht auf eine erfolgreiche Therapie besteht, nicht unbehandelt lassen. So hat das Oberlandesgericht Köln in einer Entscheidung die haftungsrechtliche Inanspruchnahme eines Arztes bestätigt. Ein Patient litt an einer Herpes-Virus-Enzephalitis. Der später in Anspruch genommene Arzt entschied sich im Laufe der Behandlung für den Einsatz des für diese Indikation nicht zugelassenen Mittels Aciclovir. Nach Ansicht des OLG Köln erfolgte der Einsatz des Präparates jedoch verspätet [5]. Das Gericht entschied, beraten durch Sachverständige, dass nach dem damaligen Stand der medizinischen Wissenschaft es trotz der Nichtzulassung des Präparats geboten war, das Mittel frühzeitiger einzusetzen. Dabei wies das OLG ausdrücklich darauf hin, dass es nicht darauf ankomme, dass dieses Mittel im Sinne des AMG noch nicht als Medikament gegen die Herpes-Virus-Enzephalitis zugelassen war. Vielmehr hätte das Präparat eingesetzt werden müssen. Im konkreten Fall nahm das Gericht sogar einen groben Behandlungsfehler mit all seinen Konsequenzen an.

Die Rechtsprechung nimmt dann keinen ärztlichen Behandlungsfehler bei einem unterlassenen „off-label use“ an, wenn für einen prophylaktischen Einsatz des Medikaments keine aussagekräftigen, großen randomisierten Studien vorliegen [6]. Der Patient hat in einer solchen Situation keinen Anspruch auf einen „off-label use“.

Ein Behandlungsfehler im Rahmen des „off-label use“ kann ohne weiteres darin bestehen, dass eine Über- oder Unterdosierung des Mittels erfolgt. Tritt bei einer Abweichung der vorgesehenen Dosierung ein Schaden beim Patienten auf, muss von einem Behandlungsfehler ausgegangen werden. Der Patient trägt die Beweislast für die Kausalität zwischen dieser Abweichung und dem bei ihm eingetretenen Schaden.

Pharmazeutisches Unternehmen

Auch der pharmazeutische Unternehmer läuft Gefahr, bei einem „off-label use“ in Anspruch genommen werden zu können. Er unterliegt der Gefährdungshaftung nach § 84 AMG und muss sich bei einem „off-label use“ fragen lassen, ob es sich um einen bestimmungsgemäßen Gebrauch des Arzneimittels im Sinne von § 8 Abs. 1, Nr. 1 AMG handelt. Eine Gefährdungshaftung wird nicht erst durch seine Zustimmung zu den Feststellungen der Expertengruppen begründet. Sein fehlendes Einverständnis muss der pharmazeutische Unternehmer mit Hinweis auf eine Kontraindikation und entsprechendem Warnhinweis verdeutlichen.

Der zulassungsfremde Gebrauch eines Medikaments kann zu dessen Bedenklichkeit gem. § 5 Abs. 2 AMG führen, wenn die Nutzen-Risiko-Abwägung für die neue Indikation ganz oder teilweise negativ ausfällt und der Zulassungsinhaber die zulassungsfremde Anwendung tatsächlich duldet oder sich gar zu eigen macht. Deshalb kann ein zulassungsfremder Gebrauch analog zu einem teilweisen oder vollständigen Widerruf der Zulassung nach § 30 Abs. 1, Abs. 2 AMG führen. Dies wiederum hat zur Folge, dass ein zulassungsfremder Gebrauch zur Haftung des pharmazeutischen Unternehmers nach § 84 Abs. 1, Satz 2, Nr. 1 oder 2 AMG führen kann. Der pharmazeutische Unternehmer als Zulassungsinhaber hat den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Arzneimittels und dessen Zwecksetzung selbst zu bestimmen. In der arzneimittelrechtlichen Literatur wird ein von der zugelassenen Indikation abweichender ärztlicher Gebrauch, der aber dem medizinischen Standard entspricht, teilweise als bestimmungsgemäßer Gebrauch bezeichnet [7]. Wenn es einen solchen medizinischen Standard gibt, wird man von einer Duldung auszugehen haben, insofern der pharmazeutische Unternehmer dem standardgemäßen Gebrauch nicht widerspricht [8]. Der medizinische Standard einer zulassungsfremden Behandlung mit dem in der ersten Indikation zugelassenen Arzneimittel begründet daher regelmäßig die Vermutung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs.

Strafrechtliche Risiken

Der Arzt kann sich nicht nach § 96 AMG strafbar machen, da hiermit lediglich das unerlaubte Inverkehrbringen des Arzneimittels unter Strafe gestellt wird. Das bloße Applizieren eines für diesen Teilbereich noch nicht zugelassenen Medikaments wird nicht unter Strafe gestellt.

Die Entscheidung des OLG Köln [9] lässt den Schluss zu, dass in einem solchen Fall nicht nur eine zivilrechtliche Haftung angenommen werden kann, sondern auch von einer unterlassenen Hilfeleistung gesprochen werden muss. Zwar ist eine Krankheit kein Unfall im Sinne des § 323c StGB. Eine plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten ist tatbestandsmäßig jedoch als Unglück anzusehen. Deshalb muss hier die notwendige Hilfeleistung etwa in Form des „off-label use“ vorgenommen werden [10].

Für den Arzt besteht ein großes Risiko dann, wenn er den Patienten nicht präzise darüber aufklärt, dass ihm ein Arzneimittel verabreicht werden soll, welches in Dosierung oder Darreichungsform respektive auch Dauer der Verabreichung noch nicht zugelassen ist. Es bedarf der Aufklärung über Behandlungsalternativen, wenn sich diese durch die Verwendung verschiedener Arzneimittel unterschiedlich auswirken und es sich bei dem vom Arzt verwendeten Mittel um ein zulassungspflichtiges, aber nicht für die konkrete Therapie zugelassenes Arzneimittel handelt. Dem Arzneimittel fehlt auch, wenn seine Verwendung dem international anerkannten Standard genügt, ein Gütesiegel, das für die Entscheidung des einzelnen Patienten wesentlich sein dürfte. Daran ändert auch der Grundsatz, dass die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes ist, nichts.

Allerdings ist in einer strafrechtlichen Auseinandersetzung zu berücksichtigen, dass eine fehlende Aufklärung nur dann strafrechtlich relevant ist, wenn der Patient bei den allgemeinen Anforderungen genügender Aufklärung für Eingriff bzw. Behandlung nicht eingewilligt hätte. Dies muss dem Arzt nachgewiesen werden. Soweit Zweifel verbleiben, ist davon auszugehen, dass die Einwilligung auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung erteilt worden wäre [11].

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein „off-label use“ als ultima ratio gestattet [2, 3].

Versicherungsrechtliche Aspekte

Versicherungsrechtliche Probleme im Rahmen des „off-label use“ entstehen dadurch, dass der Haftpflichtversicherer nach § 81 Abs. 1 VVG nicht zur Leistung verpflichtet ist, wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich den Versicherungsfall herbeiführt. Vorsatz ist dabei das Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolgs. Es genügt hierbei bedingter Vorsatz [12, 13]. Der Arzt als Versicherungsnehmer muss daher den Erfolg als möglich voraussehen und für den Fall des Eintritts gebilligt haben. Dabei brauchen ihm nicht alle Einzelheiten bewusst gewesen zu sein [14]. Im Falle eines „off-label use“ geht der Arzt bewusst ein Risiko ein, indem er ein Medikament in einem Anwendungsgebiet einsetzt, das sich nicht auf dessen Zulassung erstreckt. Deshalb besteht hier die Gefahr einer persönlichen Haftung des Arztes, die nicht von einer Haftpflichtversicherung getragen wird. Man kann dem niedergelassenen Arzt im Rahmen des „off-label use“ nur anraten, sich mit seiner Haftpflichtversicherung über den Versicherungsmakler in Verbindung zu setzen, um die bestehenden Risiken abzuklären. Der Arzt im Krankenhaus muss die Situation der Verwaltung zur Kenntnis geben, die sich ihrerseits mit Versicherung oder Versicherungsmakler in Verbindung setzt.

Fazit für die Praxis

Im Bereich des „off-label use“ kommt der Aufklärung des Patienten besondere Bedeutung zu: Er muss auf den Versuchscharakter der Behandlung hingewiesen werden. Über die damit bestehenden Risiken ist der Patient zu informieren und aufzuklären. Er muss wissen, dass ein noch nicht für diese Behandlung zugelassenes Medikament zum Einsatz kommt und in die Behandlung einwilligen.

Eng damit verbunden ist eine entsprechende Dokumentation dieser Aufklärung. Abweichungen gegenüber der Behandlung nach dem Standard sind unbedingt zu dokumentieren.