Hintergrund und Fragestellung

Ende des Jahres 2020 lebten in Deutschland 83,1 Mio. Menschen. Davon waren 28,9 % über 60 Jahre alt. Seit der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017 ist die Anzahl der über 60-Jährigen in Deutschland um über 1 Mio. Menschen gewachsen und der Bevölkerungsanteil um einen Prozentpunkt gestiegen. Besonders die Subgruppe der über 80-Jährigen wächst rasch [9]. Das Statistische Bundesamt geht bis 2035 von einem erheblichen Zuwachs der älteren Bevölkerungsanteile aus und rechnet bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 damit, dass über ein Drittel der Bevölkerung das Rentenalter erreicht haben wird [8].

Für die Bundestagswahl 2021 waren alle volljährigen, also über 18-jährigen, Deutschen zur Wahl aufgerufen. Der Anteil der über 60-Jährigen an den Wahlberechtigten lag bei über 38 %, von welchen 77,4 % gewählt haben und damit 39 % aller abgegeben Stimmen ausmachen [4]. Sofern diese heterogene Gruppe unter dem Terminus „ältere Menschen“ zusammengefasst wird, ist sie durchaus eine der größten, wenn nicht sogar die größte Wählergruppe. Zu ihr gehören Menschen, die kurz vor oder im Ruhestand sind, in einem Senioren- oder Pflegeheim oder zu Hause alt werden. Auch im Gesundheitswesen macht diese Personengruppe einen großen Teil der vollstationären Patientinnen und Patienten aus und führt zu vielen Behandlungsanlässen im ambulanten Sektor.

Der ältere Teil der Bevölkerung kann also wahlentscheidend sein und wird künftig noch relevanter. Wie fördert also die neue Bundesregierung die Lebensbedingungen dieser Wählergruppe? Was plant sie hinsichtlich der medizinischen Versorgung der größten Patientengruppe?

Welche Ziele und Maßnahmen die neue Bundesregierung aus Sozialdemokratischer Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) und Freiheitlicher Demokratischer Partei (FDP) in ihrem am 07.12.2021 unterzeichneten Koalitionsvertrag [11] zu diesen Fragestellungen festgehalten hat, soll der nachfolgende Beitrag skizzieren. Dazu erfolgt eine Analyse des Vertrages hinsichtlich verschiedener Aspekte zum Leben älterer Menschen und deren gesundheitlicher Versorgung. Zusätzlich erfolgt eine Betrachtung, welche der Vorhaben im ersten Jahr nach der Vereidigung umgesetzt oder angestoßen wurden.

Methodik

Für die Analyse des Koalitionsvertrages wurde ein inhaltsanalytischer Ansatz gewählt und methodisch an die Arbeit einer der Autoren zum Koalitionsvertrag 2018 angelehnt [7]. Einer der Autoren analysierte den Koalitionsvertrag vollständig und kodierte alle Textstellen, die sich folgenden Feldern zuordnen ließen:

  • demografische Entwicklung,

  • medizinische Versorgung älterer Menschen, einschließlich ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung,

  • Altenpflege, einschließlich ambulanter Pflege und nichtprofessioneller Pflege älterer Menschen,

  • Lebensbedingungen älterer Menschen, beispielsweise zur Barrierefreiheit oder zu Wohnformen.

Ein weiterer Autor glich alle kodierten Textstellen mit dem Originaltext ab und prüfte stichprobenartig die Vollständigkeit der Kodierung. Anschließend erfolgte eine gemischt induktive-deduktive Einordung der Textstellen in ein Kategoriensystem, um die für die Geriatrie/Gerontologie relevanten Inhalte thematisch zu strukturieren. Die deduktive Einordnung erfolgte dabei anhand der Wahlprüfsteine Gesundheit zur Bundestagswahl 2021 der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) [12]. Die qualitative Inhaltsanalyse wurde mit Dedoose durchgeführt.

Zur Betrachtung des Umsetzungsfortschritts wurde der Zeitraum vom 08.12.2021, dem Tag der Vereidigung der neuen Bundesregierung, bis zum 07.05.2023 gewählt. Aus den kodierten Textstellen wurden jene mit einer konkreten Handlungsabsicht oder einem Zieldatum für eine Analyse des Umsetzungsfortschritts ausgewählt. Es erfolgte eine manuelle Recherche der Webseiten der Bundesregierung, der zuständigen Bundesministerien und des Gesetzgebungskalender Gesundheitspolitik des AOK-Bundesverbands. Bei Ergebnislosigkeit der ersten Recherche wurde eine Suchmaschinensuche gestartet, und die ersten 30 Ergebnisse wurden auf Hinweise ausgewertet.

Ergebnisse

Der Koalitionsvertrag umfasst 178 Seiten und knapp 52.000 Wörter. Im gesamten Text wurden nach oben beschriebenem Vorgehen insgesamt 23 Textstellen mit knapp 620 Wörtern, also gut 1 % des Textes, identifiziert und dann thematisch neu geordnet (Tab. 1). Unter den 3 alphabetisch sortierten Oberthemen ältere Bevölkerung, medizinische Versorgung und pflegerische Versorgung ließen sich alle Kodierungen einordnen. Dabei entfielen 9 Textstellen primär auf den Themenbereich ältere Bevölkerung, 6 auf medizinische Versorgung und 8 auf pflegerische Versorgung.

Tab. 1 Textstellen des Koalitionsvertrages mit geriatrischem Bezug

Aus den 23 Textstellen wurden 14 mit konkreten Handlungsvorhaben oder Zieldaten für eine Betrachtung des Umsetzungsfortschritts ausgewählt. Darunter befand sich ein Punkt mit einem konkreten Zieldatum bis Ende 2022.

In den ersten eineinhalb Jahren der Bundesregierung konnte von den für die Geriatrie/Gerontologie relevanten Punkten bei 4 davon ein teilweiser Fortschritt verzeichnet werden, eine Umsetzung erfolgte noch bei keinem der aufgeführten Vorhaben (Tab. 2). Eine im Koalitionsvertrag bis Ende 2022 vorgesehene Erarbeitung eines Aktionsplans für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen ist nicht erfolgt. Eine Evaluation des Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) konnte, aufgrund noch laufender Verhandlungen bis zum Ende des betrachteten Zeitraums, noch nicht erfolgen.

Tab. 2 Umsetzungsfortschritt einzelner Vorhaben mit geriatrischem Bezug

Diskussion

Insgesamt lässt sich im Koalitionsvertrag ein Bewusstsein für eine älter werdende Bevölkerung und damit verbundene politische Handlungsfelder erkennen. Zwar umfassen die identifizierten Textstellen nur etwa 1 % des Gesamttextes, die Auszüge sind aber von S. 4 bis S. 113 gestreut und deuten damit auf eine querschnittliche Betrachtung des Themenkomplexes hin.

Nicht alle Auszüge beziehen sich explizit auf geriatrische Aspekte. So kommt Barrierefreiheit v. a. behinderten Menschen, aber auch Personen mit Einschränkungen ohne Grad der Behinderung zugute. Jedoch profitieren gerade auf Hilfsmittel angewiesene Hochbetagte sowohl von einer Barrierefreiheit im öffentlichen Raum wie auch von einem barrierefreien Gesundheitswesen, welches sich positiv auf ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auswirken kann.

Der Koalitionsvertrag legt einen großen Fokus auf selbstbestimmtes Leben. Dafür sollen seniorengerechte Ansätze gefördert werden, hierbei wird auch explizit die Gesundheitsvorsorge genannt. Aber auch weitere Aspekte wie Alltagshilfen oder Überwindung von Einsamkeit sind in Bezug auf Morbidität relevant [6].

In Bezug auf die medizinische Versorgung werden altersabhängige Erkrankungen als einige von wenigen zentralen Zukunftsfeldern benannt und damit die Wichtigkeit der Geriatrie erkannt. Weitere medizinische Aspekte mit geriatrischem Bezug, die in einem nationalen Präventionsplan aufgegriffen werden sollen, sind die Alterszahngesundheit, die schon oben genannte Einsamkeit sowie klimabedingte Gesundheitsschäden. Ein anderer Auszug verspricht eine Klimaanpassungsstrategie u. a. zur Hitzevorsorge, die besonders für ältere Personen relevant ist [1]. Im Zuge der Herausforderungen der geriatrischen Rehabilitation wird sich zeigen, inwiefern das Ziel, das Reha-Budget bedarfsgerechter auszugestalten, auch Bezug auf die geriatrische Rehabilitation hat [3].

Interessant ist auch die Ankündigung, ein neues Helmholtz-Forschungszentrum für Alternsforschung aufzubauen. Dabei wird von der konkreten Ausgestaltung abhängen, welchen Anteil auch alltagsrelevante geriatrische Fragestellungen einnehmen, da erste Aussagen auf eher molekularbiologische Forschungsansätze schließen lassen [10].

Der Abschnitt zu Pflege im Koalitionsvertrag ist der erste und auch insgesamt zweitlängste. In der Überschrift des Kapitels heißt es explizit „Pflege und Gesundheit“, wo es im Koalitionsvertrag der Vorgängerregierung noch „Gesundheit und Pflege“ geheißen hatte [13]. Ein Teil der angekündigten Maßnahmen hat vor dem Hintergrund des Personalmangels in der Pflege zum Ziel, das Berufsfeld generell zu stärken und attraktiver zu machen. Die stationäre Langzeitpflege wird explizit thematisiert, und auch hier zielen Maßnahmen auf die Steigerung der Attraktivität des Berufes.

Besonders ausgeprägt werden Maßnahmen zur Unterstützung pflegender Angehöriger ausgeführt, der heute bereits größten Gruppe Pflegender [14]. Dabei werden sowohl unterstützende Strukturen wie die Tages- oder Kurzzeitpflege erwähnt, als auch Werkzeuge zur Unterstützung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf durch Pflegezeit und Verhinderungspflege.

Zur deduktiven Kategorienbildung wurden die Wahlprüfsteine Gesundheit der BAGSO als Referenz verwendet [12]. Die BAGSO stellte den Parteien dabei insgesamt 8 Fragen, u. a. zu ambulanter Rehabilitation, präventivem Hausbesuch, Versorgung von Menschen mit Demenz oder Community Health Nurses. Die erste Frage bezog sich auf geplante Maßnahmen zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation für Ältere, diese Punkte werden, zumindest themenbezogen, s. Alterszahngesundheit, im Koalitionsvertrag aufgegriffen.

Die ambulante Rehabilitation wie auch der präventive Hausbesuch findet im Koalitionsvertrag keine explizite Erwähnung. Präventive Ansätze zur Gesunderhaltung Älterer finden sich, von Ausnahmen abgesehen, im Koalitionsvertrag leider kaum.

Eine weitere Frage bezog sich auf die Versorgung von Menschen mit Demenz, dazu gibt es keine Anmerkungen im Koalitionsvertrag; das Wort Demenz taucht dort nicht auf.

Das erste Amtsjahr der Regierungskoalition war seit Februar 2022 stark durch die Außen- und Sicherheitspolitik sowie konsekutiv die Energiepreiskrise geprägt. Dadurch ergaben sich ungeplante Gesetze und Verordnungen, s. beispielsweise den erwähnten Hilfsfonds zur Unterstützung bei gestiegenen Energiekosten für verschiedene Gesundheitseinrichtungen. Dies hat sicherlich ministerielle Kapazitäten gebunden, welche sonst für andere Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag hätten eingesetzt werden können.

Aber auch zuvor gab es andere ministerielle Prioritäten, wie beispielsweise Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie und die Einführung einer Impfpflicht, welche am 07.04.2022 keine Mehrheit im Bundestag fand [5]. Andere Umsetzungen, wie die Pflegepersonalregelung (PPR) 2.0 aus dem Krankenhauspflegeentlastungsgesetz, sind für die stationäre Krankenversorgung gedacht und kein Instrument für die Langzeitpflege, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen. Nur zum Themenkomplex Sterbehilfe liegen bereits Gesetzentwürfe vor, wobei dieses Thema aus der letzten Legislaturperiode stammt. Beim Klimaanpassungsgesetz ist das Bundesumweltministerium führend. Bisher liegt ein Referentenentwurf vor, und eine Anhörung wurde eingeleitet. Beim geplanten Helmholtz-Zentrum für Alternsforschung ist eine Standortwahl gefallen, und die Konzeption wurde begonnen.

Für das zweite Halbjahr 2023, welches in unseren betrachteten Zeitraum nicht eingeschlossen war, sind viele weitere Gesetzesvorhaben angekündigt; kurz vor der parlamentarischen Sommerpause wurde ein Referentenentwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes vorgelegt, in welchem auch Regelungen zu Community Health Nurses getroffen werden sollen [2].

Schlussfolgerung

Der Koalitionsvertrag 2021 zwischen SPD, Grünen und FDP nimmt an mehreren Stellen Bezug zu einer älter werdenden Gesellschaft und den damit verbundenen Herausforderungen.

In Anbetracht der erwarteten starken Verschiebung der Altersverhältnisse und des erwarteten Zuwachses der Bevölkerungsanteile im Rentenalter werden allerdings wenige Lösungsvorschläge für genuin geriatrische Aspekte gemacht. Die Pflege als einer der dringlichsten Bereiche stellt hier eine Ausnahme dar. Wünschenswert wären ein erkennbares Bewusstsein sowie Lösungsvorschläge für die Defizite in der geriatrischen Rehabilitation gewesen, auch hätten geriatrische Erkrankungsbilder im Fokus der nächsten Jahre stehen können, beispielsweise zur weiteren Umsetzung der Nationalen Demenzstrategie [15].

Ob die aufgeführten Maßnahmen in den weiteren gut zwei Jahren umgesetzt werden, und welche Wirkung sie für eine ältere Bevölkerung entfalten, wird noch zu beobachten sein.