FormalPara Originalpublikation

Breitbach V, Brandenburg H (Hrsg) (2022) Corona und die Pflege. Denkanstöße – die Corona-Krise und danach, 314 S., Softcover ISBN 978-3-658-34044‑5, € 69,99; eBook ISBN 978-3-658-34045‑2, € 54,99; Springer.

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Pandemien sind Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Diese zu vergessen und zu verdrängen, gehört wohl ebenfalls zur menschlichen Grundausstattung. In der Spannbreite nur einer Generation traten in den Jahren 1968–1970 (Hongkong-Grippe) und 2002–2003 (SARS1) schwerste Pandemien auf. Seitdem war klar, dass eine weitere Pandemie (voraussichtlich mit einem modifizierten Virus) bevorsteht.

Der Deutsche Bundestag hatte daher erstmals 2004 einen Nationalen Pandemieplan in Auftrag gegeben [4], der ab 2012 in Fünfjahresabständen fortgeschrieben wird. Er enthält exakte Konzepte, v. a. für den Schutz exponierten Personals (u. a. Vorhalten von Schutzausrüstung). Wir waren auf die Krise also vorbereitet, haben aber die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen „sträflich vergessen“. Und wir gehen bis heute mit der wichtigsten Gruppe im Gesundheitswesen, der Pflege, ignorant um.

Andererseits initiierte SARS2 eine nie gekannte medizinische Forschungstätigkeit – und mit den Impfstoffen nicht zu erwartende, rasche Erfolge. Die Logik der Medizin bestimmte eine Zeitlang die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Sie dominierte über 2 Jahre fast alles.

Nun kommt dieses wichtige Buch – aus der Pflegewissenschaft der Philosophisch-Theologischen Hochschule Valendar (PTHV). Es enthält 21 Beiträge von Autoren aus dem Umfeld der PTHV und kooperierender Institute. Der Ansatz ist multidisziplinär (Pflege, Philosophie, Soziologie, Ethnologie und Theologie) und reicht von Grundlagenforschung bis zum Anwendungsbezug mit Folgeabschätzung. Die Beiträge beschränken sich zwar nicht ausschließlich auf alte Menschen. Altersbezogene Fragstellungen durchziehen aber fast alle 4 Teile des Buches.

Vulnerable und (Hoch‑)Betagte weisen im Krankenhaus und im Pflegeheim die höchste, durch COVID-19 bedingte, Übersterblichkeit auf [1, 2]. Auch in der ambulanten Versorgung Älterer tragen Pflegende gemeinsam mit Hausärzten die „Hauptlast“ der Versorgung [3].

Inhalt Teil I

Die Einführung zeigt, dass schnelles Handeln in der Politik zwar möglich ist. Die Wissenschaft benötigt aber viele Disziplinen. Schnelle Erkenntnisse sind hier nicht möglich. Es werden Denkanstöße aus der Pflegewissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Theologie gegeben. Es soll im Buch eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis geschlossen werden sowie Entscheidungsträgern eine kritische Positionierung erlauben.

Inhalt Teil II

Die Verletzlichkeit menschlicher Existenz wird als anthropologische Konstante dargestellt. Daraus wird gefolgert, dass Triage-Entscheidungen zu verhindern sind. Die Pandemie wird als Zuspitzung vorher bereits bestehender Krisentendenzen aufgefasst und betont organisierte Altenhilfe als Fixpunkt öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten. Das moralische Gewicht von Alter, Lebenslauf und Endlichkeit wird herausgearbeitet und in Zusammenhang mit Priorisierung intensivmedizinischer Maßnahmen diskutiert.

Aus theologischer Sicht werden ein Bezug zur Biologie anhand des Zitats von Frank Ulrich Montgomery, der Corona als Pandemie „mit biblischem Ausmaß“ bezeichnet (S. 76), beschrieben sowie ein kritischer Abstand mit Blick auf die Vergangenheit und ein unvoreingenommener Weg in die Zukunftsplanung nahegelegt.

Die Soziologie arbeitet Sozialraumbildung heraus („sauber, satt, sicher, still“), betont unterschiedliche und widersprüchliche Anforderungen sowie insgesamt die belastenden Arbeitsbedingungen professioneller Pflege. Mit der Methode teilnehmender Beobachtung beschreibt die Ethnologie die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen im Pflegeheim.

In einem weiteren Beitrag werden auf umfassender Basis aktueller Studien zur Versorgungs- und Strukturforschung rationale Empfehlungen für die Pflege in der Zukunft abgeleitet. So sagt dort Cornelia Kricheldorff: „Community-orientierte Konzepte und interprofessionelle Ansätze (…) können effektiv vor Überlastung schützen und Settings stärken (S. 173)“ [3].

Inhalt Teil III

Dieser Teil widmet sich pflegewissenschaftlichen Fragen: Was kann die Pflege aus der Pandemie lernen? Wie kann Pflege der gleichermaßen in den Settings Krankenhaus, Pflegeheim und ambulante Versorgung plötzlich erforderlichen Akutpflege gerecht werden? Für das Pflegeheim („Sonderform des Lebens“) werden Forderungen herausgearbeitet, um die bekannten strukturellen, finanziellen und fachlichen Defizite zu überwinden. Es folgt ein berufspraktischer Beitrag zu den Belastungsgrenzen und zur Systemrelevanz der Pflege als tragender Säule einer Gesellschaft.

Inhalt Teil IV

Gemeinsam mit Studierenden werden aus Querschnittsbefragungen Bedarfe in stationärer und ambulanter Versorgung – unter Berücksichtigung Angehöriger – analysiert und daraus versorgungs- und forschungspolitische Konsequenzen abgeleitet. Inhaltsanalysen beschreiben die gesteigerte mediale Aufmerksamkeit der Pflege in den Zeiten von Corona. Daraus ergeben sich auch Fragen um den Kampf der Anerkennung Pflegender.

Studentische Gedankenimpulse beinhalten Trauer, setzen sich mit der Spaltung der Gesellschaft auseinander, arbeiten Chancen für die Pflege heraus und geben Denkanstöße unter dem Motto „nach der Krise ist vor der Krise“.

Kommentar

Der Reader mit Texten aus unterschiedlichster Perspektiven beleuchtet verschiedenste Fragen mit einer heutzutage sehr selten gewordenen „Gelassenheit“. Er wirkt sogar „zeitlos“. Aus grundlegender Rückbesinnung und Analyse folgern Überlegungen zur Zukunft („Chance aus der Krise“). Durch die Einbeziehung Studierender fließen auch persönliche Erfahrungen ein. Alles findet aber – methodisch fundiert – auf hochstehend elaboriertem wissenschaftlichem Niveau statt.

Dennoch ist das Buch „leichtfüßig“ – entspannend zu lesen. Je nach persönlicher Herkunft und professioneller Provenienz wird nach Ansicht des Rezensenten bei der Lektüre jeder Leser eine Erweiterung seines Horizontes erfahren können.

Der Rezensent ist Arzt. Er fand die Beiträge der Ethnologie besonders spannend. Er fand auch – als Nichtmitglied einer Kirche – die theologischen Beiträge vom Grad der Reflexion her besonders anregend: einschränkend, sicher ein sehr subjektiver „Bias“.

Der Klappentext adressiert Pflege, Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Theologie als Leser. Der Rezensent empfiehlt darüber hinaus auch die Medizin. Herausgeberin Verena Breitbach und Herausgeber Hermann Brandenburg sind für ihre Leistung nur zu gratulieren; dem Buch ist eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen!