Liebe Leserin, lieber Leser,

es erstaunt, wie wenig in Deutschland über die Historie und den Hintergrund von Interprofessionalität bekannt ist. Die deutsche Geriatrie hatte sich in den 1995er-Jahren sogar weitgehend über Interprofessionalität definiert [18]. Bis heute besteht noch ein großer Abstand zwischen der internationalen und deutschen Entwicklung interprofessioneller Projekte, v. a. im Ausbildungsbereich. Aus dem Blickwinkel der Disziplinen Gerontologie/Soziale Arbeit (C.K.), Pflege (H.B.) und Medizin (W.H.) führen wir Sie in das Thema „Interprofessionalität“ gemeinsam ein.

Sozialwissenschaftlicher Kontext

In sozialwissenschaftlichen Kontexten wird, geprägt von anderen Traditionen und Entwicklungen und abhängig vom Grad der Kooperation, von Multi‑, Inter- und Transdisziplinarität gesprochen. Aber auch damit werden Ansätze beschrieben, in denen die verschiedenen Disziplinen in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen in ein gemeinsames Handeln auf Augenhöhe kommen, wobei die verschiedenen professionellen Kompetenzen der Beteiligten in den Prozess eingebracht werden [1, 2, 5]. Alle diese Ansätze spiegeln eine Vision wider, die aus einer Phase des Anfangs und Aufbruchs und aus der Historie und Kultur eines beruflichen Miteinander in den angelsächsischen Ländern erwuchs [22].

Die medizinische, pflegerische und psychosoziale Versorgung des alten Menschen in der Zukunft braucht verstärkt interprofessionelles Denken und Handeln. Der damit verbundene Anspruch setzt ein gegenseitiges Verstehen voraus und ist zeitlich und organisatorisch nicht voraussetzungsfrei. Die Ergebnisse von Studien zur interprofessionellen Zusammenarbeit in Forschungsprojekten zeigen deutlich, dass nicht selten bei den Beteiligten Ängste dahingehend bestehen, das eigene Profil nicht richtig zur Geltung bringen zu können. Denn in der Konfrontation mit Denkstilen, Paradigmen und Wissenskulturen anderer Disziplinen sind die jeweiligen Akteure auf die eigene Disziplin zurückgeworfen. Sie glauben, Erkenntnisinteresse, Gegenstand und Methodik der Herkunftsdisziplin erläutern und verteidigen zu müssen, womit nicht selten heftige Irritationen verbunden sind [3, 16].

Die Versorgung des alten Menschen braucht verstärkt interprofessionelles Denken und Handeln

Diese ambivalente Situation ist ein Grund, im Themenschwerpunkt genauer darüber nachzudenken, was unter Interprofessionalität in Gerontologie, Geriatrie und Pflegewissenschaft verstanden werden kann, welche Barrieren dabei bestehen, welche Strategien demzufolge zur Förderung der Zusammenarbeit sinnvoll sind und wie gelingende interprofessionelle Kooperation aussehen kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, mindestens zwischen Multi- und Interprofessionalität zu unterscheiden. Während es in dem zuerst genannten Begriff eher um das Nebeneinander verschiedener Professionen geht, so bezieht sich der zweite Begriff auf ein integratives Miteinander [4]. Es geht dann nicht mehr nur um einen bloßen Informationsaustausch, sondern im Kern – jedenfalls vom Anspruch her – um eine wechselseitige Verschränkung sowohl der kognitiven Strukturen wie auch der sozialen Organisation. Das Hauptmoment ist die „Interaktion zwischen den Disziplinen oder Fächern, die sich an einem gemeinsamen Dritten orientiert“ [14, S. 38]. Für die Forschung in der Gerontologie, z. B. um Altern aus biologischer, psychologischer, soziologischer und weiteren Sichtweisen zu verstehen, bedeutet „Disziplin“ nach der Leopoldina: „Disziplinen sind Netzwerke von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die eine Definition von Problemen und ihre Beobachtungen und Deutungen miteinander teilen …. Interdisziplinarität ist ein Prozess des Lernens, zumindest mit einem Potenzial von Sicherheit …. Beteiligte brauchen Geduld, Anerkennung anderer Theorien und Methoden – darunter mag die eigene Disziplin nicht nur der Königsweg zu sein …“ [19, S. 57].

Interprofessionalität im Gesundheitswesen

Im Gesundheits- und Pflegesektor ist konkret darüber zu sprechen, was unter einer guten Versorgung zu verstehen ist, wie sie professionsübergreifend realisiert werden kann, und wie sie am Ende dokumentiert und evaluiert wird.

Diese Zielperspektive setzt eine Veränderung der Kultur der Zusammenarbeit aller Beteiligten voraus. Dabei ist für eine faire Kooperation [24] die Unterstellung wichtig, dass der oder die andere auch das Gute will. Um das jedoch zu erreichen, ist auch die Reflexion von Vor- und Nachteilen sowie den Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit essenziell [4]. Genannt werden sollten mindestens die Qualität der Kommunikation (auch im Rahmen interprofessioneller und gut moderierter Teambesprechungen), die Notwendigkeit klar formulierter Aufgaben und Verantwortlichkeiten sowie die Festlegung auf bestimmte Ziele.

Wesentlich ist auch, dass die Barrieren einer Kooperation ernsthaft reflektiert und bearbeitet werden. Der wichtigste Punkt ist es diesbezüglich sicher, die verschiedenen professionellen Logiken, die auch durch Primär- und Sekundärsozialisation verstärkt wurden, nachzuvollziehen. An dieser Differenz muss produktiv angesetzt, letztlich eine Teamentwicklung im Sinne einer gemeinsamen Kultur initialisiert und verstetigt werden. Wenn das gelingt, dann könnten im Ergebnis positive Effekte für die Patientenversorgung generiert werden. Darauf verweist die vorliegende Studienlage [1, 9, 25, 28].

Interprofessionalität in der Ausbildung von Gesundheitsberufen

Im Gesundheitswesen wurde der Begriff einer „Interprofessionalität“ erstmals in den 1950er-Jahren in Nordamerika aus praktischen Anforderungen heraus geprägt. Es galt einerseits, Mitglieder der Gesundheitsberufe Pflege, Soziale Arbeit und Medizin (später auch Pharmazie, Zahnmedizin, Physio- und Ergotherapie u. a.) möglichst ressourcenschonend in gemeinsamen Studiengängen auszubilden. Andererseits wurde Interprofessionalität als „Werkzeug“ verstanden, mithilfe von Bildungsmaßnahmen die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. In lokal begrenzten Initiativen sollte die Zusammenarbeit der Berufe noch effizienter gestaltet werden [23]. Beginnend ab etwa den 1980er-Jahren brachten Regierungsprogramme Interprofessionalität in angelsächsische Länder. Im Jahr 1988 publizierte die WHO einen Bericht „Learning Together to Work Together for Health“ [22].

Interprofessionalität als Garant für eine bessere Versorgungspraxis?

Danach breitete sich die Bewegung global aus. Sie verstand sich inhaltlich umfassender und bezog soziale und ressourcenorientierte Faktoren (Bildung, Ernährung, Hygiene usw.) mit ein. Gesichtspunkte der Patientensicherheit wurden aufgenommen. 2010 konstatierte die WHO: „There is now sufficient evidence to indicate that interprofessional education enables effective collaborative practice which in turn optimizes health services, strengthens health systems and improves health outcomes“ [27, S. 7]. Wurde Interprofessionalität zum „Wundermittel für scheinbar unlösbare Gesundheitsprobleme“ [23, S. 47]? Wir meinen nein, denn sie ist im Gesundheitswesen in der Wirklichkeit angekommen.

In der Geriatrie der 1930er-/1940er-Jahre in Großbritannien z. B. waren diese Prinzipien zwar noch nicht im Terminus Interprofessionalität verankert, aber bereits intensiv „gelebte Wirklichkeit“ [26]. Mehr als ein halbes Jahrhundert später ist interprofessionelle Praxis in vielen Disziplinen weltweit zur Selbstverständlichkeit geworden.

Interprofessionalität hat also den Praxistest bestanden. Auch wenn viele Daten dafür sprechen (s. oben), muss aber eingeschränkt werden, dass der wissenschaftliche Beweis für eine nachhaltige und längerfristige Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung noch nicht erbracht werden konnte [6, 7, 21]. Forschungsprojekte müssen aufgesetzt werden. Deutschland hat die Chance, sich diesen anzuschließen und damit wettbewerbsfähig zu bleiben.

Gerade dafür ist es nicht trivial, Interprofessionalität auch in der Terminologie eindeutig zu definieren und sie damit auch für Forschungsansätze zu operationalisieren. Augenblicklich wird in Geriatrie und Gerontopsychiatrie darüber zu wenig nachgedacht. Begriffe wie multi-, inter-, intradisziplinär und -professionell verschwimmen dort gelegentlich oder werden sogar synonym gebraucht [13]. Im Übrigen könnte Interprofessionalität aus dem Hintergrund der Interdisziplinarität heraus verstanden werden. Die Disziplinen Pflege, Soziale Arbeit, Medizin, Pharmazie, Zahnmedizin und mit zunehmender Akademisierung auch Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie sind fachliche „Heimat“ für die daraus hervorgehenden Professionen Pflege, Soziale Arbeit und Medizin.

Ein Nebenaspekt mag dies veranschaulichen. Interprofessionalität arbeitet teamorientiert. Wissenschaftstheoretisch aber den Link zwischen Disziplin, Profession und Team darzustellen, befindet sich in Diskussion. Häufig wird dies so verstanden, dass die Disziplin Herkunftsort und Ausbildungsweg (z. B. Studiengang) für die Profession ist, die wiederum ihre Expertise auf Arbeitsebene in das Team einbringt (z. B. auch Assessment ausführt) [17]. In der Literatur wird diskutiert, ob und in welchem Umfang ein konstantes Team in einem stabilen Kontext zum Behandlungserfolg beiträgt. Auch wenn diese Frage noch offen ist, sprechen einige Daten für diese Annahme [10, 12, 15]. Eine organisierte Vereinigung des Wissens durch das Team und die Möglichkeit, Konsequenzen daraus abzuleiten, könnten diese erklären [20].

Politische Perspektive in Deutschland

Dem Gesundheitssystem in Deutschland werden ausprägte Partialinteressen, Segmentierung und Fragmentierung zugesprochen. Erheblicher Innovationsbedarf ist unbestritten. Umso kräftiger sind ehrgeizige Bestrebungen von Bundes- und Wissenschaftspolitik, Interprofessionalität ordnungspolitisch durchzusetzen. Dies findet Ausdruck im Masterplan Medizinstudium 2020, in Lernzielkatalogen, Prüfungsordnungen und v. a. in einer Gesetzesinitiative zur Novellierung der Ärztlichen Approbationsordnung. Inhaltlich fordert die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) dafür: „Zentral ist die gemeinsame, interprofessionelle Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Studiengangperspektiven an einem konkreten Gegenstand und nicht nur die zeitgleiche Anwesenheit in einer Veranstaltung“ [11, S. 14].

Dass die angemahnte Entwicklung mit hohen Anforderungen verbunden ist, betont Ewers: „Es verlangt auf Seiten der Lernenden, Lehrenden … und Führungskräfte … wie auch der politisch Verantwortlichen nach ausgeprägter Veränderungsbereitschaft“ [8, S. 57]. Niemand vermag die Durchschlagskraft politischer Initiativen vorherzusagen. Aber: Die wissenschaftlich basierte Grundlage, stringente Abstimmung zwischen Wissenschaft und Politik, langjährige Vorbereitung und zielgerichtete Planung könnte unseres Erachtens doch erwarten lassen, dass dieses Vorhaben zur Umsetzung kommt.

Beiträge in diesem Heft

Wir hoffen, Ihnen einen interessanten Themenschwerpunkt in diesem Heft vorlegen zu können. Am Anfang steht ein Beitrag aus der Medizin (Hofmann et al.), nicht weil Medizin als „übermächtig“ erscheinen will, sondern weil hier die Diskrepanz zwischen politischer Intention und dem realen Ist-Stand interprofessioneller Lehre in Deutschland in aller Klarheit zum Ausdruck kommt. Der zweite Beitrag (Kricheldorff et al.) beschreibt ein in Deutschland einzigartiges Projekt. Es befindet sich im Regelbetrieb zweier kooperierender Hochschulen in Freiburg und umfasst die Kernbereiche interprofessionellen Arbeitens („postgraduated“) im Anschluss an das Lernen („undergraduated“): Pflege, Soziale Arbeit und Medizin. Der dritte Beitrag (Sirsch et al.), in dem ein pflegerisch-zahnmedizinischer Expertenstandard vorgelegt werden kann, ist ein Meilenstein. Zahnmedizin ist international in interprofessionellen Projekten seit jeher eine wichtige Disziplin. Alterszahnmedizin blickt in Deutschland auf eine lange Tradition zurück. Das hier publizierte Instrument könnte das Potenzial haben, die Versorgungsqualität zu verbessern.

Die „landmarks“ der Literatur zur Interprofessionalität sind noch überschaubar. Es findet aber ein sehr reger Diskussionsprozess zu vielen Aspekten statt. Für die Ausbildung und Ausübung von Gesundheitsberufen könnte dieser möglicherweise schon bald ordnungspolitische Konsequenzen haben. Verfolgen Sie daher diesen Diskurs unbedingt! Mit dem vorliegenden Heft werfen wir – wie wir meinen – einige „Schlaglichter“ auf nicht ganz unwesentliche Aspekte der Interprofessionalität.

Wir wünschen Ihnen Erkenntnisgewinn und Freude beim Lesen!

Ihre

C. Kricheldorff, H. Brandenburg und W. Hofmann