Liebe Leser,

das Statistische Bundesamt teilt mit, dass von den 2,59 Mio. zu Hause lebenden Pflegebedürftigen in Deutschland 1,76 Mio. ausschließlich von Angehörigen gepflegt werden – ohne Unterstützung, z. B. durch einen ambulanten Pflegedienst. Das sind fast drei Viertel aller Betroffenen [1]! Ein ähnliches Verhältnis ist für die Pflege bei Menschen mit Demenz (MmD) anzunehmen.

Dieser seit Jahrzehnten anhaltend hohe Anteil erstaunt. Und er widerspricht ebenso lange zurückliegenden Prognosen, die einen allmählichen Trend zur vermehrten Abgabe familialer Verantwortung an Dritte (an wen denn auch nur?) sahen – begründet durch Singularisierung, vermehrte räumliche Distanz, Unvereinbarkeit von Pflege und Beruf u.v.a.m.

Es ist zwar keine Trendumkehr zu mehr Übernahme personeller Pflegeleistungen durch Angehörige anzunehmen, aber ein deutlicher Paradigmenwechsel zu diversifiziertem Support (technisch, assistiv, kommunikativ – und womöglich auch nachbarschaftlich). Der Themenschwerpunkt vom Oktoberheft 2019 hatte diese dynamische Ausgestaltung und Organisation sehr unterschiedlicher Pflegeleistungen aus der Ferne im Kontext der auch beruflichen Rahmenbedingungen bereits hervorragend beleuchtet: „distance caregiving“ [2].

Das vorliegende Heft vereint vier Beiträge, die sich mit MmD in der Wohnbevölkerung befassen, zu Hause lebend – ohne jegliche institutionalisierte Unterstützung. Es führt in gewisser Weise den Diskurs zum bezeichneten Paradigmenwechsel fort, verbunden mit der Aufforderung: „care the carer“!

Die Rostocker Universitätsmedizin und das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) Rostock/Greifswald (Kilimann et al.) evaluieren eine psychotherapeutische Gruppentherapie für Angehörige von MmD, die niedrigschwellig, kompakt und personenorientiert vorgeht. Diese will über Selbsthilfe- und Unterstützungsgruppen hinausgehen, die „nur“ Beratung enthalten. Die kleine Studie ist allerdings negativ. Eine Publikation in diesem Heft ist dennoch ein zu schätzendes Verdienst – es werden nämlich spezifischer Einzelbedarf bei differenzierten Demenzdiagnosen und die Implementierung im ländlichen Raum fokussiert.

Das Institut für Psychologie der Universität Jena (Theurer et al.) untersucht in einer ebenfalls kleinen Stichprobe erstmals den ansteigenden Anteil (derzeit bei ca. 10 %) der pflegenden (Schwieger‑)Söhne. Deren Herangehensweise an die Pflege unterscheidet sich von derjenigen bei (Schwieger‑)Töchtern hier in keinster Weise. Das Ergebnis ist interessant und praxisrelevant, denn etablierte Unterstützungssysteme sind nach dieser Pilotstudie gleichermaßen für Söhne und Töchter geeignet, eine Entwicklung gendergerechter Programme wäre demnach (?) nicht erforderlich.

Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und die universitäre Allgemeinmedizin Greifswald (Monsees et al.) beleuchten die Prävalenz von Demenz bei Migranten. Eine Datenanalyse stellt diese zum einen nach Herkunftsland (bezogen auf ethnische Herkunft und Kontinent) und zum anderen nach Verteilung in den deutschen Bundesländern dar – die Unterschiede sind nicht unbeträchtlich. Die erhobene Gesamtzahl von 5,2 % MmD bei Migranten unterschätzt die „wahre“ Prävalenz höchstwahrscheinlich – verbleibt die Demenz bei Deutschen ohnehin schon unterdiagnostiziert. Wo je nach Herkunftskultur und deutschem Bundesland ein sehr spezifischer Handlungsbedarf besteht: Nun sind hierfür Daten da!

Das Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie der Universität Mainz (Wangler et al.) geht davon aus, dass der Hausarzt eine Diagnose der Demenz nicht gerne stellt, sondern lieber an den Facharzt „überstellt“. Dies kontrastiert mit der Forderung nach Frühdiagnostik, die sich 70–80 % der Menschen aller Altersklassen wünschen. Aber gerade der Hausarzt ist nah am Alltag, wo sich frühe Zeichen zuverlässig zeigen. Die Arzthelferin/medizinische Fachangestellte (MFA) könnte Screenings beim Assessment leisten; Tools dürfen delegiert werden. Die kleine, qualitative Befragungsstudie zeigt: Praxispersonal wäre zwar motiviert und sehr wohl bereit, eine systematische Organisation mit Ablaufalgorithmus ist aber nicht zu finden –, sondern eine Forderung für die Zukunft.

Die vier Beiträge wollen Ihre Neugierde wecken, auf Forschungsfragen hinweisen und dazu beitragen, die Versorgung zu verbessern. Ich hoffe, dass das Lesen Ihnen Freude macht!

Ihr

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W. Hofmann