In Bezug auf die Alltagserfahrungen und Bedürfnisse der Angehörigen konnten 4 Themen identifiziert werden: 1. beängstigende Bilder von Demenz in der Gesellschaft, 2. Kontinuität und Konflikte in der Beziehung zur Person mit Demenz, 3. Selbstsorge und Umgang mit eigener Gesundheit, 4. fehlende Unterstützung und Gemeinschaft. Die Themen werden folgend dargestellt.
1. Beängstigende Bilder von Demenz in der Gesellschaft
Für die Angehörigen war es von großer Bedeutung, welche gesellschaftlichen Bilder existierten, und welche Informationen sie zu Demenz erhielten, z. B. aus dem Internet. Informationen, die ein beängstigendes Bild transportierten, wurden als „schädlich“ wahrgenommen.
„… aber ich hab’ dann aufgehört, weil da sind oft dann Abläufe drinnen gestanden (…)
Du machst dich nur verrückt, (…) es ist bei jedem anders, und es ist nicht immer ein Schema.“ (Interview 3)
Ursprünge dieser Bilder waren aber auch andere Medien und Aussagen von professionell Helfenden. Die Aussicht auf Pflegebedürftigkeit und einen progredienten Verlauf war ein Schock für die von uns befragten Angehörigen, der psychische Krisen auslösen konnte. Diese Bilder förderten den tabuisierten Umgang mit Demenz in der Öffentlichkeit und führten zu Gefühlen von Scham und Peinlichkeit.
„Es ist so, wie wenn man Krebs hat. Ich glaub, früher war das ein Tabu, und da hat man sich dafür geschämt, und jetzt ist es auch schon (…) offener irgendwie, nicht bei allen, aber dass man offenerer darüber spricht, und ich denke bei einer Alzheimer-Demenz, (…) wir haben eine Leistungsgesellschaft, und es ist offenbar noch immer vielen peinlich, wenn ein Mensch wieder an Kompetenzen verliert.“ (Interview 1)
Diese vorrangig negativen Bilder wurden durch die eigenen, auch positiven Erfahrungen kontrastiert, wie im zweiten Thema deutlich wird.
2. Kontinuität und Konflikte in der Beziehung zu den Menschen mit Demenz
Die Alltagserfahrungen der Angehörigen beinhalteten Kontinuität in Beziehungen und positive Begegnungen, in denen Humor von großer Bedeutung war:
„Wir lachen manchmal (…), was uns sehr hilft, wir können noch viel miteinander lachen. Das ist schön. Er hat Humor und ich auch (…), das hilft uns sehr viel darüber hinweg.“ (Fokusgruppe B3)
Wenn die Beziehung und gemeinsame Aktivitäten aufrechterhalten werden konnten, war ein gut erträgliches Leben möglich. Demgegenüber kam es regelmäßig zu Konflikten bei der gemeinsamen Durchführung von Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL). Vor allem die ganz normale Alltagsbewältigung stellte die Angehörigen vor große Herausforderungen, wie im titelgebenden Zitat deutlich wird:
„Es ist schwierig. (…) am Abend die Zahnprothese rauszunehmen. Da geht er ins Badezimmer und sagt: ‚Wo soll ich sie denn hin‘ (…) ‚in den Spiegelkasten‘ (…). Das macht er, dann nimmt er sie heraus, nimmt sie wieder hinein und kommt und zeigt mir sie. Und ich sag: ‚Du sollst sie ja hinaustun! (…)‘ ‚Hab ich ja eh‘ (…) …‚ warum muss ich es raus.‘ (…) wenn ich dann zweimal sage, (…) dann sagt er: ‚Warum schreist denn mit mir?‘ (…) Aber … wenn es nicht schlimmer wird, kann ich damit leben.“ (Interview 3)
Mangelndes Wissen über konkrete Pflegepraktiken bzw. Hilfestellung, um bei den ATL anzuleiten war ebenso deutlich wie die Belastung von sich häufig wiederholenden Situationen, die zu Konflikten führten. Auch von Gewalterfahrungen berichteten v. a. die in Partnerschaft zu Menschen mit Demenz stehenden Angehörigen. Verwechslungen oder der schwierige Umgang mit unterschiedlichen Bedürfnissen nach Sexualität wurden als belastend erlebt.
3. Selbstsorge und Umgang mit eigener Gesundheit
Für sich selbst zu sorgen, beschrieben die Angehörigen als schwierig. Alle Teilnehmenden nannten als Strategie, um gesund zu bleiben, Freizeitaktivitäten durchzuführen. Beispiele waren „in den Jazz-Club gehen“ oder „Freunde treffen“. Obwohl sie ihre eigenen Bedürfnisse nennen konnten, schilderten sie, dass es oft nicht möglich war, diese zu erfüllen: „Ich ginge so gerne Power Walken, (…) aber es fehlt mir die Zeit. (…) wenn ich es zu ihm sage, ‚bleibst jetzt da, ich gehe jetzt eine Stunde mit Stöcken‘, dann sagt er zuerst einmal: ‚ich geh mit‘, und dann ist es schon erledigt. (…)“ (Interview 2). Ein Problem entstand, wenn pflegende Angehörige selbst akut erkrankten. Beispiele waren Operationen, die aufgeschoben wurden, oder der Abbruch von Regenerationsphasen:
B2: „Ja, das selber Kranksein ist eine Schwierigkeit.
B3: Das ist das Ärgste.
B6: Man genehmigt sich es gar nicht.
B3: Das ist es. Freitag noch im Spital gewesen.
B3: Jeden Tag, Gott sei Dank, heute geht es mir gut, (…) weil sonst …
B6: Mir ist es auch heuer passiert. Ich habe einen Liegegips gekriegt. Was habe ich gemacht, ich bin keine Minute gelegen, bin mit den Krücken die ganze Zeit herumgehumpelt und habe alles gemacht.“ (Fokusgruppe)
4. Fehlende Unterstützung und Gemeinschaft
Alle Angehörigen schilderten ihre oft erfolglosen Versuche, sich Unterstützung zu organisieren, da diese aus dem Verwandten- und Freundeskreis nicht ausreichte. Zum einen wurde vom Fehlen von mobilen Diensten wie Besuchsdiensten, Ersatzpflege, Ergotherapie oder Physiotherapie, aber auch Tageszentren berichtet. Zum anderen war die Inanspruchnahme dieser Leistungen aufgrund von finanziellen oder strukturellen Problemen oft nicht möglich. Die Angehörigen berichteten auch von existierenden Angeboten, die sie als nicht adäquat einschätzten und daher nicht in Anspruch nahmen:
„… weil (…) ein [spezialisiertes] Heim, (…) das gibt es praktisch gar nicht. Es gibt wohl in Y das (…) –Pflegeheim, aber dort gibt es keine Abteilung für Demenzkranke, da wäre er nur bei den Pflegebedürftigen, und das traue ich mir ihm nicht zumuten. Weil er braucht schon (…) ein Umfeld, das mit ihm redet und die ihn miteinbeziehen und wenn Leute dort sind, die nur im Rollstuhl sitzen oder nicht mehr kommunikativ sind (…) – da wäre er ganz arm.“ (Interview 2)
Auf Hürden stießen die Angehörigen aber auch im Manövrieren im Gesundheits- und Sozialsystem, wie folgendes Zitat zeigt:
„Was mir vergangenes Jahr passiert [ist], mit den Medikamenten. Die Gattin war im Spital (…) wegen dem Zucker (…), wir haben dann Medikamente für 3 Monate und einen Verordnungsschein für die Nadeln mitgekriegt, weil die gibt es nur bei der Krankenkassa zum Abholen. (…) Sagt sie, was wollen Sie da? Sage ich, ich muss Nadeln holen. Nein, mit dem Schein nicht. (…) Einen neuen Verordnungsschein. Geh ich dort hin, (…) die nimmt den Schein, sagt, die kann ich Ihnen nicht geben. (…) Sag ich, wenn sie jetzt nicht SOFORT – oder ich hol’ die Polizei! Auf einmal habe ich sie gekriegt.“ (Fokusgruppe B4)
Die SHG wurde von allen Teilnehmenden sehr geschätzt und als hilfreich beschrieben:
„(…) in Z, dieses Alzheimer-Café, (…) da fahren wir beide hin, und das war super, (…), weil jeder bringt irgendwas ein, wo er sagt, schau, das könntet ihr machen, und dort könntet ihr was erfahren oder Hilfe noch beanspruchen und alles.“ (Interview 3)
Eine Voraussetzung, um die betreuten Personen an ihrem Umfeld weiterteilhaben zu lassen, war aus Sicht der Teilnehmenden die Kommunikation der Diagnose in der Nachbarschaft. Die Aufklärung über die Diagnose konnte dazu führen, Unterstützung aus der Gemeinschaft zu erhalten, wie z. B. im lokalen Lebensmittelgeschäft:
„Ich war einmal mit ihr [einkaufen], und da war ein Wagen von den Regaleinschlichterinnen, und sie hat diesen Wagen genommen und (…), weil sie sie kennen, haben sie gesagt: ‚Frau Simma, das ist ja gar nicht ihr Wagen, aber danke, dass sie mir es bringen‘ und sind darauf eingestiegen (…), es war dann wie bei Kindern, ein spielerischer Zugang, aber wirklich positiv. (…) Und das ist ein Erfolgserlebnis für sie.“ (Interview 1)