Trotz des im Alter steigenden Risikos, an Krebs zu erkranken, sinkt die Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (KFU) bei Frauen und wird nur von wenigen Männern wahrgenommen. Der Nutzen von KFU bei älteren Menschen ist unsicher. Ihre Perspektive und Einstellungen zu KFU sowie Motive für oder gegen eine Teilnahme wurden bisher wenig untersucht.

Hintergrund und Fragestellung

Krebserkrankungen sind die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Das mittlere Erkrankungsalter der häufigsten Krebserkrankungen beträgt über 65 Jahre [9]. Jedoch steigt die Inanspruchnahme von KFU im Alter nicht an (Abb. 1; [15, 17]). In Deutschland können verschiedene KFU in Anspruch genommen werden (Tab. 1; [7]). Ziel der KFU ist es, durch frühzeitige Diagnose einer Krankheit deren Prognose zu verbessern und das Leben des Betroffenen zu verlängern. Bisher konnte nur eine Abnahme der krankheitsspezifischen Mortalität belegt werden [1]. Die Chance, im Alter von einer KFU zu profitieren, hängt von der Komorbidität und Lebenserwartung des Einzelnen ab [11]. Ziel der Studie war es, Einstellungen von über 69-Jährigen zu erfassen und ihre Motive bei der Entscheidung für oder gegen eine Teilnahme an KFU zu untersuchen.

Abb. 1
figure 1

Regelmäßige Inanspruchnahme von gesetzlichen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (KFU), getrennt nach Geschlecht und Altersgruppen. (Nach [17])

Tab. 1 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen in Deutschland

Explorative „Mixed-methods“-Studie

Design und Stichprobe

In dieser explorativen Mixed-methods-Studie wurden in „Face-to-face“-Befragungen mit einem standardisierten Fragebogen quantitative Daten und mit einem leitfadengestützten Interview qualitative Daten erhoben. Es wurden 1566 Personen aus dem Landkreis Vorpommern-Greifswald mit einer stratifizierten Stichprobe (Alter, Geschlecht) über das Einwohnermelderegister gezogen, von denen 630 per Post kontaktiert wurden. Die Rücklaufquote betrug 41 %. Durch Telefoninterviews wurden Personen mit kognitiven Einschränkungen, die mithilfe des „Callahan Six-item screener“ ermittelt wurden [3], oder mit einer Malignomerkrankung in der Anamnese ausgeschlossen (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Rekrutierung der Interviewpartner

Datenerhebung

Quantitativ

Model für den Fragebogen war eine amerikanische Pilotstudie [11]. Der Fragebogen wurde ins Deutsche übersetzt. Zusätzlich wurden an das deutsche Gesundheitssystem angepasste Fragen zur Inanspruchnahme von KFU gestellt. Der Fragebogen erfasste die Themenbereiche Inanspruchnahme, Entscheidungsfindung, persönliche/allgemeine Einstellungen und Dauer der Durchführung an KFU. Zudem erfolgte die Erfassung der soziodemografischen Daten, einer Pflegebedürftigkeit und Komorbidität mithilfe des Charlson Comorbidity Index [4]. Die Einstellungen zu den verschiedenen Aussagen zur KFU wurden mit zwei 5-stufigen Likert-Skalen (1: trifft zu bis 5: trifft gar nicht zu bzw. 1: stimme stark zu bis 5: lehne stark ab) erfasst und die Antwortmöglichkeit „kann ich nicht beantworten“ gegeben.

Qualitativ

Der Interviewleitfaden wurde selbst entwickelt und unterteilte sich in KFU-Teilnehmer (TN) und KFU-Nichtteilnehmer (nTN). Bei den TN erfolgte eine Vertiefung in die Motive für ihre Teilnahme und in die Erwartungen an die KFU. Bei den nTN wurde auf die Motive der Nichtteilnahme eingegangen und erfragt, was sie dazu bewegen würde, an KFU teilzunehmen. Nach 46 leitfadengestützten Interviews wurde eine theoretische Sättigung erreicht; die Interviews wurden nach Kuckartz [10] vollständig transkribiert und pseudonymisiert. Die Analyse der Interviews erfolgte durch eine offene Codierung; die einzelnen Kategorien wurden im Laufe der Datenanalyse aus dem Datenmaterial abgeleitet [6]. Die Standards für qualitative Studien wurden eingehalten (COREQ; [2]).

Ergebnisse

Stichprobe

Es nahmen 120 Personen an der Befragung teil [Durchschnittsalter 77 Jahre, Standardabweichung (SD) ± 6 Jahre, 53 % Männer]. Weitere Charakteristika der Stichprobe sind in Tab. 2 zusammengefasst.

Tab. 2 Soziodemografische Merkmale der Stichprobe

Quantitative Ergebnisse (n = 120)

Inanspruchnahme

Insgesamt berichteten 107 Personen (89 %), an KFU teilgenommen zu haben, und bei 104 Teilnehmern (86 %) lag die letzte KFU weniger als 5 Jahre zurück. Es hatten 91 Personen (76 %) an Darm- und 64 (54 %) an Haut-KFU teilgenommen. Fast alle Frauen gaben an, an Brust- (95 %) und Gebärmutter-KFU (93 %), sowie 83 % der Männer, an Prostata-KFU teilgenommen zu haben.

Entscheidungsfindung

Ein Großteil der Antwortenden (82 %) hätte vor der KFU über die Teilnahme sprechen wollen und war überzeugt, dass ihr Arzt abschätzen kann, ob Menschen im Alter über 69 Jahre von KFU profitieren. Mehr als die Hälfte (61 %) gab an, auch über ihre verbleibende Lebenszeit mit ihrem Arzt reden zu wollen. Jedoch meinten 70 %, dass die Einschätzung ihrer Lebenserwartung nicht wichtig für ihre Entscheidung zur KFU-Teilnahme sei. Es wollten 80 % der Befragten auch über die Möglichkeit eines falsch-positiven Befunds bei KFU informiert werden.

Einstellungen

Die meisten Teilnehmer gaben an, bis zum Lebensende alle KFU durchführen zu wollen, und waren mehrheitlich von ihrem Nutzen überzeugt. Sie nahmen an, eine ausreichende Lebenserwartung zu haben, um von einer KFU zu profitieren, obwohl ein Viertel vermutete, eher an einer anderen Krankheit als Krebs zu versterben (Abb. 3). Die Mehrheit befürwortete, dass jeder bis ans Lebensende an KFU teilnehmen sollte. Nur eine Minderheit schränkte dies bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Demenz ein (Abb. 4).

Abb. 3
figure 3

Einstellung zu Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (KFU), bezogen auf die Allgemeinheit (n = 120)

Abb. 4
figure 4

Einstellung zu Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (KFU), bezogen auf die eigene Person (n = 120)

Qualitative Ergebnisse (n = 46)

Motive für bzw. gegen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen

Die Motive der Interviewpartner für die KFU-Teilnahme variierten zwischen Regelmäßigkeit, Pflichterfüllung und Angst. Aus den Interviews war ersichtlich, dass, sofern eine KFU das erste Mal durchgeführt wurde, die Interviewpartner regelmäßig an KFU teilnahmen. Häufig erzählten die Interviewpartner, dass eine Inanspruchnahme aus Pflichterfüllung geschah; diese wird z. B. vom sozialen Umfeld oder von den behandelnden Ärzten ausgelöst. Die Interviews zeigten, dass ein weiteres Motiv für die Teilnahme an KFU in der Angst, an Krebs zu erkranken, besteht. Bei den nTN spielte Angst ebenfalls eine Rolle; diese bestand in Angst vor Ärzten, vor Komplikationen oder vor der Durchführung der KFU. Ein weiteres Motiv gegen KFU war Desinteresse, weil KFU in ihrem Leben keine Bedeutung erhalten hatte, und diese nTN sahen, auf die eigene Person bezogen, keine Notwendigkeit für die Durchführung einer KFU. Sofern es den Interviewpartnern gesundheitlich gut ging und sie keine Symptome einer Krankheit verspürten, bestand für sie kein Handlungsbedarf, mit einem Arzt in Kontakt zu treten. Einzelne Interviewpartner wogen für sich das Risiko der Durchführung einer KFU ab und entschieden sich dagegen. In Abb. 5 sind einzelne Interviewausschnitte zu den dargestellten Kategorien aufgeführt.

Abb. 5
figure 5

Motive für die Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (n = 46)

Erwartungen an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen

Die Mehrzahl der Interviewpartner erwartete eine frühzeitige Erkennung und bei einem Krebsbefund eine gezielte Behandlung, um so eine Lebensverlängerung zu erreichen. Viele Interviewpartner sagten, dass sie nach einer unauffälligen KFU das beruhigende Gefühl hatten, alles sei in Ordnung. Widersprüchliche Information zum Nutzen von KFU wurden von den Interviewpartnern als störend empfunden. Einzelne Zitate der Interviewpartner sind in Abb. 6 dargestellt.

Abb. 6
figure 6

Erwartungen an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (n = 46)

Stärken und Schwächen der Studie

Dies ist die erste Studie in Deutschland, die Einstellungen Älterer zu KFU und ihre Motive für eine (Nicht-)Teilnahme untersucht. Eine alters- und geschlechtsstratifizierte Stichprobe wurde gewählt, um eine Repräsentativität der Bevölkerung zu erhalten. Aufgrund des hohen Anteils von männlichen Probanden und KFU-Teilnehmern ist die Stichprobe nicht repräsentativ. Dennoch gelang es in der Studie, auch nTN zu befragen und im qualitativen Teil der Studie das gesamte Spektrum an Einstellungen zu erfassen. Ein Selektionsbias durch gesundheitsbewusste Teilnehmer und sozial erwünschte Antworten kann nicht ausgeschlossen werden. Die lokale Begrenzung der Befragung und insbesondere Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem der Deutschen Demokratischen Republik müssen bei einer Verallgemeinerung beachtet werden.

Diskussion

Zusammenfassung der Hauptergebnisse

Die Mehrheit der Befragten gab an, KFU in Anspruch genommen zu haben, und befürwortete eine Teilnahme der KFU bis ans Lebensende. Ein Viertel gab an, dass andere gesundheitliche Probleme im höheren Alter wichtiger sind als die Teilnahme an KFU, und vermutete, eher an einer anderen Erkrankung zu versterben. Die meisten wollten mit ihren Ärzten über die (Nicht-)Teilnahme an KFU sprechen und waren überzeugt, dass diese den Nutzen einer Teilnahme einschätzen können. Motive für die Teilnahme von KFU im Alter waren Regelmäßigkeit, Pflichterfüllung und Angst, die eng mit der Erwartung einhergingen, dass durch das frühzeitige Erkennen von Krebserkrankungen Hilfe und letztlich eine Lebensverlängerung möglich ist. Gründe, nicht an KFU teilzunehmen, waren mangelndes Interesse, fehlende Notwendigkeit oder ebenfalls Angst. Nachteile der (Nicht-)Teilnahme wurden wenig thematisiert.

Bedeutung der Ergebnisse und Vergleich mit der Literatur

Entgegen der sinkenden Inanspruchnahme von KFU im Alter gab die Mehrheit der Interviewten an, an KFU teilzunehmen [15]. Wie in der amerikanischen Studie befürworteten die meisten, eine lebenslange Fortführung von KFU, und es bestand bei ihnen wenig Zweifel an dem Nutzen und dem lebensverlängernden Effekt [11]. Dies entspricht aber nicht der gegenwärtigen Evidenz der meisten KFU [1]. Im Gegensatz zu gleichaltrigen Amerikanern erachteten nur wenige der Befragten andere gesundheitliche Probleme als wichtiger oder sahen KFU von über 69-Jährigen als Zeit- und Geldverschwendung an [11]. Eine regelmäßige und gewohnte frühere Teilnahme an KFU und die Vergewisserung bzw. Beruhigung, „nicht krebskrank zu sein“, wurden ebenfalls von den Befragten bestätigt und als wichtige Motive für die Teilnahme angegeben [14]. Anders als bei amerikanischen Senioren spielten bei den Befragten Motive wie Pflichterfüllung gegenüber dem sozialen Umfeld und der eigenen Person wichtigere Rollen als die Empfehlung der Teilnahme durch den betreuenden Arzt [14]. Hinter den Motiven, KFU im höheren Alter durchzuführen, steht bei mehreren Interviewpartnern die Erwartung, durch rechtzeitiges Erkennen von Krebserkrankungen erfolgreicher behandelt zu werden und somit länger zu leben.

Auch von den meisten der interviewten Menschen wird ein Nutzen der KFU bei über 70-jährigen Pflegeheimbewohnern gesehen. Das durchschnittliche Eintrittsalter in Pflegeheimen beträgt 81 Jahre; die Aufenthaltsdauer 30 bis 40 Monate [19]. Die Lebenserwartung von 5 bis 10 Jahren, die angenommen wird, um von KFU profitieren zu können, ist bei den meisten Pflegeheimbewohnern [1, 14,18] nicht gegeben. Über die Hälfte der Befragten lehnte die Aussage, dass bei total Pflegebedürftigen oder Demenzerkrankten keine KFU mehr durchgeführt werden sollten, ab. Krebserkrankungen spielen als Todesursache nur eine untergeordnete Rolle; es gaben 10 % der Befragten an, an Krebs zu versterben. Für diese Einschätzung spielen Überlegungen zum Nutzen oder möglichen unnötigen Behandlungen vermutlich keine Rolle. Da die meisten Teilnehmer vom Nutzen der KFU überzeugt waren, stellt die Aufhebung der KFU eine ungerechtfertigte Unterlassung für die Befragten dar. Die TN nannten kaum Nachteile von KFU wie z. B. Überdiagnosen oder unnötige v. a. psychische Belastungen [1, 18]. Die nNT sahen dagegen oft keine Notwendigkeit für KFU aufgrund ihres guten gesundheitlichen Zustands, zeigten vorab wenig Interesse für die Thematik oder sahen keinen Anlass, einen Arzt zu kontaktieren. Nachteile der Nichtteilnahme wurden von ihnen nicht genannt. Gesunde über 69-Jährige mit einer langen Lebenserwartung könnten am ehesten von einer KFU profitieren [1].

Es lässt sich vermuten, dass die Entscheidungen für oder gegen eine Teilnahme an KFU von den meisten wenig hinterfragt und auf Basis unzureichender Informationen über krebsspezifische Mortalitätsraten, Risiken und Konsequenzen von KFU getroffen wurden. Dass die Entscheidung zur KFU nicht auf einer informierten Entscheidungsfindung beruht, bestätigen auch andere Untersuchungen [12, 18]. Die Mehrheit der Befragten möchte mit ihrem betreuenden Arzt über die (Nicht-)Teilnahme sprechen und zeigt, im Gegensatz zu ihren amerikanischen Altersgenossen, hohes Vertrauen in Ärzte und deren Fähigkeit, den Nutzen einer KFU abzuschätzen [11]. Es wird vorgeschlagen, dass zur Abwägung des Nutzen und der Risiken von KFU neben dem aktuellen Gesundheitszustand, Komorbiditäten und krebsspezifischen Mortalitätsraten die Lebenserwartung des Einzelnen sowie die persönlichen Präferenzen einbezogen werden [1]. Die letztlich nur unsicher abzuschätzende Lebenserwartung darf thematisiert werden.

Die endgültige Entscheidung möchten die meisten Interviewpartner, wie auch ihre ausländischen Altersgenossen, selber treffen [14]. Eine informierte Entscheidungsfindung ist jedoch nur möglich, wenn ausreichend über Risiken und Nutzen von KFU aufgeklärt wird [12, 16, 18]. Evidenzbasierte Informationsbroschüren können das Wissen über Krebserkrankungen und KFU verbessern und fördern eine informierte Entscheidungsfindung für eine (Nicht-)Teilnahme [16]. Wichtig ist Aufklärung darüber, dass eine Einstellung der KFU nicht auf ein erhöhtes Risiko für Krebserkrankungen hindeutet, sondern als Resultat einer Abwägung des individuellen Nutzens zu verstehen ist [16].

Schlussfolgerungen

Angesichts des unsicheren Nutzens der KFU bei Älteren sollte die Entscheidung für oder gegen eine KFU auf Basis objektiver Information sowie angelehnt an den individuellen Gesundheitszustand und die Gesundheitsziele des Patienten getroffen werden. Die Ergebnisse zeigen, dass ältere Menschen wenig über Vor- und Nachteile nachgedacht haben oder über diese informiert worden sind. Sie haben aber ein Interesse an Aufklärung und einer autonomen Entscheidung. Sie sind bereit, über Themen, wie z. B. ihre Lebenserwartung zu sprechen. Mögliche Kriterien für eine Beendigung von KFU sollten in Leitlinienempfehlungen explizit ausgeführt werden. Studien zur Kommunikation von Vor- und Nachteilen der KFU bei Älteren existieren bislang nicht und sind notwendig.

Fazit

Ältere sind unzureichend über Vor- und Nachteile von KFU aufgeklärt. Sie überschätzen mehrheitlich den möglichen Nutzen der Teilnahme und die möglichen Nachteile eines Teilnahmeverzichts. Ältere sind überwiegend bereit, ihre Entscheidung, einschließlich ihrer vermuteten Lebenserwartung, mit ihren Ärzten zu besprechen. Ältere vertrauen meistens ihren Ärzten, möchten die endgültige Entscheidung über eine Teilnahme an KFU aber eigenständig treffen.