Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund aktueller Vorschläge, Gerontologie als eine eigene wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, werden einige Möglichkeiten diskutiert, die aus Sicht der Autoren der Gerontologie offenstehen. Es wird argumentiert, Multi-, Inter- und Transdisziplinarität sind die einzigen Alternativen, die als Besonderheit der Gerontologie sogar stärker herausgestellt werden sollten, deren Vor- und Nachteile aber noch weiter abzuwägen bleiben.
Abstract
Given the suggestion to establish gerontology as an independent scientific discipline, the paper discusses the options for further development. It is argued that multidisciplinarity, interdisciplinarity and transdisciplinarity are the only alternatives that should be explicitly highlighted as a special feature of gerontology and that advantages and disadvantages of these alternatives should be discussed further.
Notes
Eine ähnliche, aber z. T. anders benannte Differenzierung findet sich bei Karl [13, S. 271], der in Anlehnung an einen Definitionsversuch der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) neben Multi-, Inter- und Transdiszplinarität auch noch Pluridisziplinarität (als „Wechselwirkung zwischen Disziplinen, jedoch mit wenig oder gar keiner Koordinierung“) und Querdisziplinarität als eine „in einer Richtung verlaufende Zusammenarbeit und Koordinierung“ versteht, in der die Forschungsinitiative von einer (führenden) Disziplin ausgeht. Neben solchen eher theoretischen Typologisierungen gibt es auch stärker empirisch orientierte Typologien wie z. B. jene der „Interdisziplinaritätsstile“ [21].
Dies könnte nun ausführlich weitergehend problematisiert werden: Transdisziplinäres Arbeiten wäre dann streng genommen ja keine herkömmliche wissenschaftliche Tätigkeit, die auf theoretische Beschreibung und Erklärung zielt, sondern ein Mittel zur Lösung praktischer Probleme, angewandte Wissenschaft sozusagen, was eine weitere erkenntnistheoretische oder auch wissenschaftspolitische Erörterung sinnvoll machen würde, die wir hier nicht leisten können (vgl. dazu kritisch [5]).
Auch hier wird klar, dass eigentlich auch eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Diskussion geführt werden müsste, an dieser Stelle aber nicht kann. Mit dieser Formulierung soll keinesfalls ein Vorrang einer empirischen Wissenschaft festgestellt oder festgelegt werden, sondern solche Positionen werden als sich historisch-kulturell entwickelnde und verändernde Konstruktionen gesehen – und dies gilt auch für deren Thematisierung in der Wissenschaftstheorie. Daraus folgt, dass keine solche Position übersituativ oder in diesem Sinne „transdisziplinär“ festgelegt werden kann, selbst wenn man das wollte. Daraus folgt aber kein Wissenschaftskulturrelativismus im Sinne einer völligen Beliebigkeit: Es lassen sich, bezogen auf die jeweiligen Erkenntnisziele, durchaus zu jedem Zeitpunkt bessere und schlechtere Theorien und Methoden unterscheiden, und genau dies zu diskutieren, ist nach dem Verständnis der Autoren das Geschäft der Wissenschaft.
Die geneigte Leserschaft wird an dieser Stelle unschwer erkennen, wo die Schwächen und Kompetenzen in diesem multidisziplinären Umfeld liegen.
Auch dies wurde nicht systematisch untersucht, begegnet aber gelegentlich entsprechenden Einwänden, z. B. „The best gerontology comes from analysts who are not primarily (or not only) gerontologists, but sociologists, economists, biologists, pharmacologists, social policy analysts etc.“ [2, S. 305]. In der Tat setzen Multi-, Inter- und Transdisziplinarität zwingend fundierte disziplinäre Kenntnisse voraus.
Ein kleines Beispiel mag verdeutlichen, in welche Richtung hier gedacht wird, freilich mit einem Ausgangspunkt aus der „eigenen“ Heimatdisziplin, aber keinesfalls in der Annahme, dass dies nur Einbahnstraßen sein könnten. In der Geschichtswissenschaft (z. B. [26]) und der Wissenssoziologie (z. B. [9]) wurde argumentiert, die Zeit sei eine soziale Konstruktion zur Koordination sozialer Interaktionen und ihre Messung u. a. deshalb an Gleichförmigkeit und Linearität orientiert – zunächst etwa mithilfe der Sterne, Sand-, Wasser- und Kerzenuhren, später mit Mechanik, dann mit der Cäsiumatomuhr. Vor diesem Hintergrund erscheint die Verwendung des kalendarischen Alters für die Bestimmung menschlichen Alterns im Grundsatz problematisch [23]. Es kam sogar schon die unangenehme Frage auf, ob Gerontologie vielleicht eine Teildisziplin der Astrologie sei [20]. Aber wie auch immer – zugespitzt folgt wissenschaftspraktisch daraus, dass etwa dort, wo nach Biomarkern des Alterns gesucht und als Vergleichsmaßstab das kalendarische Alter herangezogen wird (z. B. [15]), ein Fehler in Kauf genommen wird: Wenn es hier unterschiedliche Geschwindigkeiten, Phasen beschleunigten Alterns, vielleicht sogar auch Phasen der Verjüngung geben sollte, würden möglicherweise die „richtigen“ Marker (bzw. deren Wechselwirkungen) aufgrund mangelhafter Korrelation mit den Planetenkonstellationen (oder eben der physikalischen Zeit) übersehen oder gar verworfen.
Natürlich lässt sich ein solches Phänomen nicht leugnen, aber dass es nicht nötig scheint, hier zu differenzieren, ist ein Indiz für ein schlechtes Image der Gerontologie (alternative Interpretationsmöglichkeiten bestehen freilich.)
Schärfer noch z. B. Settersten: „…having a common framework permits scholars to communicate more effectively and better coordinate and integrate the results of a cumulative body of scientific work … This also requires scholars to take an active interest in the theories and concepts of other disciplines, and to embrace different epistemological-ontological assumptions and their associated methodological implications. At the same time, it is clear that the organization of science makes it difficult for this to happen, particularly with respect to overcoming obstacles to conducting interdisciplinary scholarship“ [24, S. 10].
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Künemund, H., Schroeter, K. Gerontologie – Multi-, Inter- und Transdisziplinarität in Theorie und Praxis?. Z Gerontol Geriat 48, 215–219 (2015). https://doi.org/10.1007/s00391-015-0875-2
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