Anamnese

Ein 18-jähriger Medizinstudent stellte sich mit anamnestisch seit 4 Wochen bestehender Visusminderung beidseits sowie rezidivierenden Kopfschmerzen in unserer Poliklinik vor. Aufgrund einer Sprachbarriere und spärlicher medizinischer Unterlagen, da der Patient im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg nach Deutschland geflohen war, waren Anamnese und Rekonstruktion seiner Krankengeschichte erschwert. Die einzigen Vorerkrankungen, von denen der Patient berichtete, waren eine „zervikale Neuropathie“ und ein seit Kindheit beobachteter Nystagmus. Sowohl Voroperationen an den Augen als auch eine Regelmedikation wurden verneint.

Befund

Bei Erstvorstellung lag die Sehschärfe bestkorrigiert bei 1/15 Metervisus (MV) am rechten und 1/20 MV am linken Auge. Abgesehen vom bekannten horizontalen Nystagmus und einem leichten Papillenödem an beiden Augen zeigte sich ein unauffälliger klinischer Befund. Der Patient wurde unter Verdacht einer beidseitigen Papillitis stationär aufgenommen.

Das Aufnahmelabor mitsamt Quantiferon- und TPHA-Test, Borrelien-Serologie und Herpes-Virologie (HSV, VZV, CMV) sowie eine Röntgenaufnahme des Thorax und eine Fluoreszenzangiographie fielen ebenfalls unauffällig aus. Die diskrete Papillenschwellung wurde durch eine optische Kohärenztomographie bestätigt (Abb. 1). Die 30°-Perimetrie zeigte ein Zentralskotom auf beiden Augen, das sich während des stationären Aufenthaltes vergrößerte (Abb. 2). Die visuell evozierten Potenziale (VEP) zeigten in den Muster-VEP beidseits eine Abnahme der Amplitude und eine Zunahme der Latenzzeit, während in den Blitz-VEP noch reguläre elektrische Potenziale abgeleitet werden konnten (Abb. 3). Zu diesem Zeitpunkt wurde die neue Verdachtsdiagnose einer nervalen Reizleitungsstörung gestellt. Im Rahmen eines neurologischen Konsils wurden eine intrakranielle idiopathische Hypertension und eine Sinusvenenthrombose ausgeschlossen. Eine kraniale Magnetresonanztomographie (cMRT) mit Angiographie wurde als altersentsprechend unauffällig befundet. Im Liquor zeigten sich keine Pleozytose, keine oligoklonalen Banden (OKB) und keine intrathekale IgG-Synthese.

Abb. 1
figure 1

Das Papillen-OCT zeigte bei stationärer Aufnahme beidseits ein leichtes Papillenödem. a Infrarot-Aufnahme der rechten Papille, b OCT der rechten Papille, c Infrarot-Aufnahme der linken Papille, d OCT der linken Papille

Abb. 2
figure 2

Die 30°-Perimetrie zeigte am 10. Tag des stationären Aufenthaltes beidseits ein ausgeprägtes Zentralskotom

Abb. 3
figure 3

Während die Muster-VEP Amplitudenminderung und Latenzverlängerung zeigten, konnten in den Blitz-VEP weiterhin reguläre elektrische Potenziale abgeleitet werden

Im weiteren stationären Aufenthalt beschrieb der Patient eine leichte Rotentsättigung am linken Auge. Nachdem die Neurologen eine multiple Sklerose ausgeschlossen hatten, wurden andere Ursachen für eine autoimmune Optikusneuritis in Betracht gezogen. Eine neu durchgeführte cMRT mit Feinschichtdarstellung der Sehbahn zeigte eine leichte, symmetrische Steigerung der Signalintensität in beiden Sehnerven, die auch das Chiasma opticum mit fraglich diskreter randständiger Gadolinium-Anreicherung betraf (Abb. 4), weswegen die Neuroradiologen eine entzündliche Affektion des Chiasma opticum und der prächiasmatischen bis intrakonalen Anteile beider Sehnerven vermuteten. Um die Ursachen für die Sehnervenentzündung weiter einzugrenzen, wurde das Blut des Patienten auf Antikörper gegen Aquaporin 4 (AQP4) und Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) untersucht. Außerdem wurde eine Lebersche hereditäre Optikusneuropathie (LHON) molekulargenetisch ausgeschlossen. Während bei den AQP4-Antikörpern keine Erhöhung festgestellt wurde, waren die MOG-Antikörper im Immunfluoreszenztest mit einem Titer von 1:80 deutlich positiv (Referenz <1:10).

Abb. 4
figure 4

Gadolinium-verstärkte cMRT mit Feinschichtdarstellung der Sehbahn. Diese T2-gewichtete Aufnahme zeigt eine dezente symmetrische Signalintensitätssteigerung beider Sehnerven (rote Markierung) sowie fragliche diskrete randständige Gadolinium-Anreicherung im Chiasma opticum. a,b Aufeinanderfolgende koronare cMRT-Schnitte in T2-Gewichtung

Diagnose

Während seines Aufenthalts wurde eine Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper-assoziierte Optikusneuritis (MOG-ON) als Ursache für die Visusminderung des Patienten identifiziert.

Therapie und Verlauf

Die initiale Therapie bestand aus Ceftriaxon (2000 mg 1‑mal täglich, i.v.), Aciclovir (500 mg 3‑mal täglich, i.v.) und Prednisolon (60 mg 1‑mal täglich, p.o.). Nachdem sich die Verdachtsdiagnose von Papillitis zu Optikusneuritis änderte, wurden Ceftriaxon und Aciclovir abgesetzt. Das Prednisolon wurde auf 1000 mg Methylprednisolon umgestellt, welches 5 Tage lang i.v. gegeben wurde, jedoch ohne subjektive Verbesserung der Symptome. Die höchste bestkorrigierte Sehschärfe während des Aufenthaltes war 0,05 (dezimal) unter Verwendung des peripheren Gesichtsfeldes. Nach Feststellung der Diagnose wurde der Patient zur Weiterbehandlung in die Abteilung für Neurologie verlegt. Dort erhielt er nochmals eine i.v.-Stoßtherapie mit 2000 mg Methylprednisolon über 3 Tage und anschließend 12 Zyklen Plasmapherese. Nach dieser Behandlung berichtete er über eine leichte Verbesserung seiner Symptome. Am 41. Tag des stationären Aufenthalts lag seine bestkorrigierte Sehschärfe auf beiden Augen immer noch unter 0,1 (dezimal). Nach insgesamt 42 Tagen wurde der Patient mit einer Therapie von 20 mg Prednisolon p.o. entlassen.

Sechs Monate nach Erstvorstellung zeigten sich unter einer Prednisolon-Dosis von 30 mg beidseits lediglich Metervisus und ein anhaltendes Zentralskotom. Zudem zeigten sich die Papillen mittlerweile randscharf und farbarm (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Papillenfotografie 6 Monate nach Erstvorstellung. Es zeigt sich sowohl am rechten (a) als auch am linken Auge (b) eine wieder randscharfe, aber dafür farbarme Papille

Diskussion

Die MOG-ON ist eine seltene Erkrankung aus der Gruppe der MOG-Antikörper-assoziierten Erkrankungen (MOGAD) und als Differenzialdiagnose einer autoimmunen Optikusneuritis neben multipler Sklerose (MS) und Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) erst wenige Jahre bekannt.

Die Pathophysiologie ist bislang nicht abschließend geklärt. Bekannt ist jedoch, dass es sich um eine demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems handelt, die über die namensgebenden MOG-Antikörper, bei denen es sich um IgG1-Antikörper handelt, die Komplementkaskade aktiviert [7]. Als mögliche Trigger eines Entzündungsschubes werden in der Literatur Impfungen (v. a. mit polyvalenten Impfstoffen) sowie Infekte beschrieben, eine Kausalität ist bislang jedoch nicht nachgewiesen [2]. Ein Erkrankungsschub kann einmalig oder rezidivierend auftreten, wobei zwischen den Episoden auch mehrere Jahre vergehen können. Patienten mit MOG-ON stellen sich vorrangig mit ein- oder beidseitiger Visusminderung bis hin zum Visusverlust vor. Andere typische Symptome und Zeichen einer Optikusneuritis wie Bulbusbewegungsschmerz, Farbentsättigung oder ein RAPD können ebenfalls präsent sein. Begleitend können, abhängig vom Ausmaß des ZNS-Befalls, unter anderem Symptome wie Paresen, Parästhesien, Krampfanfälle, Ataxie oder Dysarthrie als Zeichen einer Enzephalomyelitis beobachtet werden. Vor allem bei Kindern kann sich eine Seropositivität von MOG-Antikörpern als akut disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) präsentieren [1, 2, 7].

Im Rahmen der ophthalmologischen Untersuchung kann bei Patienten mit MOG-ON, wie in unserem Fall auch, eine unterschiedlich stark ausgeprägte Papillenschwellung auffallen.

Im Vergleich zur MS-ON tritt eine MOG-ON häufiger beidseitig auf [1, 2].

Eine Sicherung der Diagnose erfolgt über den Nachweis der MOG-Antikörper im Blut, standardmäßig mittels zellbasierten Assays [7]. Das Fehlen von OKB im Liquor deutet auf eine ON im Rahmen einer MOGAD oder NMOSD hin und spricht ätiologisch gegen eine MS [3, 7].

Neben der Perimetrie, in der typischerweise ein Zentralskotom nachgewiesen wird, und der VEP-Messung, in der sich verminderte Amplituden und verzögerte Latenzen zeigen, stellt die cMRT die zentrale apparative Methode in der Diagnostik der MOG-ON dar. Hier zeigen sich häufig Signalsteigerungen (T2-Wichtung) und/oder Gadolinium-Enhancement der betroffenen Areale. Der N. opticus ist v. a. in seinen orbitalen und prächiasmatischen Abschnitten betroffen, ebenso kommt es im Vergleich zur MS-ON bei der MOG-ON häufiger zu einer Perineuritis nervi optici, die sich in Form eines Enhancements der Nervenscheide zeigt. Eine Besonderheit unseres Falls ist die für die Diagnose untypische Chiasmaaffektion der Entzündung.

Zerebrale Läsionen können gänzlich fehlen oder sich unspezifisch in der weißen Materie verteilt zeigen, während man bei einer MS klassischerweise periventrikuläre Herde erwartet [1, 2].

Als weiteres Merkmal einer MOG-ON ist die häufig beobachtete Steroidsensitivität zu nennen, die sich durch Beschwerdebesserung nach Therapieeinleitung und Rückfall nach Therapieabsetzen bemerkbar macht [5]. Die Therapie der MOG-ON gliedert sich in Akutbehandlung und Schubprophylaxe. Bei akuter ON ist eine Hochdosissteroidgabe Mittel der Wahl (1000–2000 mg Methylprednisolon, i.v.). Bleibt hierunter eine Besserung aus, folgt eine intravenöse Immunglobulingabe (IVIG), eine Immunadsorption oder die Plasmapherese wie auch in unserem Fall [2].

Zur Schubprophylaxe kommen Cortison, Immunsuppressiva (z. B. Azathioprin) oder Rituximab per os zum Einsatz. Höhere Dosen und ein längerer Therapiezeitraum sind assoziiert mit Remission und erfolgreicher Schubprophylaxe, während Patienten mit verfrühter Dosisreduktion und Therapieunterbrechungen ähnliche Remissionsraten zeigen wie unbehandelte Patienten [2, 6]. In Absprache mit den Neurologen ist nach Komplettierung des Impfstatus unseres Patienten ihrerseits eine stationäre Rituximab-Therapieeinleitung geplant.

Die Visusprognose der Erkrankung ist variabel. In der Literatur sind sowohl Fälle kompletter Visuserholung als auch dauerhafter Sehminderung beschrieben. Außerdem wurden persistierende Schäden im Sehnerv und der Netzhaut infolge von MOG-ON-Episoden beobachtet [2,3,4]. Als prognostisch ungünstige Faktoren zeigten manche Studien junges Alter bei Erstepisode und persistierende MOG-Antikörpertiter [3, 7]. Eine andere Studie von 2021 hingegen wies eine bessere Prognose im Kindesalter nach [8].

Unser Patient zeigte unter einer Erhaltungsdosis von 30 mg Prednisolon 6 Monate nach Erstvorstellung nach wie vor Metervisus und ein persistierendes Zentralskotom. Damit könnte sich bisher in unserem Fall das junge Alter des Patienten als prognostisch ungünstig erweisen. Als weitere Ursache für das unerwartet schlechte Ansprechen auf die Behandlung kann jedoch auch die lange Dauer von mindestens 4 Wochen zwischen Symptom- und Therapiebeginn denkbar sein.

Zusammengefasst weist unser Fall manche Unterschiede zum bisher als typisch beschriebenen Verlauf der MOG-ON auf. Hierzu zählen das schlechte Ansprechen auf Cortison sowie die chiasmale Affektion der Sehnerven. Ob sich die Sehkraft des Patienten im Verlauf noch bessern wird, werden die regelmäßigen ophthalmologischen und neurologischen Kontrollen zeigen.

Fazit für die Praxis

  • Bei einer Visusminderung mit Papillenschwellung muss differenzialdiagnostisch auch eine autoimmune Optikusneuritis in Betracht gezogen werden. Die MOG-ON ist eine seltene, aber potenziell folgenreiche Differenzialdiagnose zur MS-ON.

  • Eine frühe Diagnosestellung in Zusammenarbeit mit den Neurologen kann merklichen Einfluss auf den Verlauf haben. Daher sollten bereits bei Verdacht eine cMRT mit Gadolinium und Feinschichtdarstellung der Sehbahn sowie eine Antikörperbestimmung im Serum durchgeführt werden.