Anamnese

Der 31-jährige Patient stellte sich mit seit 3 Monaten bestehender, subakut aufgetretener Visusminderung des rechten Auges vor. Das linke Auge sei nach Okklusionsbehandlung im Kindesalter mild amblyop, ein Trauma war nicht erinnerlich. Allgemeinerkrankungen bestanden anamnestisch nicht.

Befund

Der bestkorrigierte Visus betrug 0,9 am rechten und 0,7 am linken Auge. Der Augeninnendruck war normoton. Die Spaltlampenuntersuchung ergab einen reizfreien Vorderabschnitt mit klaren Medien. Fundoskopisch zeigten sich im Bereich des hinteren Pols beidseits Cotton-Wool-Herde und streifige Blutungen mit Gefäßtortuositas. Die Papille war randscharf und vital, die Netzhaut anliegend (Abb. 1a, c).

Abb. 1
figure 1

Fundusfoto (ab) und Fluoreszenzangiographie (cd) des ac rechten und bd linken Auges 2010. Im Bereich der inferioren Gefäßbögen zeigt sich eine vermehrte Gefäßtortuositas mit Blutungen und Cotton-Wool-Herden. Rechts bestehen eine verbreiterte zentrale avaskuläre Zone sowie Kapillarausfälle bei okklusiver retinaler Vaskulitis. Im Bereich des temporal unteren Gefäßbogens des linken Auges stellt sich die floride arteriovenöse Vaskulitis dar

Diagnostik bei Erstvorstellung 2010

Die Goldmann-Perimetrie war frei (Abb. 2a, b). Die Fluoreszenzangiographie (FAG) zeigte eine floride okklusive Vaskulitis links bei bereits abgelaufenem Geschehen rechts (Abb. 1b, d). Die kranielle Magnetresonanztomographie (cMRT) war blande ohne Hinweis auf eine zerebrale vaskuläre Erkrankung. Eine rheumatologische Vorstellung offenbarte keine entzündlich rheumatische Systemerkrankung. Die Thrombophiliediagnostik fiel unauffällig aus. Die Infektionsserologie (Hepatitis, HIV, Lues, Borrelien) war negativ. Es folgte ein Wohnortwechsel mit zwischenzeitlicher auswärtiger Weiterbetreuung.

Abb. 2
figure 2

Kinetische Perimetrie nach Goldmann des ace linken und bdf rechten Auges im Krankheitsverlauf. ab Gesichtsfeld bei Erstvorstellung 2010 mit regelrechten Außengrenzen. cd 2021: deutliche Gesichtsfeldeinschränkung nach superior, inferior und nasal. ef 2022: am linken Auge ist ein zentraler Gesichtsfeldrest vorhanden, am rechten Auge eine kleine exzentrische Restinsel

Diagnostik bei Wiedervorstellung 2021

Im Jahr 2021 stellte sich unser Patient mit Visusminderung auf Handbewegungen/0,125 und Augeninnendruckanstieg auf 30 mmHg rechts mit Rubeosis iridis rechts mehr als links erneut bei uns vor. Fundoskopisch zeigte sich eine Optikusatrophie mit Kollateralenbildung und „ghost vessels“ am hinteren Pol ohne retinale Neovaskularisationen (Abb. 3a, c). Korrespondierend bestand eine fortgeschrittene Gesichtsfeldeinschränkung (Abb. 2c, d). In der FAG erhärtete sich der Verdacht auf eine aktive okklusive Vaskulitis (Abb. 3c, d). Im cMRT zeigten sich nun Hinweise auf eine zerebrale Vaskulitis. Da auch der 2 Jahre jüngere Bruder mit Visusminderung bei Optikusatrophie und milder Vaskulitis vorstellig wurde, erfolgte die genetische Abklärung. Es wurde gezielt die Analyse von TREX1 im Medizinisch Genetischen Zentrum München (MGZ) eingeleitet, die den Nachweis der wahrscheinlich pathogenen Variante c.796G > T p.Glu266* im heterozygoten Zustand erbrachte, passend zu dem nun klinischen Verdacht einer retinalen Vaskulopathie mit zerebraler Leukenzephalopathie und systemischen Manifestationen (RVCL-S).

Abb. 3
figure 3

Fundusfoto (ab) und FAG (cd) des ac rechten und bd linken Auges 2021. Fundoskopisch lässt sich eine fortgeschrittene Optikusatrophie erkennen, am hinteren Pol imponieren „ghost vessels“. Die Netzhaut ist atroph. Die FAG zeigt nasal eine Restperfusion mit sektorieller Schrankenstörung als Zeichen einer aktiven Vaskulitis

Diagnose

Retinale Vaskulopathie mit zerebraler Leukenzephalopathie und systemischen Manifestationen

Therapie und weiterer Verlauf

Im Jahr 2010 erhielt unser Patient einen Prednisolon-Stoß mit anschließendem Ausschleichen auf eine Erhaltungsdosis von 5 mg. In der Verlaufskontrolle 2011 betrug der Visus beidseits 0,7. Unter der Diagnose einer okklusiven retinalen Vaskulitis erfolgten auswärts über einen Zeitraum von 10 Jahren immunsuppressive Therapien mit Cyclosporin und Mycophenolat-Mofetil, worunter es zu progredienten Okklusionen kam; bei Unverträglichkeit und unzureichendem Ansprechen erfolgte die Umstellung der Basistherapie auf Adalimumab. Im Jahr 2021 bestanden neu aufgetretene Systemerkrankungen: arterielle Hypertonie, Niereninsuffizienz Grad II sowie ein Tinnitus. Die Medikation setzte sich aus Adalimumab, Prednisolon, einer antihypertensiven Vierfachtherapie und Lipidsenkern zusammen. Bei weiterhin bestehender Aktivität folgte die antiinflammatorische Therapie mit Prednisolon von 1 g über 3 Tage und Therapie mit Dorzolamid/Timolol rechts. Danach begann die Induktionstherapie mit Cyclophosphamid, die Erhaltungstherapie mit Azathioprin gefolgt von Rituximab. Im Jahr 2022 hatte sich die Sehschärfe trotz Therapieeskalation permanent auf Handbewegungen/1/50 Metertafel reduziert, außerdem war es beidseits zu einer Zunahme der Gefäßokklusionen mit weiterer Gesichtsfeldreduktion (Abb. 2e, f) gekommen. Nachdem das humangenetische Ergebnis vorlag, schlichen wir die Immunsuppression aus. Der Bruder wies eine geringere Krankheitsaktivität auf; sein bestkorrigierter Visus betrug an beiden Augen 0,9. In der FAG blieben die Okklusionen umschrieben und peripapillär begrenzt (Abb. 4). Das cMRT ergab eine Leukenzephalopathie ohne zerebrale Vaskulitis.

Abb. 4
figure 4

Fundusfoto (ab) und FAG (cd) des ac rechten und bd linken Auges des Bruders. Man erkennt eine Optikusatrophie sowie vereinzelte Cotton-Wool-Herde und eine vermehrte Gefäßtortuositas bei mikrovaskulären Okklusionen peripapillär. Die FAG zeigt beidseits eine stattgehabte okklusive arteriovenöse Vaskulitis peripapillär sowie eine milde Schrankenstörung am linken Auge

Diskussion

Die RVCL‑S beruht auf einer heterozygoten Mutation im TREX1-Gen bei autosomal-dominantem Erbgang mit Erkrankungsbeginn zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr [7]. TREX1 ist ein Polypeptid, bestehend aus 314 Aminosäuren, welches im Zytosol lokalisierte DNA-Moleküle degradiert. Haploinsuffizienz von TREX1 führt zur Induktion einer anhaltenden Interferon-Typ-I-Reaktion mit Inflammation. Die bei unserem Patienten nachgewiesene Stopp-Mutation befindet sich im C‑terminalen Bereich des TREX1-Gens. Nonsense-Mutationen im C‑terminalen Bereich des TREX1-Gens wurden bei mehreren Patienten mit retinaler Vaskulopathie mit zerebraler Leukenzephalopathie und systemischen Manifestationen als ursächlich beschrieben [6]. Frühe ophthalmologische Befunde sind Cotton-Wool-Herde, Mikroaneurysmata und Teleangiektasien, während im späteren Verlauf Kapillarausfälle, Gefäßobliterationen und Neovaskularisationen mit großen Ischämiearealen auftreten [7]. Spätkomplikationen sind Makulaödem und Sekundärglaukom [7]. Im Krankheitsverlauf kommt es neben neurologischen Manifestationen zu Niereninsuffizienz, Raynaud-Syndrom und arterieller Hypertension mit reduzierter Lebenserwartung [4, 7]; Systemerkrankungen, die auch bei unserem Patienten auftraten. Andere mögliche genetische Ursachen für okklusive retinale Vaskulitiden sind Mutationen in den Genen CAPN5 und TNFAIP3 [1]. Weitere Differenzialdiagnosen sind das Susac-Syndrom, das sich mit einer Trias aus retinalem Arterienastverschluss, Hörverlust und Enzephalopathie manifestiert [4], sowie die lysosomale Speicherkrankheit Morbus Fabry, die aufgrund eines Mangels an α‑Galaktosidase A zu Gefäßanomalien und Leukenzephalopathie führt [2]. Derzeit gibt es für die RVCL‑S keine etablierte Therapie. Die European Academy of Neurology empfiehlt aufgrund fehlender Evidenz weder Thrombozytenaggregationshemmung noch Immunsuppression [3]. Nach Diagnosestellung werden Erkrankungsmanifestationen therapiert: bei Makulaödem die intravitreale Gabe von VEGF-Inhibitoren, bei retinaler Ischämie eine panretinale Laserkoagulation und bei Sekundärglaukom die Augeninnendruckkontrolle [7]. Die University of Pennsylvania führt derzeit eine klinische Studie zum humanen Antikörper Crizanlizumab durch, der die Krankheitsprogression der RVCL‑S durch die Blockade von P‑Selectin, was bei RVCL‑S proinflammatorisch und obstruktiv wirkt, verhindern soll [5]. Die Ergebnisse dieser Studie stehen noch aus.

Fazit für die Praxis

  • Bei okklusiver Vaskulitis und neurologischer Beteiligung sowie Malresponse auf Immunsuppression sollten im Rahmen der erweiterten Abklärung eine genetische Ursache und entsprechende Diagnostik in Betracht gezogen werden.

  • Neben der TREX1-Mutation können Mutationen im CAPN5- und TNFAIP3-Gen ursächlich für eine retinale Vaskulitis sein.

  • Sinnvoll ist bei entsprechendem Verdacht auch die Identifikation möglicher betroffener Angehöriger.