Hintergrund

Im Jahr 2020 wurden in Deutschland sowie in der Mehrheit der Länder weltweit aufgrund der Coronavirus-Krankheit 2019(COVID-19)-Pandemie mehrere soziopolitische und gesundheitliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eingeführt. Gesetzlich angeordnete Ausgangsperren und Geschäftsschließungen sowie weitere Anordnungen sollten große Menschenansammlungen verhindern [7]. Aus diesen Maßnahmen ergab sich ein breites Effektspektrum auf allen sozioökonomischen Ebenen [18, 20].

Im Gesundheitswesen führte dies zu einer Reduzierung der Fallzahlen und -typen sowie zu Verzögerungen bei Behandlungen im Vergleich zum typischen klinischen Alltag [1, 21]. Selbst die Morbidität der akut an SARS-CoV‑2 („severe acute respiratory coronavirus type 2“) erkrankten Patienten sprach für Verzögerungen bei operativen Maßnahmen, da ein erhöhtes Mortalitätsrisiko nachgewiesen wurde [2]. Die Effekte dieses Phänomens wurden in mehreren Studien verschiedener medizinischer Fachrichtungen erforscht, um diese Beobachtungen objektiv zu untermauern [11, 16, 21]. Auch in der Augenheilkunde mussten vereinbarte Termine und elektive operative Eingriffe verschoben werden [12, 15]. Eine Analyse des Effekts dieser Maßnahmen auf die Behandlung von ophthalmologischen Patienten mit einer Indikation zur Enukleation wurde bis jetzt nicht durchgeführt.

Daher wurde diese Studie mit dem Zielkriterium definiert, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Enukleationsrate in Deutschland zu bestimmen und zu analysieren. Die Enukleationsrate in Deutschland und die entsprechenden Indikationsdiagnosen der Jahre 2020 und 2019 wurden hierfür miteinander verglichen. Sekundäre Zielkriterien waren die Analyse der verschiedenen Krankheitsgruppen, die als Indikation für eine Enukleation festgelegt wurden, sowie die Analyse der unterschiedlichen Operationstechniken.

Methoden

Die Zahl der Enukleationen der Jahre 2019 und 2020 in Deutschland wurde aus dem internationalen öffentlichen Diagnosis Related Group(DRG)-Register [6], der aktuellen standardisierten Kodierungsdatenbank für Deutschland, exportiert. Verwendet wurden die Prozedurenschlüssel für Enukleationen 5‑163.0 bis 5‑163.23 und 5‑163.x. Diese Daten wurden verglichen und statistisch ausgewertet.

Berücksichtigung fand die Gesamtzahl der Enukleationen beider Jahre. Für 2019 und 2020 wurde eine Liste der registrierten Diagnosen erstellt. Waren mehrere unterschiedliche Diagnosen in einem Fall dokumentiert, wurde die erstgenannte Diagnose als Hauptdiagnose übernommen, und die weiteren Nebendiagnosen wurden für die anschließende Analyse gesichtet. Darüber hinaus wurde die heterogene Diagnoseliste zu vereinfachten Gruppen klassifiziert, um für die sekundären Zielkriterien eine Analyse der Hauptindikation für eine Enukleation zu erstellen und um die Natur der in solchen Fällen beteiligten Krankheiten besser zu verstehen.

Die erhaltenen Informationen wurden anschließend mit der Datensoftware (Microsoft Excel) aufbereitet und statistisch ausgewertet.

Ergebnisse

Die Anzahl der Enukleationen zeigte eine Verringerung um 16,6 % von 1295 Fällen im Jahr 2019 auf 1080 Fälle im Jahr 2020 (p = 0,17). In beiden Jahren waren durchschnittlich 54,1 % der Fälle Männer. Die Altersverteilung blieb in beiden Jahren statistisch unverändert, wie in Abb. 1 dargestellt.

Abb. 1
figure 1

Altersgruppen

Patienten, die älter als 65 Jahre waren, machten 53 % der Fälle im Jahr 2019 bzw. 56 % der Fälle im Jahr 2020 aus. Die Untersuchung der unterschiedlichen Diagnosen ergab, dass die häufigste Indikation zur Enukleation in beiden Jahren Phthisis bulbi (n = 373 bzw. n = 307) mit einem Anteil von 29,7 % (2-Jahre-Durchschnitt) war, gefolgt von Malignitäten der Aderhaut (23,8 %). Die häufigsten Hauptdiagnosen, die als Indikation zur Enukleation dokumentiert wurden, sind in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Inzidenzrate der Hauptdiagnosen

Für eine Darstellung des Gesamtspektrums der Indikationen für eine Enukleation, wurden alle Hauptdiagnosen in die folgenden Gruppen eingeteilt: Endophthalmitis, Neoplasie, Bulbusruptur, Glaukom, Hornhautdegeneration und Phthisis bulbi. Einige Diagnosen wiesen leichte Überschneidungen auf, die gemeldete Hauptdiagnose wurde in solchen Fällen als Klassifizierungskriterium betrachtet. Die allgemeine Prävalenz jeder Gruppe in den Jahren 2019 und 2020 ist in Tab. 2 dargestellt. Die Auswertung der Gruppen zeigte keine Zunahme oder Abnahme der Prävalenz von mehr als 2,0 % zwischen beiden Jahren.

Tab. 2 Prävalenzrate der Kategorien

Statistisch unterschieden sich die in beiden Jahren angewandten Operationstechniken nicht. Die Enukleation mit gleichzeitigem Einbringen eines alloplastischen Augenhöhlenimplantats in die Tenonkapsel stellte das häufigste Verfahren dar (38,7 % kombinierter 2‑Jahres-Durchschnitt), gefolgt von einer umhüllten Variante (26,6 %) und bulbären Implantaten aus nichtresorbierbaren mikroporösen Materialien (16,8 %), ohne signifikante Veränderung zwischen den Jahren.

Enukleationen ohne Implantation stiegen von 7,8 % im Jahr 2019 auf 11,1 % im Jahr 2020 (p = 0,006). Der Anteil der Patienten, die sich einer Reoperation unterziehen mussten, stieg leicht von 5,6 auf 8 % (p = 0,018). In beiden Jahren wurden die meisten Eingriffe unter öffentlichem tertiärem Krankenhausniveau (2-Jahres-Durchschnitt 65,6 %) mit ≥ 1000 Betten durchgeführt.

Diskussion

Die Zahl der Enukleationen blieb im Zeitraum der Jahre 2019 und 2020 stabil. Wie auch in anderen Ländern ist der leichte Rückgang am ehesten mit nicht notfallmäßigen oder lebensbedrohlichen Krankheitsbildern, deren Behandlung verschoben werden konnte, zu erklären [19]. Während beider Jahre zeigte sich nach dem 60. Lebensjahr ein Anstieg der Prävalenz. Die Indikationen für eine Enukleation sind degenerative oder neoplastische Augenerkrankungen, die in der Regel nicht anders behandelt werden können. Solche Pathologien treten häufiger nach dem 60. Lebensjahr auf [8]. Diese Tendenz, die in beiden untersuchten Jahren unverändert blieb, erklärt, weshalb die Hälfte der in dieser Studie beobachteten Fälle 65 Jahre und älter war [6].

Bei der Gruppierung der Hauptdiagnosen der Enukleationsfälle ergab sich im Jahresvergleich praktisch keine Veränderung, und die Prävalenz betrug weniger als 2 % in allen analysierten Clustern. Das lässt sich damit erklären, dass bisher kein direkter pathophysiologischer Mechanismus gefunden wurde, der eine COVID-19-Infektion mit einer ophthalmologischen Erkrankung in Verbindung bringt, die eine Enukleationsindikation auslösen würde [3, 17]. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie wurden mehrere Studien zur Untersuchung eines möglichen Zusammenhangs zwischen einer SARS-CoV-2-Infektion und Augenerkrankungen durchgeführt. Eine Bindehautbeteiligung durch die Krankheit wurde eindeutig festgestellt, was weitere diagnostische Tests förderte [13, 14]. Auch die gemeinsame Expression von Enzymmarkern, die am pathogenetischen Mechanismus während des Viruseintritts in Bindehautgewebe und bei neoplastischen Bindehautpathologien beteiligt sind, bestätigten weitere immunhistochemische Studien [5, 9]. Bisher wurde jedoch kein direkter Zusammenhang zwischen einer SARS-CoV-2-Augeninfektion und einem erhöhten Risiko für ophthalmologische Neoplasien festgestellt [4, 5].

Betrachtet man jedoch allein die Inzidenzrate der Hauptdiagnosen, zeigten die Fälle starke Schwankungen. Vor allem penetrierende Verletzungen und Bulbusrupturen waren 2020 im Vergleich zu 2019 stark rückläufig. Dieses Phänomen spricht wahrscheinlich für weniger Traumata und Bulbusverletzungen während der Pandemie. Im Gegensatz dazu erhöhte sich der prozentuale Anteil bösartiger Tumoren, v. a. des Ziliarkörpers, als Indikation für eine Enukleation im Jahr 2020. Fast alle analysierten Hauptdiagnosen gingen 2020 im Vergleich zu 2019 stark zurück. Ausnahmen, die eine Zunahme der Inzidenz zeigten, waren retinale Neoplasien (2,0 %), eitrige Endophthalmitis (10,0 %) und Ziliarkörperneoplasien (81,5 %).

Dieses Ergebnis lässt vermuten, dass Neoplasien aufgrund der Verschiebung von Enukleationen bei nicht lebensbedrohlichen oder organbedrohenden Augenpathologien im Jahr 2020 häufiger als Hauptdiagnose bei Enukleationsfällen erfasst wurden.

Die verwendeten Enukleationstechniken zeigten in beiden Jahren fast keine Änderung. Die Zunahme der Eingriffe ohne gleichzeitige Anwendung eines Implantats ist wahrscheinlich auf mehrere Gründe zurückzuführen: zum einen auf die häufigere Behandlung neoplastischer Fälle mit ausgedehnten Gewebeexzisionen und zum anderen auf die eingeschränkte Verfügbarkeit qualifizierten Personals. Die meisten chirurgischen Techniken wie die Verwendung eines autologen Implantats erfordern längere Operationszeiten und ein komplexes postoperatives Wundmanagement durch erfahrene Chirurgen [8]. Negative Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Krankenhausversorgung waren weltweit angespannte Gesundheitssysteme und unzureichende personelle Ressourcen [10].

Abgesehen von einem leichten Rückgang der Gesamtzahl der durchgeführten Eingriffe zeigte die epidemiologische Statistik der Enukleationsfälle in Deutschland keine signifikante Beeinflussung durch die COVID-19-Pandemie. Choroidale Neoplasien und Endophthalmitiden nahmen als Indikation zur Enukleation im Jahr 2020 signifikant zu. Die Rate von Enukleationen ohne Implantate und der Zahl von Reoperationen nahm signifikant zu.

Fazit für die Praxis

  • Die Enukleationsrate ist durch die COVID-19-Pandemie nur leicht und nicht signifikant gesunken.

  • Choroidale Neoplasien und Endophthalmitiden nahmen als Indikation zur Enukleation in 2020 signifikant zu.

  • Die Enukleationsrate ohne Implantate und Reoperationen nahm signifikant zu.