Anamnese

Wir berichten über ein 5‑jähriges Mädchen, das am 28.02.2021 mit einem Schaschlikspieß ihre Gummistiefel putzen wollte. Mit dem Spieß in der Hand stolperte sie und fiel mit dem Gesicht darauf. Der Spieß blieb neben dem rechten Auge stecken. Die Mutter, Fachärztin für Anästhesiologie, beließ das Objekt an Ort und Stelle. Es folgte eine sofortige notärztliche Einweisung in das Universitätsklinikum Ulm.

Befund

Die Erstuntersuchung der Patientin erfolgte liegend. Die Patientin war ruhig, somnolent und nicht ansprechbar. Es zeigte sich am medialen Lidwinkel parabulbär eine ca. 4 cm herausstehende Spitze eines Holzspießes (Abb. 1). Der Bulbus war in Adduktionsstellung.

Abb. 1
figure 1

Initialer Befund in Narkose (Portraitfoto von rechts): Der Fremdkörper mit Eintrittsstelle am medialen Lidwinkel ca. 4 cm herausstehend

Diagnose

Transorbitale Spießungsverletzung

Therapie und Verlauf

Interdisziplinär wurde eine Computertomographie (CT) durchgeführt. Die CT zeigte ein längliches, nicht röntgendichtes Material medial des rechten Bulbus ohne Zeichen einer Bulbusverletzung. Die Spitze des Spießes stellte sich ca. 2,5 cm dorsal der Orbitaspitze dar (Abb. 2a–d). Eine erneute interdisziplinäre Absprache führte zu dem Entschluss, den Fremdkörper in Intubationsnarkose (ITN) und Magnetresonanztomographie(MRT)-Bereitschaft zu bergen. Nach Zug des Schaschlikspießes (Abb. 3) entwickelten sich eine akute retrobulbäre Blutung sowie eine deutliche Lidspannung. Eine laterale Kanthotomie und Kanthopexie führte zu einer deutlichen Dekompression. Klinisch zeigten sich jetzt eine Anisokorie rechts > links sowie lichtstarre Pupillen. Die durchgeführte MRT zeigte eine rechtsbetonte zerebrale Diffusionsstörung sowie Anteile einer Subarachnoidalblutung und eine dezente Mittellinienverlagerung nach links. Eine Verletzung von großen zerebralen Arterien wurde ausgeschlossen. Nach 2 h waren die Pupillen wieder isokor und lichtreagibel. Aufgrund der Diffusionsstörungen, welche am ehesten als Korrelat eines Krampfanfalls zu werten waren, wurde in der Zusammenschau die Diagnose eines epileptischen Anfalls gestellt. Nach Anlage einer Hirndrucksonde wurde die Patientin auf der Intensivstation überwacht. Eine Antibiose mit Meropenem und Vancomycin wurde bei hohem Infektionsrisiko angesetzt und eine antikonvulsive Medikation mit Levetiracetam begonnen. Am Folgetag konnte die Patientin extubiert und die Hirndrucksonde gezogen werden. Die Pupillen waren beidseits prompt lichtreagibel und isokor. Der Augendruck war mit 24 mm Hg am rechten Auge leicht erhöht. Der vordere Augenabschnitt war bis auf eine Affektion des Canaliculus inferior und ein Hyposphagma nasal unauffällig. Der laterale Kanthus war nach Kanthotomie reizfrei. Fundoskopisch zeigten sich in Miose am rechten Auge eine parapapilläre Blutung sowie eine Papillenschwellung. Das Kind konnte auf Normalstation verlegt werden. Im stationären Verlauf zeigte sich bei der jungen Patientin eine Hemiparese links. Ein zunächst angenommener Status epilepticus wurde neuropädiatrisch mittels Elektroenzephalographie (EEG) ausgeschlossen. Am 05.03.2021 erfolgte eine Tränenwegsrekonstruktion mit lateraler Kanthoplastik in ITN. Fundoskopisch war ein beidseitiges Papillenödem mit parapapillären Blutungen ersichtlich. Am zweiten Tag nach Operation zeigte sich eine Esotropie. Bei Verdacht auf neu aufgetretene Abduzensparese erfolgte eine MRT-Untersuchung. Es wurden neue Diffusionsstörungen festgestellt. Im weiteren stationären Verlauf durchgeführte EEG erbrachten schließlich eine Befundbesserung. Am 16.03.2021 war die Patientin zu allen Qualitäten orientiert mit altersentsprechender Artikulation. Eine MRT vom 19.03.2021 zeigte insgesamt eine Regredienz des Kortexbefundes. Ein EEG zeigte auch nach Reduktion der antiepileptischen Therapie keine epilepsietypischen Potenziale. Die augenärztliche Untersuchung bei Entlassung zeigte rechts ein leichtes Abduktionsdefizit. Ein seitengleicher Visus von 0,8 konnte dargestellt werden. Fundoskopisch zeigten sich weiterhin parapapilläre Blutungen sowie eine Papillenschwellung (Abb. 4). Das Mädchen konnte am 28.03.2021 in gutem Allgemeinzustand und kontaktfreudig mit guter Artikulation und guter Erholung der initialen Hemiparese in die ambulante Betreuung entlassen werden.

Abb. 2
figure 2

Magnetresonanztomographie (MRT), Orbita und Cerebrum rechts. ab T1-MRT-Sequenz, Transversalebene: medial parabulbär verlaufender Schaschlikspieß (rote Pfeile). Nach Durchspießen des M. rectus medialis von ventral zwischen Muskel und Bulbus oculi nach intrakonal durch den Orbitatrichter verlaufend und Durchtreten durch die Fissura orbitalis superior nach intrakraniell rechts temporal. Spitze reicht an Temporalhorn heran. c T2-MRT-Sequenz, Koronarschnitt: Spieß parabulbär steckend (roter Pfeil), Bulbus intakt. d T2-MRT-Sequenz, Koronarschnitt: Spieß intrakraniell rechts temporal (roter Pfeil)

Abb. 3
figure 3

Schaschlikspieß aus Holz nach Zug. Etwa 7 cm nach retrobulbär. Gesamtlänge ca. 11 cm

Abb. 4
figure 4

Fundusweitwinkelaufnahme vor Entlassung, rechtes und linkes Auge: leichte Papillenschwellung sowie retinale und parapapilläre Blutungen

Diskussion

Die weltweite jährliche Inzidenz kindlicher Augentraumata wird auf 9 bis 15 Fälle pro 100.000 Einwohner geschätzt [4]. Diese Unfälle sind bei Kindern die Hauptursache für erworbene monokulare Visusdefizite bis hin zur vollständigen Erblindung [1]. Kleine Kinder (Alter < 5 Jahre) sind am häufigsten Augentraumata ausgesetzt, welche zu einer Visusminderung führen können [7]. Auch haben Kinder ein höheres Risiko für bestimmte Arten von Spießungsverletzungen, die bei Erwachsenen selten vorkommen. Spießungen z. B. des weichen Gaumens und des Oropharynx sind Verletzungen, die entstehen, wenn Kinder fallen, während sie Gegenstände halten [5]. Eine transorbitale Spießungsverletzung durch hölzernen Fremdkörper ist eine seltene klinische Situation [6, 10]. Derselbe Mechanismus stellt sich auch bei oben beschriebenem Fall dar. Obwohl sich transorbitale Schädel-Hirn-Verletzungen dramatisch darstellen können, sind viele Verletzungen subtil und können zunächst verborgen bleiben [9, 10]. Intrakranielle Verletzungen können bei geringfügigen periorbitalen Traumata auftreten, ohne dass eine knöcherne Verletzung vorliegt. Die Sklera und die Beweglichkeit des Bulbus schützen ihn vor Gegenständen, die mit geringer Geschwindigkeit auf ihn treffen. Die horizontale Pyramidenform der Orbita lenkt eindringende Objekte zu ihrem Scheitelpunkt hin ab. Der Bulbus wird oft zur Seite geschoben, wenn der Fremdkörper die Orbita durchquert [10]. Dieses Phänomen gilt möglicherweise nicht für Hochgeschwindigkeitsverletzungen [2]. Auch hat die Form des Objektes einen klaren Einfluss. Wenn das eindringende Ende des Objektes spitz ist, kann das Ergebnis eine unauffällige, schlitzartige Einstichwunde sein, während ein stumpfes Ende eine Risswunde mit unregelmäßigen, gequetschten Kanten erzeugt. Dies hätte bei oben genanntem Eintrittsweg fatale Folgen mit sich gebracht [8]. Die Tatsache, dass die Patientin am Ort des Geschehens nicht das Bewusstsein verloren hatte, ist für Spießungen und andere Penetrationen der Schädelhöhle nicht ungewöhnlich [8]. Letale Folgen nach transorbitalen Verletzungen sind möglich und meist Folge einer verzögerten intrazerebralen Komplikation (infektiös, vaskulär oder neurologisch) [6]. Bei Spießverletzungen sollte nicht versucht werden, den Gegenstand an der Unfallstelle zu entfernen, da dies zu unkontrollierten Blutungen oder zusätzlichen Gewebeschäden führen kann. Bill beobachtete bereits 1862 einen besseren klinischen Verlauf, wenn Pfeile am Verletzungsort zunächst nicht gezogen wurden [3]. Der Eintritt über den medialen Kantus scheint der häufigste Eintrittsweg bei transorbitalen Spießverletzungen zu sein [10]. Der von uns dargestellte Fall stützt die Angaben der Literatur, welche für den angegebenen Eintrittsweg eine hohe Wahrscheinlichkeit für konsekutive kraniale Pathologien beschreibt. Werden intrakranielle Komplikationen nicht erkannt, kann dies zu erheblicher neurologischer Morbidität, Sehverlust und sogar zum Tod führen [10]. Eine hohe Wachsamkeit und das Wissen um häufig wiederkehrende Verletzungsmuster können helfen, Verzögerungen bei der richtigen Diagnose und Behandlung von penetrierenden orbitokranialen Verletzungen zu vermeiden.

Fazit für die Praxis

  • Hinter subtilen äußeren Verletzungsmustern können sich bei transorbitalen Spießverletzungen gravierende Folgen verbergen. Besonders ist dabei auf Verletzungen mit medialem kantalem Verletzungsmuster zu achten.

  • Die Dimension einer transorbitalen Spießverletzung zeigt sich häufig erst nach Zug des Objektes.

  • Bei transorbitalen Spießverletzungen sollte der Zug des Objektes an einem Zentrum mit der Möglichkeit einer multimodalen, orbitalen und zerebralen Bildgebung sowie einer interdisziplinären Behandlungsmöglichkeit erfolgen.