Falldarstellung

Anamnese

Eine 40-jährige Mutter stellte sich mit akuter Visusminderung seit 2 h am rechten Auge vor. Am linken Auge war 2015 eine Prästase aufgetreten und eine Hyperlipoproteinämie A bekannt. Sie hatte vor 3 Wochen entbunden und stillte.

Klinischer Befund

Der Visus lag bei cc 0,05 rechts und 0,9 links. Die vorderen Augenabschnitte waren reizfrei. Am Fundus fand sich eine randunscharfe Papille rechts mit Streifenblutungen entlang der Gefäßbögen, gestauten Venen und flächenhaft Blutungen (Abb. 1). Links fand sich ein Normalbefund.

Abb. 1
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Fundusfoto rechtes Auge, Streifblutungen entlang der Gefäßbögen, Cotton-wool-Spots, gestaute Venen. (Klinikum rechts der Isar)

Diagnostik

Das SD-OCT (Spectral-Domain-optische Kohärenztomographie) zeigte ein Makulaödem mit „prominent middle limiting membrane“ rechts (Abb. 2). Links war die foveale Depression normal.

Abb. 2
figure 2

Nahinfrarotaufnahme und SD-OCT rechtes Auge, Makulaödem und PMLM (blauer Pfeil). (Klinikum rechts der Isar)

Wir empfahlen bei venösem Verschluss mit Makulaödem eine intravitreale Therapie (IVT) mit Anti-VEGF („vascular endothelial growth factor“) nach Abstillen und die Abklärung der Hyperlipidämie A und kardiovaskulärer Risiken.

Therapie und Verlauf

Die Patientin stellte sich wieder zur Nutzen-Risiko-Abwägung der IVT mit Anti-VEGF vor. Wir rieten mit dem Gynäkologen zu Ranibizumab (Lucentis®, Novartis), die Patientin sollte weiter Stillen. Eine Woche nach IVT zeigte sich eine Verbesserung (Abb. 3). Die Patientin bekam vom Gynäkologen eine Thromboseprophylaxe mit Heparin bei Thromboseneigung, Labortests und Blutdruckmessungen waren unauffällig.

Abb. 3
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Nahinfrarotaufnahme und SD-OCT rechtes Auge am 5. Tag nach 1. IVT mit Ranibizumab. (Klinikum rechts der Isar)

Vier Wochen nach 1. IVT lag der Visus rechts bei 0,25. Im SD-OCT fand sich eine Zunahme des Makulaödems (Abb. 4), weshalb die IVT mit Ranibizumab nach „treat and extend“ fortgeführt wurde.

Abb. 4
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Nahinfrarotaufnahme und SD-OCT rechtes Auge 4 Wochen nach 1. IVT mit Ranibizumab. (Klinikum rechts der Isar)

Zwei Wochen nach der 2. IVT lag der Visus bei 0,8, und das Makulaödem ging zurück. Vier Wochen später lag der Visus bei 0,2 mit Zunahme der intraretinalen Flüssigkeit. Es folgte eine erneute IVT. Nach 6 Wochen lag der Visus wieder bei 0,7. Es erfolgte eine erneute IVT. Dann wurden die Abstände nach „treat and extend“ verlängert. Neun Monate nach Therapiebeginn betrug der Visus 0,8 bei einem Intervall von 12 Wochen. Die Mutter hatte nun abgestillt. Es erfolgten eine weitere IVT und Termin in 14 Wochen.

Diskussion

VEGF ist ein Regulator der Vaskulo-, der Angio- und der Lymphangiogenese. Über die Jahre hat sich die IVT mit Anti-VEGF bei Netzhauterkrankungen etabliert [1].

Es gibt keine Leitlinie für die IVT in der Stillzeit. Die Muttermilch enthält viele Wachstumsfaktoren (z. B. VEGF-A) in höheren Konzentrationen als im Plasma, die für die Entwicklung des Säuglings wichtig sind [2]. Man weiß nicht, wie viel intravitreales Anti-VEGF in der Muttermilch akkumuliert und welche Folgen das hat, daher werden VEGF-Hemmer bei stillenden Müttern nicht empfohlen.

Bevacizumab hat durch die Bindung an den Fc-Rezeptor die längste systemische Halbwertszeit nach IVT. Bevacizumab ist ein 149 kDa großer, bivalenter monoklonaler Antikörper, der mehrere VEGF-A-Isoformen bindet. Es beeinflusst den VEGF-A-Spiegel im Serum und in der Muttermilch, kann aber nicht in der Muttermilch nachgewiesen werden. Aflibercept ist ein 115-kDa-Fc-Fusionsprotein mit intakter Fc-Region. Aflibercept gelangt in die Muttermilch und senkt den VEGF-A-Spiegel. Ranibizumab ist ein 48 kDa monovalentes monoklonales Antikörperfragment (Fab), das ohne die Fc-Domäne entwickelt wurde. Es hat eine kürzere Halbwertszeit als Bevacizumab und Aflibercept, geht auch in die Muttermilch und senkt den VEGF-A-Spiegel [2].

Juncal et al. konnten die Konzentrationen von Ranibizumab und Aflibercept und ihre Wirkung auf den VEGF-A-Spiegel in Muttermilch von 3 stillenden Müttern nach IVT messen. Ranibizumab und Aflibercept erreichten die Muttermilch mit einer Senkung der VEGF-A-Spiegel nach IVT. Der Nachweis von Ranibizumab hing davon ab, ob die Mutter kontinuierlich stillte. Bei einer Frau, die abstillte, gelangte der Wirkstoff weiterhin in die Muttermilch und reicherte sich über Tage an. Bei kontinuierlichem Stillen, waren Proben unter der Nachweisgrenze, weil das Arzneimittel mit der Muttermilch ständig ausgeschieden wird und sich nicht anreichern konnte [3]. Ähnliches berichten McFarland et al. zu Bevacizumab. Sie fanden, dass IVT nicht zum Nachweis von Bevacizumab in der Muttermilch führte [3]. Man glaubt, dass Ranibizumab und Aflibercept als kleine Moleküle leichter in die Muttermilch übergehen [4].

Von Ehlken et al. wurde bei einer Mutter, die ihren 12 Wochen alten Sohn stillte, eine choroidale Neovaskularisation am linken Auge mit IVT Bevacizumab behandelt. Der VEGF-A-Spiegel in der Muttermilch sank nach 2 Wochen um 35 % und stieg nur langsam wieder an. Nach 8 Wochen erfolgte eine 2. IVT mit Ranibizumab, 4 Tage danach sank der VEGF-A-Spiegel nur um 10 % und begann nach 3 Tagen wieder zu steigen [5].

Daten zu Serumkonzentrationen von Anti-VEGF bei gestillten Kindern gibt es nicht. Von allen Anti-VEGF besitzt nur Ranibizumab 0,2 mg eine Zulassung zur IVT der Frühgeborenenretinopathie [6]. Fidler et al. (RAINBOW Study) zeigten, dass nach bilateraler IVT mit Ranibizumab bei Neugeborenen die Halbwertszeit im Auge etwa 5,6 Tage und im systemischen Kreislauf 0,3 Tage beträgt. Die Ranibizumab-Konzentrationen waren höher als bei Erwachsenen, was mit dem unterschiedlichen Verhältnis des Augenvolumens zum Körpergewicht zusammenhängt. Es wurde aber keine klare Senkung der plasmafreien VEGF-Spiegel beobachtet [7]. Es gibt keine Hinweise auf eine Entwicklungsstörung der Kinder bis zum 2. Lebensjahr [8].

Nach Datenlage entschieden wir, bei unserer Patientin die IVT mit Ranibizumab einzuleiten und unter kontinuierlichem Stillen fortzuführen, da bei Konzentrationen unter der Nachweisgrenze in der Muttermilch keine schädigende Wirkung im Säugling zu erwarten ist.

Letztlich lässt sich sagen, dass Ranibizumab, Aflibercept und Bevacizumab nach IVT in die Muttermilch ausgeschieden werden, was zu einem Rückgang der VEGF-A-Spiegel führt. Aber das freie Ranibizumab bleibt in der Muttermilch bei kontinuierlichem Stillen unterhalb der Nachweisgrenze [2].

Fazit für die Praxis

  • Es gibt keine Leitlinien für die Anwendung von Anti-VEGF in der Stillzeit.

  • Ranibizumab, Aflibercept und Bevacizumab gelangen nach IVT in die Muttermilch und senken den VEGF-A-Spiegel in der Muttermilch.

  • Freies Ranibizumab und Bevacizumab bleiben in der Muttermilch bei kontinuierlichem Stillen unterhalb der Nachweisgrenze.

  • Ein Makulaödem kann bei kontinuierlichem Stillen mit Anti-VEGF in Absprache mit den Gynäkologen behandelt werden.