Hintergrund

Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (ADC) sind eine relativ neue Wirkstoffklasse und eröffnen hochspezifische Therapieoptionen insbesondere in der Tumortherapie. Zu den häufigeren Nebenwirkungen, die je nach Medikament in unterschiedlicher Ausprägung auftreten, zählen Keratopathien, insbesondere in Form von mikrozystenähnlichen Epithelveränderungen („microcyst-like epithelial changes“ [MEC]) [1].

Belantamab Mafodotin wurde als erster Anti-B-Zell-Reifungsantigen(BCMA)-Antikörper im Jahr 2020 von der EMA bedingt zugelassen und kann seitdem bei Patienten mit therapierefraktärem oder rezidivierendem multiplem Myelom eingesetzt werden.

Es besteht aus einem humanisierten monoklonalen IgG-Antikörper, der an das BCMA, einen insbesondere auf der Zellmembran von malignen Plasmazellen exprimierten Zellmembranrezeptor, bindet. An den Antikörper ist die zytotoxische Substanz Monomethyl Auristatin F gekoppelt, die nach Internalisierung in die Zielzelle durch Störung des Mikrotubulinetzwerkes zur Apoptose der betroffenen Zelle führt [2, 3].

In den Zulassungsstudien traten bei bis zu 72 % der behandelten Patienten MEC der Hornhaut auf, die zu unterschiedlich starken Visusverschlechterungen führten [2]. Die Pathophysiologie dieser Nebenwirkung ist noch ungeklärt, ein Zusammenhang mit der Dosierung des Medikamentes scheint zu bestehen [2]. Diskutiert wird die Aufnahme des Wirkstoffes in die Limbusstammzellen der Cornea durch einen sog. Off-Target-Mechanismus, also unabhängig vom Vorhandensein der Zielstruktur des Antikörpers. Infolgedessen könnte es zu einer verkürzten Lebensdauer der Epithelzellen und zur Entstehung von MEC kommen [2, 9]. Das Auftreten von MEC ist ein potenziell limitierender Faktor der Therapie mit Belantamab Mafodotin. Daher kann die Einschätzung des Ophthalmologen ausschlaggebend für die Fortführung oder Unterbrechung der weiteren Therapie sein [4].

Anamnese

Ein 64-jähriger Patient stellte sich im Rahmen der ophthalmologischen Kontrollen unter Belantamab Mafodotin bei systemischer Leichtkettenamyloidose vom Typ Lambda auf dem Boden eines rezidivierenden multiplen Myeloms vor. Das Medikament wird bei Patienten mit Leichtkettenamyloidose im Rahmen einer klinischen Studie geprüft (NCT04617925).

Vor Therapiebeginn mit Belantamab Mafodotin bestanden keine okulären Beschwerden. Vorerkrankungen der Augen wurden verneint.

Es erfolgte die Therapie mit Belantamab Mafodotin in der empfohlenen Dosis von 2,5 mg/kgKG. Die empfohlene Prophylaxe mit Systane ultra Augentropfen wurde regelmäßig und täglich appliziert.

Sechs Wochen nach Therapiebeginn kam es zur ersten Vorstellung unter Therapie. Der Patient berichtete von bereits kurz nach Therapiebeginn aufgetretenem Trockenheits- sowie Fremdkörpergefühl und Jucken an beiden Augen (L > R). Dies wurde mit Tränenersatzmittel in zweistündlicher Applikation behandelt und war darunter nicht progredient.

Vor zwei Wochen habe sich das Sehen beidseits innerhalb weniger Tage deutlich bis hin zur Leseunfähigkeit verschlechtert. Okuläre Schmerzen bestanden nicht, ein leichtes Jucken der Augenoberfläche blieb hingegen bestehen. Dieser Zustand war bis zum Zeitpunkt der Vorstellung unverändert.

Befund

In der spaltlampenmikroskopischen Untersuchung zeigte sich vor Therapiebeginn ein regelrechter morphologisch-ophthalmologischer Befund mit bestkorrigiertem Fernvisus (4 m, ETDRS-Tafeln) von 1,0 dezimal beidseits.

Sechs Wochen nach Therapiebeginn bestätigte der korrigierte Fernvisus das subjektive Empfinden des Patienten: Mit 0,5 dezimal beidseits zeigte sich eine deutliche Visusminderung verglichen mit dem Visus vor Therapiebeginn.

In der Spaltlampenuntersuchung zeigten sich beidseits parazentrale inferior betonte mikrozystisch anmutende epitheliale Veränderungen der Hornhaut bei geschlossenem Hornhautepithel, ohne Haze und ohne Infiltrate bzw. ein an der Spaltlampe sichtbares Ödem (Abb. 1). Noch deutlicher wurden die epithelialen Veränderungen in Retroillumination sichtbar (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Übersichtsaufnahme des Vorderabschnittsbefundes des rechten Auges. Parazentral, betont inferior sind die MEC zu erkennen (Pfeile)

Abb. 2
figure 2

Aufnahme der Hornhaut des rechten Auges in Retroillumination. Hier wird die Verteilung und Ausprägung der MEC noch deutlicher sichtbar

Die Vorderkammer sowie der Fundus waren aufgrund der MEC nur eingeschränkt beurteilbar, die optische Kohärenztomographie (OCT) der Makula und der Papille zeigten keine Auffälligkeiten.

In der Swept-source-Vorderabschnitts-OCT (Anterion, Heidelberg-Engineering, Heidelberg, Deutschland) zeigten sich eine Verdickung des Epithels auf ca. 106 µm (Abb. 3) sowie multiple intraepitheliale hyperreflektive Einlagerungen (Abb. 3), deren Lokalisation sich mit den MEC deckte.

Abb. 3
figure 3

Swept-source-Vorderabschnitts-OCT des rechten Auges. Deutlich zu erkennen sind die Zunahme der Epitheldicke und die hyperreflektiven epithelialen Einlagerungen (exemplarisch mit Pfeil markiert), die den MEC entsprechen

Diagnose

Parazentrale mikrozystenähnliche Epitheliopathie Grad 2 bei Therapie mit Belantamab Mafodotin.

Therapie und Verlauf

Mit dem Behandlungsbeginn wird unabhängig von okulären Symptomen die Applikation von Tränenersatzmitteln mindestens 4‑mal täglich empfohlen [4].

Die Frequenz der Tränenersatzmittelapplikation war bereits kurz nach Therapiebeginn bei unserem Patienten aufgrund der beschriebenen Symptomatik auf zweistündlich erhöht worden.

Bei einer moderaten Keratopathie und einem Visusverlust von 3 Zeilen handelte es sich bei diesem Patienten um den Grad 2 der Keratopathy and Visual Acuity(KVA)-Skala (Tab. 1), sodass laut der aktuellen Empfehlung mit der nächsten Gabe Belantamab Mafodotin abgewartet werden sollte, bis sich die Befunde der Hornhaut und der bestkorrigierte Visus mindestens zu Grad 1 gebessert haben. Eine Wiederaufnahme der Therapie wäre in diesem Fall erneut in der Zieldosierung von 2,5 mg/kgKG möglich [2, 4].

Tab. 1 KVA-Skala: Leitfaden zur Klassifizierung und Therapieanpassung bei Belantamab Mafodotin-assoziierter Keratopathie [2, 4]

Zwei Wochen nach der Erstdiagnose der Keratopathie und insgesamt 8 Wochen nach erstmaliger Gabe von Belantamab Mafodotin stellte sich der Patient erneut zur Befundkontrolle bei uns vor. Er berichtete von einer leichten Verbesserung der Beschwerden, und die Epitheliopathie zeigte sich rückläufig. Der korrigierte Fernvisus war allerdings beidseits weiter reduziert (0,4 dezimal).

Ein Rückgang der MEC bei Dosisreduktion und/oder Intervallverlängerung der Therapie mit Belantamab Mafodotin ist zu erwarten [2, 4], sodass weitere Kontrollen in den nächsten Wochen und Monaten zur Befundevaluation folgen werden. Die Therapie im Rahmen des Studienprotokolls konnte allerdings nicht fortgesetzt werden.

Diskussion

Der hier vorgestellte Fall zeigt exemplarisch die okulären Nebenwirkungen von Belantamab Mafodotin. Bis zu 72 % der behandelten Patienten entwickeln MEC, Symptome wie verschwommenes Sehen und trockene Augen treten in 25 % und 15 % der Fälle auf [2].

Es wurden bereits einige Fälle von MEC in der englischsprachigen Literatur beschrieben [2, 5,6,7,8]. MEC werden hier als bilaterale, diffuse Epithelläsionen beschrieben, die im Verlauf von peripher nach zentral migrieren und inferior betont eine vortexähnliche Verteilung annehmen können [5, 6].

In der konfokalmikroskopischen Darstellung wurden sie als hyperreflektive epitheliale Einlagerungen beschrieben [7]. Diesen Eindruck können wir durch unsere Vorderabschnitts-OCT-Aufnahmen bestätigen.

Die aktuelle Empfehlung zur Behandlung der Belantamab Mafodotin-assoziierten Nebenwirkungen der Hornhaut orientiert sich an der Ausprägung der Keratopathie/MEC sowie der Visusminderung [4] und wird in der KVA-Skala zusammengefasst (Tab. 1).

Die therapeutischen Möglichkeiten beschränken sich dabei auf die Dosisanpassung und/oder Intervallverlängerung zwischen den Gaben von Belantamab Mafodotin. Bei besonders schwerer Ausprägung der Visusminderung und Keratopathie kann ein Therapieabbruch erwogen werden [2, 4]. Es hat sich gezeigt, dass MEC bei oben genanntem Vorgehen zurückgehen und eine Erholung der Sehschärfe zu erwarten ist [2].

Unterstützend wird die Gabe von Tränenersatzmitteln ab Beginn der Belantamab Mafodotin-Therapie empfohlen. Die Applikation von kortisonhaltigen Augentropfen hat bezüglich der Ausprägung von MEC bisher keinen Vorteil gezeigt. Daher gibt es aktuell keine Empfehlung zur Verwendung von topischen Steroiden [4, 9].

Das multiple Myelom ist eine unheilbare hämatoonkologische Erkrankung, deren Fortschreiten durch verschiedene Therapeutikaklassen verzögert werden kann. Mit Belantamab Mafodotin gibt es nun eine weitere Wirkstoffklasse, um dieses Ziel zu erreichen. Da die Ausprägung der okulären Nebenwirkungen und etwaige Visusminderungen einen relevanten Einfluss auf die Lebensqualität haben, ist hierbei eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung in enger Absprache zwischen den behandelnden Fachdisziplinen unabdingbar.