Hintergrund und Fragestellung

Amblyopie ist eine Störung des Formsehens im Sinne einer visuellen Verarbeitungsstörung [7, 8, 12]. Man unterscheidet zwischen der Suppressions- (z. B. bei Strabismus) und Deprivationsamblyopie, deren häufigste Ursache (asymmetrische) Refraktionsfehler sind [7, 9, 10, 12]. Selten ist die relative Amblyopie, der eine organische Pathologie zugrunde liegt [9, 12]. Die Prävalenz der Amblyopie in Deutschland ist mit 5,6 % vergleichsweise hoch [10]. Früh erkannt, kann die Amblyopie häufig effektiv behandelt und ihre Prävalenz gesenkt werden [9, 13]. Um eine Amblyopie zu diagnostizieren, erfolgt die Bestimmung der bestkorrigierten Sehschärfe mit Reihenoptotypen in Verbindung mit einer Untersuchung der Augen [16]. Dies ist aufwendig und die Bestimmung der Sehschärfe bei jungen Kindern nicht immer zuverlässig, weshalb der Erkennung von Risikofaktoren für eine Amblyopie mittels Screening eine besondere Bedeutung zukommt [8].

Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen findet ein kinderärztliches Amblyopiescreening ohne Refraktionsbestimmung in Zykloplegie statt [2]. Aufgrund der Akkommodation können hier Refraktionsfehler maskiert werden. Eine Hyperopie kann im Screening unter- und eine Myopie überschätzt werden [21]. Darüber hinaus ist die Prävalenz von Risikofaktoren für eine Amblyopie (ARF) mit 10–20 % höher als die der Amblyopie selbst [6, 8]. Dies hat hohe falsch positive Raten in Screenings (bis 18 %) und unnötige Überweisungen zum Augenarzt zur Folge [14].

In dieser Studie wurde untersucht, wie viele Kinder mit einem auffälligen Screening eine Untersuchung beim Augenarzt erhielten. Es wurden die Anteile der mit dem Plusoptix Autorefractor A09 (POA09, Plusoptix GmbH, Nürnberg) richtig erkannten und richtig ausgeschlossenen refraktiven ARF und die falsch negative Rate untersucht.

Design und Methoden

Diese prospektive Beobachtungsstudie wurde vom Augen-Zentrum-Nordwest (Ahaus, Deutschland) initiiert. Sie basiert auf einem Euregio-Projekt einer deutsch-niederländischen Kooperation zur Vorsorge von Sehstörungen und Sehschwächen, die deutschen Daten wurden ausgewertet. Die Rekrutierung in verschiedenen Kindergärten und Schulen erfolgte von 02/2012 bis 09/2015. Termine wurden mit Leiterinnen und Leitern der Kindergärten und Schulen vereinbart mit der Bitte um Anwesenheit der Sorgeberechtigten.

Zusätzlich wurde eine Referenzgruppe aus Kindern mit unauffälligem Screening mit dem POA09 untersucht (s. unten), wofür bei jedem Kind eine schriftliche Einverständniserklärung der Sorgeberechtigten vorlag. Das Kind musste den Untersucher aktiv fixieren, da dies Voraussetzung für ein aussagekräftiges Screening mit dem POA09 ist. Es wurden Kinder im Alter von 6 Monaten bis 12 Jahren eingeschlossen.

Messverfahren und Instrumente

Das Screening mit dem POA09 führte eine Orthoptistin durch. Der POA09 misst Refraktionsfehler beider Augen aus 1 m Abstand. Um die Aufmerksamkeit des Kindes zu erregen, werden Signaltöne ausgesendet [18]. Als auffällige Refraktionsfehler im Screening sowie in der Messung in Zykloplegie wurden die Kriterien der American Association for Pediatric Ophthalmology and Strabismus (AAPOS) verwendet [5]: Hyperopie ≥ 3,5 Dioptrien (D), Myopie ≥ 3,0 D, Anisometropie ≥ 1,5 D und Astigmatismus ≥ 1,5 D (90° oder 180° ± 10°) oder ≥ 1,0 D (≥ 10° Abweichung von 90° oder 180°). Für Hyperopie, Myopie und Anisometropie wurde das sphärische Äquivalent (SE) berechnet.

Bei Verdacht auf Refraktionsfehler wurde eine Vorstellung beim Augenarzt empfohlen. Die organische Untersuchung führte ein Augenarzt durch, die orthoptische Untersuchung eine Orthoptistin. Dies geschah mit zeitlichem Abstand zum Screening. Lagen im Screening andere Auffälligkeiten (Pupillendurchmesser, Hornhautreflexe) vor, wurden diese ebenfalls zum Augenarzt überwiesen. In dieser Arbeit wurden nur Kinder mit auffälligen Refraktionsfehlern untersucht. Die Sorgeberechtigten wurden über die anstehende Nachbefragung informiert und um Zustimmung gebeten. Waren die Kinder Patienten des Augen-Zentrums-Nordwest (AZNW), so wurden diese Untersuchungsergebnisse verwendet. Waren die Kinder nicht Patienten des AZNW, erfolgte die Nachbefragung anhand eines Fragebogens entweder über die Sorgeberechtigten oder – bei entsprechender Zustimmung – über die behandelnden Augenärzte. Die für Refraktionsfehler auffälligen Kinder und die Kinder der Referenzgruppe erhielten eine orthoptische und augenärztliche Untersuchung sowie eine Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie mit dem Skiaskop. Es wurden entweder Cyclopentolat 1 % Augentropfen (AT) oder – bei Kindern ≤ 3 Jahren, Kontraindikationen oder Unverträglichkeiten für Cyclopentolat – Tropicamid AT verabreicht. Es wurde 3‑mal im Abstand von 5 min getropft; 30 min nach dem letzten Tropfen wurde gemessen.

Statistische Methoden

Die statistische Auswertung erfolgte mit SPSS Version 25 (International Business Machines, Armonk, New York, USA). Für stetige Parameter wurde der Mittelwert ± Standardabweichung (SD) berechnet. Die statistische Auswertung kategorialer Variablen erfolgte mittels Chi-Quadrat-Test oder des exakten Fisher-Tests, die stetiger Variablen mittels Mann-Whitney-U-Test. Es wurde ein Signifikanzniveau von p = 0,05 angenommen. Anhand der auffälligen Kinder wurde der Anteil der richtig erkannten refraktiven ARF berechnet. Anhand der Referenzgruppe wurden der Anteil der richtig ausgeschlossenen refraktiven ARF und die falsch negative Rate berechnet.

Wir verzichten auf die Begriffe positiver Vorhersagewert (richtig erkannte refraktive ARF) und negativer Vorhersagewert (richtig ausgeschlossene refraktive ARF), da diese Werte von der Prävalenz abhängen, die für die untersuchte Population nicht ermittelt wurde.

Zufallsbasiert wurde von jedem Kind nur 1 Auge untersucht. Es wurden nur für Refraktionsfehler auffällige Augen im Screening berücksichtigt. Die Augen konnten für mehrere Ametropien gleichzeitig auffällig sein. Für Anisometropie wurde die Differenz der SE zwischen beiden Augen berechnet.

Ergebnisse

Von 3170 gescreenten Kindern hatten 715 (22,3 %) ein für Refraktionsfehler auffälliges Screening. Von diesen lagen bei 460 Kindern (64,3 %) eine Rückmeldung und von 132 vollständige Angaben zu in Zykloplegie gemessenen Refraktionsfehlern vor. Diese 132 auffälligen und die 34 Kinder der Referenzgruppe wurden in dieser Arbeit untersucht.

Kinder mit auffälligem Screening waren jünger als Kinder der Referenzgruppe. Die mittleren sphärischen Refraktionsfehler der auffälligen Kinder waren im Screening und bei der Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie erwartungsgemäß höher als bei den Kindern der Referenzgruppe, für das sphärische Äquivalent und die Anisometropie unterschieden sich die Mittelwerte im Screening nicht signifikant (Tab. 1).

Tab. 1 Demografische und klinische Angaben von im Screening auffälligen Kindern und Kindern der Referenzgruppe

Die Hyperopie wurde im Screening unter- und die Myopie überschätzt. Einerseits war der mittlere sphärische Refraktionsfehler im Screening statistisch signifikant geringer (1,55 D ± 1,38) als bei der Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie (2,60 D ± 1,82) (p < 0,05; Tab. 1). Andererseits bestand im Screening bei 2,3 % der Kinder der Verdacht auf und bei der Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie bei 18,9 % der Kinder eine Hyperopie (Tab. 2). Für Myopie war es umgekehrt. Im Screening bestand bei 3 % der Kinder der Verdacht auf und nach Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie bei 0,8 % der Kinder tatsächlich eine Myopie (Tab. 2). Auch Astigmatismus wurde im Screening überschätzt, da hier bei mehr Kindern der Verdacht auf Astigmatismus (90,9 %) bestand, als sich bei der Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie tatsächlich erwiesen (56,8 %) (Tab. 2).

Tab. 2 Häufigkeiten von Refraktionsfehlern bei Kindern im Screening und bei der Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie

Bei 11,4 % der Kinder bestand im Screening Verdacht auf Anisometropie, und bei der Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie hatten 10,6 % der Kinder eine Anisometropie.

Richtig erkannte Refraktionsfehler

Hyperopie, Myopie und Anisometropie konnten nur bei Kindern > 3 Jahren im Screening richtig erkannt werden. Der Anteil richtig erkannter Hyperopie betrug 33,3 %, richtig erkannter Myopie 50 % und richtig erkannter Anisometropie 61,5 % in dieser Altersgruppe (Tab. 3).

Tab. 3 Zusammenfassung der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit

Verlässlicher war der POA09 in der Erkennung des Astigmatismus; 60 % der Astigmatismen wurden richtig erkannt (Kinder ≤ 3 Jahre 43,5 %, Kinder > 3 Jahre 70,3 %; Tab. 3).

Richtig ausgeschlossene Refraktionsfehler

Sowohl eine Hyperopie als auch eine Myopie konnten im Screening anhand der Referenzgruppe zu 100 % ausgeschlossen werden (Tab. 3). Damit bestand bei keinem im Screening unauffälligen Kind nach der Refraktionsbestimmung in Zykloplegie eine Hyperopie oder Myopie. Ein Astigmatismus konnte in der Referenzgruppe zu 94,1 % und eine Anisometropie zu 88,2 % richtig ausgeschlossen werden (Tab. 3). Dies bedeutet, dass bei 2 Kindern ein Astigmatismus und bei 4 Kindern eine Anisometropie im Screening übersehen wurde.

Diskussion

Um die Verlässlichkeit des POA09 in der Erkennung refraktiver ARF zu untersuchen, wurden Daten von 132 Kindern mit auffälligem Screening und 34 Kindern mit unauffälligem Screening untersucht.

Das mittlere Alter der Kinder mit auffälligem Screening betrug 3,63 Jahre und befand sich verglichen mit der Literatur im Mittelfeld [11, 18]. Der mittlere sphärische Refraktionsfehler dieser Kinder (2,60 D) war höher (hyperoper) als in vergleichbaren Studien (0,88–1,77 D) [11, 18] und damit auch die Differenz der sphärischen Refraktionsfehler zwischen Screening und der Messung in Zykloplegie im Mittel (1,05 D) höher als in anderen Untersuchungen (0,29–0,75 D) [11, 18, 20]. Wahrscheinlich war die Akkommodation, die auch durch den Blick auf den POA09 ausgelöst werden kann, bei den von uns untersuchten Kindern größer, sodass im Screening Hyperopien unter- und Myopien überschätzt wurden. Schwierigkeiten des POA09 in dieser Hinsicht sind bekannt [18, 21].

Die verwendeten Augentropfen sowie die Häufigkeit ihrer Applikation können sich auf den Grad der Zykloplegie auswirken. In der vorliegenden Studie wurde Cyclopentolat 1 % 3‑mal im Abstand von 5 min getropft, bei jüngeren Kindern Tropicamid. In einer anderen Studie wurde Cyclopentolat 1 % 2‑mal im Abstand von 5 min appliziert [15]. Es ist davon auszugehen, dass in der zitierten Studie die Zykloplegie schwächer war als in unserer Studie, da der mittlere sphärische Refraktionsfehler geringer war (1,64 D) [15]. Darüber hinaus hatten in unserer Studie mehr Kinder eine Hyperopie (18,9 %) als in der genannten (4,7 %) [15].

Die Differenz des mittleren Astigmatismus zwischen dem Screening und der Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie war gering (0,29 D). Daher wird mit dem POA09 ein Astigmatismus besser erkannt als andere Refraktionsfehler [4, 11, 20, 21].

Eine Anisometropie (in dieser Studie definiert anhand des SE) wurde mit dem POA09 weniger zuverlässig erkannt, in 53,5 % in dieser Arbeit. Auch in anderen Studien erwies sich die Erkennung von Anisometropien als moderat verlässlich (Sensitivität 55,5–77,8 %, positiver Vorhersagewert 67,6 %) [4, 17, 21]. Die mittlere Anisometropie bei den von uns untersuchten Kindern war im Screening (0,09 D) und bei der Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie (0,05 D) zwar gering, aber im Screening fast doppelt so hoch. Möglicherweise ist auch dieser Unterschied mindestens teilweise auf die Akkommodation im Screening zurückzuführen [18, 21].

Eine gute Informationslage erhöht die Therapieadhärenz der Sorgeberechtigten für ein Amblyopiescreening [19]. Für diese Studie erfolgte eine Informationskampagne (Aushändigung von Flyern, Zeitungsinserate und Informationsgespräche). Dies könnte der Grund sein, weshalb sich mehr Kinder nachweislich beim Augenarzt vorstellten (64,3 %) als in anderen Studien (30–44 %) [4, 19].

Wir untersuchten Kinder einer ländlichen Region. Unterschiede zu anderen Populationen (z. B. urbanen) sind daher möglich. Sowohl beim Screening als auch bei der Nachbefragung wurde die ethnische Herkunft nicht abgefragt, weshalb hierzu keine Angaben gemacht werden können. Es ist aber davon auszugehen, dass die meisten untersuchten Kinder kaukasischen Ursprungs sind.

Der positive und negative Vorhersagewert sind prävalenzabhängige Parameter. Da die Prävalenz in der vorliegenden Arbeit nicht untersucht wurde, haben wir auf ihre Verwendung verzichtet und Analogbegriffe „Anteil richtig erkannter refraktiver ARF“ anstelle des positiven Vorhersagewertes und „Anteil richtig ausgeschlossener refraktiver ARF“ anstelle des negativen Vorhersagewertes verwendet.

Bei der Interpretation der Ergebnisse unsere Studie ist zu beachten, dass die von uns verwendeten Kriterien für ein auffälliges Screening [5] strenger sind als die des Herstellers des POA09.

Bei den Kindern der Referenzgruppe erfolgten das Screening und die Messung des Refraktionsfehlers in Zykloplegie am selben Tag. Bei den Kindern mit auffälligem Screening bestand ein variabler, uns nicht bekannter zeitlicher Abstand zwischen beiden Terminen. Dies spiegelt unserer Meinung nach eher die Realität wider, da es unwahrscheinlich ist, dass ein Kind mit auffälligem Screening noch am selben Tag einen Termin beim Augenarzt bekommt.

Mit 5,6 % ist die Prävalenz der Amblyopie in Deutschland vergleichsweise hoch und könnte durch ein Amblyopiescreening gesenkt werden [10, 13]. Dieses wird hierzulande nicht systematisch und nicht augenärztlich durchgeführt. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) bezweifelt seinen Nutzen und befürchtet eine Übertherapie [3]. Zudem sieht das IQWIG – obwohl die Plastizität des visuellen Systems in jungen Jahren am höchsten ist – keinen Nachteil in einem späteren Therapiebeginn [3, 8]. Die Empfehlungen ophthalmologischen der Fachgesellschaften unterscheiden sich grundlegend von denen des IQWIG [1, 3]. Diese empfehlen eine Vorstellung aller Kinder beim Augenarzt zwischen dem 30. und 42. Lebensmonat; bei Verdacht auf Auffälligkeiten schon früher [1, 16]. Weil Kinder mit Refraktionsfehlern äußerlich normal aussehen und oft keine Beschwerden äußern, ist es nahezu unmöglich, diese zu erkennen. Der vom Kinderarzt durchzuführende Brückner-Test gibt qualitative, aber keine quantitativen Informationen [8]. Er ist für Refraktionsfehler bei korrekter Durchführung und erfahrenem Untersucher zu sensitiv und oft schon bei nicht amblyogenen Refraktionsfehlern auffällig [8]. Dies könnte zu vielen unnötigen Überweisungen zum Augenarzt führen.

Fazit für die Praxis

Mit dem POA09 lassen sich refraktive ARF nur eingeschränkt erkennen, was die Wichtigkeit eines Amblyopiescreenings unterstreicht. Ein Hauptproblem beim Screening auf refraktive ARF ist die Akkommodation. Denkbar ist ein Screening mit dem POA09 durch den Kinderarzt in Zykloplegie, jedoch ist dies zeitaufwendig und für das Kind eine Belastung, sodass die Zykloplegie durch den Augenarzt durchgeführt werden sollte und für weitere Untersuchungen (z. B. Skiaskopie, Fundoskopie) genutzt werden sollte. Weitere Arbeiten zum Amblyopiescreening sind auch auf Populationsebene notwendig, um die Leistungsfähigkeit der gültigen Richtlinien besser beurteilen zu können.