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Anamnese und Befund
Ein 61-jähriger Patient stellte sich im November 2020 zur „Kontrolle bei Orbitatumor rechts, am ehesten entzündlich“ in unserer Klinik vor. Der Patient beklagte eine Sehverschlechterung am rechten Auge, sowie Schmerzen und eine Schwellung der Augenlider seit 1 Monat. Weitere Symptome waren ein Exophthalmus (Abb. 1), ein relativ afferenter Pupillendefekt (im Folgenden als RAPD abgekürzt) sowie Doppelbilder.
Bei der klinischen Untersuchung bestand ein bestkorrigierter Visus am rechten Auge von 0,4 und am linken Auge von 1,0. Im vorderen Augenabschnitt am rechten Auge sahen wir eine Bindehautchemosis und eine beginnende Katarakt bei sonst regelrechtem Befund und im hinteren Augenabschnitt eine Papillenschwellung (Abb. 2). Das linke Auge zeigte einen regelrechten Befund.
Eigenanamnestisch war ein multiples Myelom vom Typ IgG Kappa bereits vorbekannt, welches erstmals im November 2018 extern diagnostiziert und weswegen der Patient chemotherapeutisch behandelt wurde. Im Zuge des Auftretens der aktuellen okulären Symptomatik wurde im Oktober 2020 extern eine Biopsie der orbitalen Raumforderung durchgeführt, welche die Diagnose eines entzündlich bedingten Pseudotumors (IOIS) ergab.
Therapie und Verlauf
Bei der externen Erstbehandlung zeigte sich initial ein deutlicher Rückgang der Symptomatik unter antientzündlicher Therapie, was die externe Diagnose zunächst bestätigte. Wir erhöhten somit die Steroidtherapie von 10 mg auf 100 mg Decortin per os und vereinbarten einen Termin zur erneuten Magnetresonanztomographie (im Folgenden als MRT abgekürzt) sowie zur Re-Biopsie der orbitalen Raumforderung in 2 Wochen. Jedoch stellte sich der Patient bereits nach 1 Woche mit akuter Sehverschlechterung am rechten Auge vor. Der Visus war nun auf 1/50 Metervisus reduziert. Es zeigten sich uns eine Ptosis mit prominentem Exophthalmus sowie eine ausgeprägte Papillenschwellung. Der Patient wurde zur intravenösen Steroidtherapie mit Cortison 250 mg stationär aufgenommen. Darunter kam es erneut zu einer Besserung der klinischen Symptomatik, woraufhin wir ein erneutes MRT sowie eine Re-Biopsie der Raumforderung durchführten. Gegenüber dem vom Patienten mitgebrachten MRT vom Oktober 2020 zeigte sich eine größenprogrediente, überwiegend intraorbitale intrakonale Raumforderung rechts. Auch links zeigte sich eine größenprogrediente intraorbitale, intrakonale Raumforderung (Abb. 3). Beschwerden am linken Auge hatte der Patient während des Behandlungszeitraums nicht.
Die erneute Biopsie ergab ein diffuses lymphatisches Infiltrat, und nach Durchführung immunhistochemischer Untersuchungen konnten Infiltrate des multiplen Myeloms mit Leichtkettenexpression von Kappa nachgewiesen werden (Abb. 4a–d).
Ein erneut durchgeführtes Staging ergab keinen weiteren Manifestationsnachweis, und im Januar 2021 erfolgte die Radiotherapie der Orbitae. Nach dem Beschluss der Tumorkonferenz wurde ein neues Chemotherapieprotokoll für den Patienten erstellt.
Bei der letzten Verlaufskontrolle Ende Juni 2021 zeigten sich ein Visusanstieg auf 0,7 am rechten Auge sowie ein deutlicher Rückgang der Papillenschwellung (Abb. 5) und im MRT eine komplette Remission der Lymphommanifestation rechts orbital sowie ein unauffälliger Befund der Orbita links (Abb. 6).
Fazit und Diskussion
Beim multiplen Myelom handelt es sich um ein niedrigmalignes Non-Hodgkin-Lymphom, welches durch eine Infiltration des Knochenmarks durch klonale Proliferation atypischer Plasmazellen charakterisiert ist [1]. Dabei kommt es zu einem abnormen Anstieg in der Produktion von Immunglobulinen wie IgG, IgM etc., welche im Serum oder Urin nachgewiesen werden können [2].
Multiple Myelome machen ca. 10 % aller malignen hämatologischen Erkrankungen aus, wobei extramedulläre Infiltrationen nur in 3 % aller multiplen Myelome vorkommen und meist mit schlechteren Prognosen einhergehen [3,4,5]. Orbitale Infiltrationen sind dabei eine unübliche Lokalisation und kommen extrem selten vor. Sie machen nur ca. 1 % aller orbitalen Tumoren aus und gehen mit schlechteren Überlebensraten im Vergleich zu anderen extramedullären Infiltrationen einher [3, 4, 6]. Die häufigste Lokalisation orbitaler Plasmozytome ist dabei extrakonal superotemporal in der Orbita und stellt damit eine wichtige Verdachtsdiagnose bei Gewebeproliferationen im superotemporalen, orbitalen Quadranten dar [2]. Symptomatisch auffallen können dabei ein Exophthalmus, Doppelbilder oder ein Visusverlust [7].
Der Fall beleuchtet unserer Ansicht nach diagnostische Unsicherheiten und Abwägungen, die im Umgang mit mitgebrachten Vorbefunden notwendig sind.
Sollten auswärtige Befunde infrage gestellt und hausintern wiederholt werden oder sollte man zunächst immer von der Plausibilität und Gültigkeit der Befunde ausgehen. Im dargestellten Fall führte die Übernahme der auswärtigen Befunde dazu, dass initial an der Diagnose Pseudotumor orbitae festgehalten wurde, die sich im Verlauf, wie oben beschrieben, als nicht zutreffend herausstellte. Der Biopsiebefund wurde erst nach deutlicher klinischer Verschlechterung infrage gestellt und wiederholt, was dann verspätet zur richtigen Diagnose – orbitales Plasmozytom – führte. Dabei bleibt offen, ob eine frühere endgültige Diagnose und einsetzende Therapie zu einem besseren finalen Ergebnis geführt hätte.
Auch wenn die Biopsie bis heute den Goldstandard bei orbitalen Läsionen darstellt, ist auch diese nicht unfehlbar. Neben dieser kommt der Bildgebung, insbesondere dem MRT, eine zentrale Bedeutung zu. Mithilfe neuer MRT-Sequenzen, DWI („diffusion weighted imaging“) und DCE („dynamic contrast enhanced imaging“) können zusätzliche Informationen über die Herkunft und Entität der orbitalen Raumforderung gewonnen werden. Dabei basiert die DWI-Sequenz auf dem Prinzip der Diffusion von Wasser in Geweben, welche in malignen Raumforderungen reduziert sein kann (sog. Diffusionsrestriktion) [8, 9]. Die DCE-Sequenz hingegen liefert Informationen zur Tumorvaskularisation. In einer Studie von Ro SR et al. aus dem Jahr 2015 konnte gezeigt werden, dass die Anwendung der beiden oben beschriebenen MRT-Sequenzen die Spezifizität und Sensitivität der radiologischen Diagnostik in der Differenzierung benigner und maligner orbitaler Raumforderungen deutlich erhöhen kann und diese damit routinemäßig bei oben genannten Fragestellungen verwendet werden sollten [8].
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auch die diagnostische Aussagekraft von Biopsien stets kritisch bewertet werden sollte. Bei schlecht abgrenzbaren orbitalen Raumforderungen mit klinisch entzündlichen Aspekten (Schwellung, verstärkte Perfusion usw.) kann das Erkennen von repräsentativem Gewebe erschwert sein. Darüber hinaus können orbitale Infiltrate auch abhängig vom gewählten Zugang unter Umständen schwer erreichbar sein.
Bei Diskrepanz zwischen Biopsie und klinischem Verlauf sollten in jedem Fall eine Neuevaluation und ggf. eine Re-Biopsie bei unsicheren Befunden erfolgen.
Literatur
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Gutmann, M., von Sonnleithner, C. & Bertelmann, E. Unklare orbitale Raumforderung?. Ophthalmologie 120, 200–204 (2023). https://doi.org/10.1007/s00347-022-01607-5
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