Zur Möglichkeit einer Virusübertragung über die Augenoberfläche ergeben sich 3 wesentliche Fragen.
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1.
Kann SARS-CoV-2 die Bindehaut infizieren und sich dort replizieren?
Aktuelle Studien beschreiben bei ca. 7 % aller COVID-19-Patienten subjektive okuläre Symptome [22] und bei ca. 1 % Zeichen einer Konjunktivitis [5]. Diesen Beobachtungen liegt jedoch nur selten eine ophthalmologische Untersuchung zugrunde, und die Einschlusskriterien sind uneinheitlich [10]. Zudem wurden in den genannten Studien keine adäquaten Kontrollkohorten untersucht, und es ist unklar, ob die Symptome durch SARS-CoV‑2 bedingt wurden oder ob es sich um SARS-CoV-2-unabhängige Epiphänomene, z. B. im Zuge der intensivmedizinischen Behandlung, handelt. Des Weiteren ist es umstritten, ob Zellen der Augenoberfläche, wie z. B. konjunktivale Epithelien, ACE2 oder TMPRSS2 exprimieren und damit für eine SARS-CoV-2-Infektion anfällig sind. Angesichts der unklaren Datenlage haben wir kürzlich das Expressionsniveau von ACE2 und TMPRSS2 in 38 gesunden und erkrankten Bindehautproben untersucht [11]. Dazu wurde RNA aus Formalin-fixierten und in Paraffin eingebetteten Bindehautproben wie zuvor beschrieben isoliert, sequenziert [12, 17], und anschließend die Sequenzierungsdaten bioinformatisch ausgewertet [1]. Während die Bindehautproben eine erhebliche mRNA-Expression des Epithelmarkers Keratin 19 aufwiesen, zeigten gesunde und erkrankte Bindehautproben keine relevante Expression des SARS-CoV-2-Rezeptors ACE2 (Abb. 2a). Im Einklang mit der kaum nachweisbaren Expression von ACE2 auf transkriptioneller Ebene fanden wir zudem eine vernachlässigbare ACE2-Immunreaktivität in 8 gesunden Bindehautproben [11], was auf das Fehlen einer relevanten ACE2-Proteinexpression in der Bindehaut hinweist (Abb. 2b). Darüber hinaus zeigen unsere Daten, dass auch die Serinprotease TMPRSS2 in Bindehautgewebe nicht wesentlich transkribiert wird (Abb. 2a). Diese Ergebnisse sprechen gegen einen ACE2-vermittelten konjunktivalen Infektionsweg von SARS-CoV‑2 und sind im Einklang mit histologischen Untersuchungen von an COVID-19 verstorbenen Patienten, die keine relevante Bindehautentzündung nachweisen konnten [13]. Damit scheint sich SARS-CoV‑2 von anderen Viren, wie z. B. Hepatitis-C-Viren, zu unterscheiden, deren konjunktivale Infektion und Übertragung beschrieben sind [8]. Auch wenn bislang entsprechende Hinweise fehlen, bleibt zu klären, ob individuelle Faktoren wie Hypoxie oder Rauchen eine Expression von ACE2 in der Bindehaut auslösen können [21]. In einem ex-vivo-Modell berichtet eine aktuelle Untersuchung über die Möglichkeit der Infektion von Zellen v. a. des Bindehautstromas durch SARS-CoV‑2 [9]. Es bleibt aber unklar, inwiefern sich diese Beobachtung auf die Situation in vivo übertragen lässt. Zudem scheint eine aggressivere Vorbehandlung von histologischen Bindehautpäparaten eine ACE2 Immunreaktivität des Bindehautepithels zu ermöglichen, deren klinische Relevanz jedoch unklar ist [4]. Weitere Untersuchungen z. B. an Obduktionsmaterial von an COVID-19 Verstorbenen sind notwendig, um Aufschluss über die tatsächliche Infektiosität und mögliche Orte der Virusreplikation zu erhalten.
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2.
Können Gesunde über den Tränenfilm infiziert werden?
Zur Infektion Gesunder mit SARS-CoV‑2 über den Tränenfilm liegen derzeit keine Daten vor. Während einige Daten (s. oben) gegen eine Infektion der Bindehaut durch SARS-CoV‑2 sprechen, könnten im Tränenfilm befindliche Viren grundsätzlich über die ableitenden Tränenwege Zugang zur Nasenschleimhaut und den Atemwegen erhalten und so eine Infektion respiratorischer Epithelien auslösen. Es ist derzeit unklar, inwiefern durch Reiben der Augen mit kontaminierten Händen eine Ansteckung über den Tränenfilm möglich ist. Über die Bedeutung der Virusaufnahme über die Tränenwege im Vergleich zur direkten Aufnahme von virushaltigen Aerosolen über die Atemwege kann auch nur spekuliert werden. Aufgrund des schützenden Lidschlags und der kleineren Oberflächen dürfte ein rein okulärer Infektionsweg für SARS-CoV‑2 eine untergeordnete Rolle spielen. Allerdings erscheint ein Schutz der Augen bei engem Kontakt oder hohem Expositionsrisiko, wie z. B. der trachealen In- oder Extubation von an COVID-19 Erkrankten, dringend geboten.
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3.
Ist der Tränenfilm Erkrankter infektiös?
Zwei kürzlich veröffentlichte Studien konnten nur bei einem geringen Anteil von COVID-19-Patienten SARS-CoV-2-RNA in Bindehautabstrichen nachweisen [20, 22]. Zhou et al. analysierten die Bindehautabstriche von 67 bestätigten oder vermuteten COVID-19-Fällen und berichteten, dass nur bei 1 Patienten ein positives und bei 2 Patienten ein wahrscheinlich positives PCR-Ergebnis vorlag. Keiner der 3 Patienten wies eine Bindehautentzündung auf [22]. In ähnlicher Weise untersuchten Xia et al. insgesamt 30 Patienten mit bestätigtem SARS-CoV-2-Nachweis in Sputumproben und berichteten, dass nur bei einem dieser Patienten SARS-CoV-2-RNA auch im Bindehautabstrich nachgewiesen werden konnte. Bei diesem Patienten lagen auch Anzeichen einer Bindehautentzündung vor [20]. In einer weiteren Studie untersuchten Seah et al. 17 COVID-19-Patienten mit positivem nasopharyngealem Abstrich in stationärer Behandlung. Auch in mehrfacher Testung gelang bei keinem der Patienten eine Virusisolation oder der Nachweis von SARS-CoV‑2 im Tränenfilm [18]. Diese Daten sprechen dafür, dass selbst bei Patienten mit florider COVID-19-Erkrankung der Tränenfilm nur sehr selten Virus-RNA enthält. Der Nachweis von viraler RNA kann nicht gleichgesetzt werden mit dem Vorhandensein infektiöser Viruspartikel. Somit scheint das Risiko der Ansteckung mit SARS-CoV‑2 durch Tränenflüssigkeit von infizierten Patienten gering zu sein.