„Die Wissenschaft ist ein Eigenthum der ganzen Menschheit und nicht das eines einzelnen Volkes.“ (Rudolf Virchow, Graefe-Lehrer und -Freund, 1862) [22]
Zusammenfassung
Neben den wissenschaftlichen Leistungen war es v. a. die Persönlichkeit, die Albrecht von Graefe (1828–1870) höchstes internationales Ansehen einbrachte. Sowohl bei seinen beiden Gründungen Archiv für Ophthalmologie 1854 und (Deutsche) Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) 1857 als auch in seiner weltberühmten Klinik in Berlin spielten ausländische Kollegen und Patienten eine große Rolle. Daher ist an diesen großen Fachgenossen gerade anlässlich des diesjährigen Kongresses der DOG mit seinem Tagungsmotto „Deutsche Augenheilkunde international“ zu erinnern.
Abstract
Not only the scientific successes but also his personality caused Albrecht von Graefe (1828–1870) to gain a worldwide reputation. His two foundations “Archive for Ophthalmology” in 1854 and the “(German) Ophthalmological Society” (DOG) in 1857 as well as his famous eye clinic in Berlin were important for his colleagues and patients from many countries and most continents. The 2017 DOG congress has the motto “German Ophthalmology internationally”; thus, it is worthwhile to be reminded of this great ophthalmologist.
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„Die Wissenschaft ist ein Eigenthum der ganzen Menschheit und nicht das eines einzelnen Volkes.“ (Rudolf Virchow, Graefe-Lehrer und -Freund, 1862) [22]
Albrecht von Graefe (1828–1870; Abb. 1) ist der Nestor der modernen Ophthalmologie, dem Dank des 1851 von Hermann von Helmholtz (1821–1894) vorgestellten Augenspiegels mehrere Erstbeschreibungen am Augenhintergrund wie z. B. der glaukomatösen Papillenexkavation 1855, des Zentralarterienverschlusses 1859 oder der chorioidalen Miliartuberkulose 1868 gelangen. Auch über den Augenspiegel hinaus vollbrachte er Großes: moderne Schieloperationen, Verbesserung der Kataraktchirurgie und periphere Iridektomie beim Glaukom, um nur die Wichtigsten zu nennen [2, 7, 9, 10, 21]. Albrecht von Graefes Verdienste gehen jedoch über die reine Wissenschaft weit hinaus, denn er kann auch als Begründer der internationalen Augenheilkunde angesehen werden. Warum?
Elternhaus und Sprachkenntnisse
Bereits Albrechts Vater, Carl Ferdinand von Graefe (1787–1840), hatte als Berliner und damit Preuße umfangreiche internationale Beziehungen unterhalten und viele Patienten aus dem Ausland behandelt. Für die Eindämmung einer Typhusepidemie in Torgau/Sachsen während der Befreiungskriege wurde ihm 1814 vom militärischen Gegner das Offizierskreuz der französischen Ehrenlegion verliehen. Aus dem gleichen Grund verlieh ihm der russische Zar Nikolaus I. (1796–1855) auf Antrag der polnischen Provinzen den (vererbbaren) Adelstitel, der vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) 1826 anerkannt wurde [10]. Albrecht von Graefes Elternhaus war weltoffen und frankophil, sodass er als Frédéric Guillaume Ernest Albert (Friedrich Wilhelm Ernst Albrecht) von einem französischen Pastor getauft wurde, wobei der König, wenn auch nicht unmittelbar persönlich, Pate stand [2].
Albrecht besuchte das französische Gymnasium in Berlin. Über seine Französischkenntnisse wurde im Reifezeugnis geurteilt: „Im Französischen. Er hat sich eine übersichtliche Kenntnis der Literatur erworben, und spricht und schreibt die Sprache mit Geläufigkeit, wenngleich er sich den Geist derselben noch mehr aneignen könnte.“ [6] Seinen berühmten und von „Applaudissements unanimes et répétés“ („einstimmigem und wiederholtem Applaus“) unterbrochenen Vortrag über die Iridektomie beim 1. Internationalen Ophthalmologenkongress in Brüssel – heute Weltkongress der Ophthalmologie – konnte er deshalb auf Französisch halten [23], und sein wohl begabtester Schüler Julius Hirschberg (1843–1925) erinnerte sich 1906: „In der Tat, als Albrecht von Graefe im Jahre 1867 zu Paris den dritten internationalen augenärztlichen Kongress leitete, merkte man ihm nicht an, dass das Französische nicht seine Muttersprache gewesen.“ [6] Während des Studiums in Berlin waren der Physiologe Emil DuBois-Reymond (1818–1896) und der Philosoph Karl Ludwig Michelet (1801–1893), beide hugenottischer Abstammung, zwei seiner Lehrer. Handschriften lassen vermuten, dass Graefe sein Archiv für Ophthalmologie am Anfang auch in Französisch herausgeben wollte [1], wozu es dann allerdings nicht kam.
Über das Englische stand in Albrecht von Graefes Reifezeugnis: „Er liest leichtere Stücke Shakespeare’s selbst unvorbereitet ohne Schwierigkeit und drückt sich schriftlich mit einiger Gewandtheit aus.“ [6] Er dürfte sich deshalb mit seinen englischen Freunden George Critchett (1817–1882) und William Bowman (1816–1892) einigermaßen gut in deren Landessprache unterhalten haben können, bevorzugte aber zumindest in einem Brief an Bowman das Französische [20].
In der Schule hatte Graefe auch Lateinisch und Griechisch gelernt [6]. Über weitere Sprachen, die er beherrschte, ist dem Autor nichts bekannt. Erinnert sei daran, dass bis zur Reichsgründung 1871, also während des ganzen Lebens Albrecht von Graefes, auch deutsche Länder wie die Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg sowie zahlreiche kleine Herzogtümer und Fürstentümer zum Ausland gehörten („Kleinstaaterei“). Der aus Anhalt stammende, engste Mitarbeiter und Freund Graefes, Adolf Schuft-Waldau (1822–1895), konnte deshalb in Berlin erst sein Examen ablegen, nachdem er die preußische Staatsangehörigkeit angenommen hatte [21]. Albrecht von Graefe nahm dann auch am 1. Internationalen Ophthalmologenkongress in Brüssel 1857 als „Preuße“ neben deutschsprachigen Kollegen z. B. aus Bayern oder Sachsen teil ([23]; Abb. 2). Selbst die häufigen Reisen nach Würzburg [16] und nach Heidelberg führten ihn ins nichtpreußische Ausland. Die gemeinsame Sprache war aber seinerzeit sicher ein ganz wichtiges Moment, das den grenzüberschreitenden Gedankenaustausch und damit die Internationalität beförderte.
Studienreisen und Auslandsaufenthalte
Das 19. Jahrhundert war auch das Jahrhundert des sich schnell entwickelnden Verkehrs. Eisenbahn und Dampfschiffe beschleunigten das Reisen erheblich, sodass der Graefe-Schüler Julius Hirschberg 1894 – noch vor Auto und Flugzeug – am Ende seines Reiseberichts „Um die Erde“ schrieb: „Fast ist es mir wie ein schöner Traum. Aber die wechselnden Bilder stehen lebendig vor meinem Auge. Mein Herz ist voll Dankbarkeit gegen das neunzehnte Jahrhundert, das die Entfernung vernichtet und solche Reisen ermöglicht hat.“ [4] Reisen in ferne Länder verloren zunehmend den Nimbus des Besonderen. Man studierte die fremden Kulturen und besuchte auch die Fachkollegen [8, 17]. So war es nicht verwunderlich, dass Albrecht von Graefe nach seinem 1847/48 erfolgten medizinischen Examen zu Studienreisen nach Prag zu Ferdinand von Arlt (1812–1887), nach Paris zu Julius Sichel (1802–1868), Louis Auguste Desmarres (1810–1882) und Philippe Ricord (1800–1889), nach Wien zu Friedrich Jaeger (1784–1871), dem Pathologen Carl von Rokitansky (1804–1878) sowie dem Physiologen Ernst Wilhelm Brücke (1819–1892), nach London zu George Critchett und William Bowman und schließlich nach Glasgow zu William Mackenzie (1791–1868) und nach Dublin zu William Robert Wilde (1815–1876) aufbrach [2, 7, 9,10,11, 21].
Auch später reiste er insbesondere in den Herbstferien viel [2, 21]. Immer wieder hielt er sich in Italien und in Frankreich an der Cote d’Azur, in den französischen Alpen sowie in Paris auf. Häufig bereiste er die Schweiz, wo er hohe Berge erklomm und im Kurort Heiden im Appenzeller Land sowohl seine Tuberkulose zu lindern versuchte als auch im „Freihof“ zahlreiche Patienten behandelte und operierte [2, 21]. In Heiden erinnern heute ein Weg und ein Gedenkstein an Albrecht von Graefe, dem der Aufstieg Heidens zum bekannten Kurort ganz entscheidend zu verdanken war.
Privatklinik in der Berliner Karlstraße
Albrecht von Graefe hatte also bereits in jungen Jahren einiges von der Welt gesehen, er war sehr früh polyglott geworden. Insofern war es nur folgerichtig, dass sich seine 1852 eröffnete Privatklinik in der Berliner Karlstraße (heute Reinhardtstraße) sehr schnell zu einem Magneten entwickelte, der nicht nur Patienten ([20, 21]; Abb. 3), sondern auch Schüler aus (fast) aller Welt nach Berlin zog [7, 11]. Von Graefes zahlreichen, ausländischen Assistenten – Assistentinnen hatte er noch nicht [19] – in Berlin seien exemplarisch genannt Elkanah Williams (1822–1888) aus Cincinnati, Aaron Friedenwald (1836–1902) aus Baltimore, Charles Stedman Bull (1844–1911) und Emil Gruening (1842–1914) aus New York, Francis Buller (1844–1905) aus Montreal, Argyll Robertson (1837–1909) aus Edinburgh, John Soelberg Wells (1824–1879) aus London, Sir Henry Rosborough Swanzy (1844–1913) aus Dublin, Andreas Anagnostakis (1826–1897) aus Athen, John Graf Magawly (1831–1904) und Robert Blessig (1830–1878) aus St. Petersburg, Eduard Junge (1832–1898) und Gustav Braun (1824–1897) aus Moskau, Carl Waldhauer (1820–1899) aus Riga, Henri Dor (1835–1912) aus Bern, Friedrich Horner (1831–1886) aus Zürich, Georges Haltenhoff (1843–1915) aus Genf sowie Edmund Hansen Grut (1831–1907) aus Kopenhagen [11]. Julius Hirschberg bezeichnete Albrecht von Graefe daher zu Recht als „Lehrer des Erdkreises“ [7]. Ein besonders inniges Freundschaftsverhältnis entwickelte Albrecht von Graefe zu William Bowman, Ferdinand von Arlt und insbesondere zu Frans Cornelis Donders (1818–1889) aus Utrecht in den Niederlanden, den er 1851 in London kennengelernt hatte [21]. Nachdem er den ersten Band seines „Archivs“ 1854 noch allein herausgegeben hatte, beteiligte er Arlt und Donders ab dem 2. Band von 1855 an der Schriftleitung, womit das „Archiv“ sehr schnell einen internationalen Einschlag bekam (Abb. 4).
Ophthalmologische Gesellschaft
Auch Graefes zweite, ganz wesentliche Gründung, die Ophthalmologische Gesellschaft (ab 1875 inoffiziell Ophthalmologische Gesellschaft Heidelberg, ab 1920 offiziell Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft – DOG) war von Beginn an international ausgelegt. So fanden sich unter den ausländischen Teilnehmern an den ersten 3 noch nicht protokollierten Heidelberger Tagungen 1857, 1858 und 1859 zumindest Friedrich Horner aus Zürich, Ferdinand von Arlt aus Wien, Frans Cornelis Donders aus Utrecht und William Bowman aus London [1, 7]. Als sich die DOG 1863 die erste Satzung mit 4 von Albrecht von Graefe formulierten Paragraphen gab, konstituierte sich nach § 3 ein „permanenter Ausschuss“, dem Ferdinand von Arlt, Frans Cornelis Donders, Albrecht von Graefe, Friedrich Horner, Wilhelm Hess und Wilhelm Zehender angehörten, der also ebenfalls stark international besetzt war [24]. Im Jahre 1871, 1 Jahr nach Albrecht von Graefes Tod, wies die Mitgliederliste der DOG 140 Augenärzte auf, von denen 73 (52 %), also mehr als die Hälfte, ihren Wohnsitz im Ausland hatten [12].
Weltanschauung und Privatleben
Albrecht von Graefe war politisch interessiert, aber nicht engagiert. Er hegte sicherlich Zuneigung zu seinem preußischen Vaterland, ohne aber Nationalist zu sein. Demokratischem Gedankengut stand er nahe [10, 11]. Dem Militärdienst konnte er nichts abgewinnen, und der deutsch-österreichische Krieg von 1866 drückte ihm auf das Gemüt [18]. Vieles einte Graefe mit seinem Freund Rudolf Virchow (1821–1902), für den die Wissenschaft nur international sein konnte [22]. Und zu guter Letzt: Albrecht von Graefe heiratete keine Preußin, sondern 1862 die dänische Anna Gräfin Knuth (1842–1872), die 1860 als Patientin in seine Klinik gekommen war. Gemeinsam bekamen sie 5 Kinder.
Unter „Sittliche Aufführung gegen Mitschüler, gegen Vorgesetzte und im Allgemeinen“ stand in Albrecht von Graefes Reifezeugnis: „Er hat sich durch sein bescheidenes und anschliessendes Wesen die Liebe seiner Lehrer und Mitschüler dauernd zu erwerben gewusst.“ [6] Diese Wesensarten, denen er bis zuletzt treu blieb, waren es zusammen mit den Leistungen auf dem Gebiet der Augenheilkunde v. a., die ihm die bis heute währende, höchste internationale Reputation einbrachten.
Würdigung und Vermächtnis
Als Albrecht von Graefe am 20. Juli 1870 starb, brach der Deutsch-Französische Krieg aus, der die Gründung des Deutschen Reichs 1871 zur Folge hatte. Bestrebungen, dem großen Fachgenossen ein Denkmal zu setzen, verzögerten sich durch den Krieg, entfalteten sich danach aber umso stärker. Im „Comité für das Graefe-Denkmal“ wirkten mehrere Kollegen aus dem Ausland mit (Abb. 5), zahlreiche In- und Ausländer v. a. aus den USA, aus Italien, Russland, den Niederlanden und der Schweiz halfen darüber hinaus bei der Sammlung der notwendigen und reichlich fließenden Gelder [3, 25]. Bei der Einweihung des Denkmals 1882 war es kein Deutscher, sondern der Österreicher Ferdinand von Arlt, der die auch heute noch bewegenden Worte sprach:
Ehre dem Staat, in dessen Metropole ein solches Denkmal errichtet wurde. Der Mann, dessen Andenken wir feiern, hat nicht ein Volk regiert, er hat nicht Schlachten geschlagen, er hat nicht mit dem Pinsel, nicht mit dem Meißel Kunstwerke geschaffen: er hat seine Lorbeeren errungen, indem er bemüht war, Menschen-Elend zu mindern, zu heben, zu verhüten. […] Durch sein Wirken als Arzt und Lehrer hat er sich ein Denkmal geschaffen, dauerhafter als Stein und Erz, ein Denkmal für alle künftigen Generationen. [3]
Die internationalen Beziehungen der deutschen Augenheilkunde und der DOG waren in den letzten 160 Jahren deutlichen Schwankungen unterworfen, aber selbst in Zeiten von Krieg und wirtschaftlicher Not versiegten sie nie ganz [13,14,15]. Heute ist die Internationalität der DOG eine Selbstverständlichkeit, ein Markenzeichen, das aber weiterhin der behutsamen Pflege bedarf. Das „internationale Vermächtnis“ Albrecht von Graefes leuchtet bis in die Gegenwart hinein. Es zu bewahren und auszubauen dient nicht nur dem Fortschritt der Ophthalmologie, sondern ein Stück weit auch dem Frieden auf der Erde. Sehr wahrscheinlich hatte Julius Hirschberg auch seine beiden von ihm sehr verehrten Lehrer Rudolf Virchow und Albrecht von Graefe im Sinn, als er 1905 zu Papier brachte:
Auf unsrem von Waffen starrenden Planeten, dessen fernste Länder durch Dampfkraft und Electricität einander so nah gebracht sind während die Herzen der verschiedenen Völker leider noch nicht in gleicher Weise einander genähert werden konnten, fällt uns Männern der Wissenschaft die Aufgabe zu, nach dem Maß unsrer allerdings geringen Kräfte, für die friedliche Vereinigung der Völker Sorge zu tragen [5].
Fazit für die Praxis
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Albrecht von Graefe ist nicht nur der Begründer der modernen Augenheilkunde, sondern „als Lehrer des Erdkreises“, wie Julius Hirschberg ihn nannte, auch der Internationalität unseres Faches.
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Sowohl seine Privatklinik in Berlin als auch seine beiden Gründungen Archiv für Ophthalmologie und (Deutsche) Ophthalmologische Gesellschaft hatten (und haben) bedeutsame ausländische Einflüsse.
Literatur
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Hirschberg J (1905) Meine dritte Amerika-Fahrt. Med. Klinik Nr. 42: 1056–1061, Nr. 43: 1084–1088, Nr. 45: 1135–1140, Nr. 47: 1191–1196
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Rohrbach, J.M., Leitritz, M.A. Albrecht von Graefe und die Internationalität. Ophthalmologe 114, 775–780 (2017). https://doi.org/10.1007/s00347-017-0501-3
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- Archiv für Ophthalmologie
- Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft
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