In der evidenzbasierten Medizin beruhen idealerweise alle klinischen Entscheidungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Daten und Wirksamkeitsnachweise. Die rasante Vermehrung des medizinischen Wissens macht es jedoch für den klinisch tätigen Arzt zunehmend schwerer, die grundlagenwissenschaftlichen Originaldaten und aktuellen Studienergebnisse für sämtliche Aspekte seines medizinischen Handelns vollständig zu überblicken. Es ist deshalb oft unumgänglich, dass wir klinische Entscheidungen nicht aufgrund eigener Kenntnis der wissenschaftlichen Primärdaten, sondern anhand von Erzählungen von Kollegen oder den gängigen Standards in unserer Arbeitsumgebung treffen. Überlieferungen durch Hörensagen ohne genaue Kenntnis der zugrunde liegenden Fakten kann allerdings auch Nährboden für die Entstehung von Mythen sein, deren Wahrheitsanspruch bei zunehmender Zirkulation schließlich schon allein durch ihre weite Verbreitung begründet zu sein scheint. Solche medizinischen Mythen können zu einer Verschlechterung der Versorgung oder sogar einer Gefährdung der Patienten führen. Es ist deshalb unerlässlich, unsere klinischen Entscheidungsprozesse regelmäßig auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen zu überprüfen und ggf. anzupassen.

Medizinische Mythen können zu schlechterer Versorgung oder sogar Gefährdung des Patienten führen

Diesem Ziel diente auch das Symposium „Medizinische Mythen in der Augenheilkunde“ auf der vergangenen Jahrestagung der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft, in dem weitverbreitete Mythen vor dem Hintergrund des Kongressmottos „grundlagenbasiert und interdisziplinär“ auf den Prüfstand gestellt wurden [1]. Einige der Beiträge dieses Symposiums wurden bereits in Der Ophthalmologe vorgestellt, so die Mythen, dass eine natürliche Entbindung mit ophthalmologischen Gefahren wie Netzhautablösung oder Glaukomschaden einhergeht [2] und dass in Schwangerschaft und Stillzeit die meisten lokalen und systemischen Therapien von Augenerkrankungen kontraindiziert sind [3]. Dieses Leitthema fasst nun 2 weitere Beiträge des Symposiums zusammen. Die Übersichtsarbeit von N. Feltgen et al. diskutiert die Notwendigkeit der Umstellung von Antikoagulanzien vor ophthalmochirurgischen Eingriffen und wägt dabei die Risiken von intraoperativer Blutung und thromboembolischen Ereignissen gegeneinander ab. Der Beitrag von T.U. Krohne et al. analysiert die wissenschaftliche Datenlage zum Mythos der „Jodallergie“ und erläutert die klinischen Konsequenzen für die jodhaltige Desinfektion vor intravitrealer operativer Medikamentengabe (IVOM) und Operation sowie für die Indocyaningrün (ICG)-Angiographie.

Ich danke den Autoren für ihre engagierte Mitarbeit an diesem Leitthema und hoffe, dass die folgenden Beiträge Ihnen als Leser neue und klinisch relevante Aspekte für Ihre augenheilkundliche Tätigkeit bieten können.

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PD Dr. T.U. Krohne