Historisches

Die manuelle Therapie (MT) entwickelte sich aus der manuellen Medizin (MM) heraus, welche wahrscheinlich schon seit mehreren Jahrhunderten angewandt wird und bis ins Altertum zurück zu reichen scheint. Während anzunehmen ist, dass diverse Techniken bereits als Bestandteil der Urvölker weltweit bekannt waren, wurden nachgewiesene Darstellungen aus der Zeit Königs Hammurabi etwa 1700 v. Chr. in Mesopotamien gefunden. Mehr als 1000 Jahre später beschreibt Hippokrates (460–385 v. Chr.) manuelle Techniken und sowohl als vermutete Ursache von Beschwerden als auch zu behandelndes Substrat Subluxationen der Wirbelsäulengelenke. Weiterentwickelt wurden genau diese Gedanken von Galen (131–202 n. Chr.), wo frei übersetzt dann von Wirbelblockierungen gesprochen wurde, ein Wording, dass sich in vielen Fachbereichen, aber auch landläufig in der Bevölkerung hartnäckig hält. Avicenna (auch bekannt als der Arzt der Ärzte) aus Bagdad (980–1037 n. Chr.) nahm Beschreibungen der Techniken von Hippokrates in seinem medizinischen Text „Das Buch der Heilung“ auf [17].

Im weniger aufgeklärten Mittelalter geht der Einsatz von manuellen Anwendungen mehr und mehr auf Laienbehandler wie die Bonesetters in England, Schäfer in Deutschland, Algebristas in Spanien oder Renunctores in Italien über und wird nicht mehr als ärztliches Handwerk verstanden, sondern von den genannten Gruppen von Generation zu Generation weitergegeben [1, 17].

Im Mittelalter geht der Einsatz von manuellen Anwendungen mehr und mehr auf Laienbehandler über

Es dauerte anscheinend bis in das 17. Jahrhundert, bis die MM wieder im ärztlichen Feld aufzufinden war. Aus diversen Schulen entwickelten sich schlussendlich Ende des 19. Jahrhunderts 2 prägende Richtungen bzw. Philosophien der MM heraus. Auf der einen Seite gründete Andrew T. Still die osteopathische Schule und David D. Palmer (als u. a. Gemischtwarenhändler und Lehrer) die Schule der Chiropraktik. Auch wenn die tatsächlichen Techniken sehr ähnlich, wenn nicht komplett gleich, durchgeführt werden, unterscheiden sich die beiden Strömungen v. a. in ihren Anfangsjahrzehnten durch unterschiedliche Ideen des Wirkmechanismus und dem breiten Feld an Indikationen, Schmerz war dabei nur eine von vielen [17]. Heute müssen sich beide Richtungen v. a. aus der wissenschaftlichen Community den Vorwurf fehlender Wirksamkeitsnachweise und unzureichender, unwissenschaftlicher Wirkmechanismen gefallen lassen [10], was neben ausreichend vorhandener, teilweise auch polemischer Diskussion [11] in den letzten Jahren dazu geführt hat, osteopathische und chiropraktische Ausbildungen an universitäre Einrichtungen zu binden. Eine tiefergehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Bereichen der Osteopathie bzw. Chiropraxis würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die aktuelle Forschung zu Wirkmechanismen und physiologischer Zusammenhänge, wie weiter unten dargestellt, ist nach Ansicht der Autoren jedoch auch für die diese Disziplinen von Bedeutung.

Für den Bereich der manuellen Therapie sind v. a. 3 Persönlichkeiten hervorzuheben, die sich für die Anwendung manueller Techniken für Physiotherapeuten einsetzten und als Vorreiter für die manuelle Therapie weltweit, aber auch im deutschsprachigen Raum zu betrachten sind. Der Brite Dr. James Cyriax begann sich in den 1960er-Jahren dafür einzusetzen, dass Traktionsbehandlungen und Mobilisationen der peripheren Gelenke von Physiotherapeuten durchgeführt werden konnten. Freddy Kaltenborn aus Norwegen entwickelte die MT v. a. mit dem Schwerpunkt auf biomechanische Aspekte weiter, und Geoffrey Maitland aus Australien brachte insbesondere die klinischen Denkprozesse in das Feld der MT hinein und war ebenso ein Vorreiter der MT wie Stanley Paris in Neuseeland. Diese Persönlichkeiten, Kaltenborn, Paris und Maitland waren letztendlich, neben anderen der Physiotherapieszene bekannten Namen wie Robin McKenzie (Neuseeland) und Gregory Grieve (UK), dafür verantwortlich, dass 1974 die International Federation of Orthopaedic Manual Therapy (IFOMT) gegründet wurde. Die Einhaltung von Standards, wie beispielweise für Manipulationen und Mobilisationen, wurden erstmalig im legendären Meeting auf Gran Canaria im Jahr 1973 abgeprüft und somit einer Qualitätskontrolle unterzogen. Dieses Retreat verschiedener Größen der manuellen Szene gilt als Startschuss für die Entwicklung eines Curriculums für orthopädische manuelle Therapie (OMT) im Zuge einer Zusatzausbildung für Physiotherapeuten [14]. Besagtes Curriculum wird seit Jahren regelmäßig überprüft, und die verschiedenen Organisationen, welche OMT-Abschlüsse anbieten, müssen sich an diese Vorgaben halten und sowohl theoretische als auch praktische Inhalte in vorgegebenem Umfang lehren und evaluieren [20].

Aktuelle Situation – Konzepte

Eine vollständige Darstellung aller Konzepte, welche aktuell manualtherapeutische Inhalte vermitteln, ist in Anbetracht stetig neu entstehender Schulen nur schwer möglich. Neben den 3 großen Schulen und ihren dahinter stehenden organisierenden Institutionen – International Maitland Teachers Association (IMTA), Orthopädische Manuelle Therapie nach dem Kaltenborn-Evjenth Konzept (OMT KEK) und der International Academy of Orthopedic Medicine (IAOM) – existiert heute eine Vielzahl kleinerer bzw. weniger umfangreicher Konzepte wie das Mulligan-Konzept, McKenzie (Mechanical Diagnosis and Treatment, MDT), Cranio Facial Therapy Academy (CRAFTA®), Neuro Orthopaedic Institute (NOI®). Diese haben sich häufig aus den genannten größeren Gruppierungen heraus entwickelt und decken teilweise spezifischere Gebiete, wie orofaziale Syndrome oder unspezifische Wirbelsäulenbeschwerden, vertiefend ab.

Gemein ist allen das Bestreben nach Weiterentwicklung auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse

Einem bestimmten Konzept eine Überlegenheit über andere Konzepte zuzuschreiben, wäre unseriös und nicht korrekt. Alle genannten Schulen sind den Autoren dieses Artikels direkt bekannt und bergen, soweit man sich dieses Urteil überhaupt anmaßen darf, in sich Stärken und Schwächen, sei dies auf technischer Ebene oder bezogen auf klinische Denkprozesse. Gemein bleibt allen Konzepten das Bestreben nach Weiterentwicklung auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, sowohl externer als auch interner Evidenz, und somit v. a. eine Auseinandersetzung mit der eigenen Konzeptidee.

Etwas einfacher gestaltet sich die Orientierung im Bereich der Anbieter manualmedizinischer Ausbildungen. Diese werden in Österreich im Zuge von Diplomen der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) organisiert und beschränken sich aktuell auf 3 Orte. In Wien wird seit Jahrzehnten MM nach Prof. Dr. Tilscher gelehrt, in Graz bietet die Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Manuelle Medizin (ÖAMM) rund um Prof. Mengemann und Prof. Lackner Diplomkurse an, und auch in Linz ist es inzwischen möglich, das ÖÄK-Diplom „Manuelle Medizin“ zu absolvieren.

In Deutschland organisiert die Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin e. V. (DGMM) über 3 Untergruppierungen Fortbildungen für MM. Hier finden sich auch Fortbildungen für Physiotherapeuten, welche in diesem Fall, zumindest nicht offensichtlich, einem der klassischen Konzepte zuzuordnen sind.

Unterschiede manuelle Medizin – manuelle Therapie

Neben der ärztlich vorbehaltenen Behandlungsmethode der therapeutischen Lokalanästhesie (TLA) wird in der MM in der Untersuchung zusätzlich der Schwerpunkt auf bildgebende Verfahren, insbesondere Röntgenuntersuchungen, gelegt. Bei den Behandlungstechniken gibt das IFOMPT-Curriculum (International Federation of Orthopaedic Manipulative Physical Therapists) klar vor, welche Manipulationstechniken von Physiotherapeuten angewandt werden dürfen. Das dürfte eines der Unterscheidungsmerkmale zwischen MM und MT sein, explizit die ausschließliche Anwendung von High-Velocity-Low-Amplitude(HVLA)-Manipulationen an der Wirbelsäule, während in der MT neben klassischen Gelenk- und Weichteilmobilisationen auch Techniken über einen großen mechanischen Hebel gelehrt werden, bei diesen aber ausdrücklich auf die größere mechanische Belastung und auch die dadurch potenzierte Gefährdung auf Strukturen hingewiesen wird. Zusätzlich gibt das IFOMPT-Curriculum vor, neben der allgemein klinischen Evaluierung zur Anwendung einer Manipulationstechnik [19], einen prämanipulativen Check anzuwenden und sich das Einverständnis der behandelten Person einzuholen [20].

Wissenschaftliche Auseinandersetzung

Sowohl klinisch-experimentelle als auch Forschung aus den Grundlagenbereichen lieferten in den letzten 20 Jahren umfassende Erkenntnisse zu möglichen Wirkmechanismen. Bereits 2011 appelliert Max Zusman in seinem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „The modernisation of manipulative therapy“ [23] zu einer dringenden Abkehr von biomedizinisch orientierten Denkmodellen hin zu biopsychosozial ausgelegten Erklärungsmodellen und -ansätzen innerhalb der MT bzw. MM. Dominant neurophysiologische Effekte und weniger mechanische Komponenten sollten als Wirkmechanismen integriert werden. Das Verharren in rein biomechanischen Aspekten birgt ein fehlerhaftes Denken und führt u. U. auch zu falschen Behandlungsansätzen. Das scheinbare Vorhandensein einer abnormalen Beweglichkeit, d. h. einer landläufig als Steifigkeit bezeichneten Einschränkung, kann weder adäquat diagnostiziert noch nachhaltig durch Mobilisationen oder Manipulationen beeinflusst werden [9, 13]. Primär spielen Komponenten wie eine erhöhte Mechanosensitivität von betroffenen Strukturen und endogene, teilweise inhibierende neuroimmunologische Prozesse eine Rolle in der Verbesserung der Beweglichkeit und in der Symptomatik [23].

Mechanische Stimuli erzeugen unumstritten Effekte in den jeweiligen Zielgeweben

Die tatsächlichen Wirksysteme manueller Anwendungen umfassen biomechanische, periphere und zentrale neurophysiologische und kognitive Mechanismen [21]. Mechanische Stimuli erzeugen unumstritten Effekte in den jeweiligen Zielgeweben, die Beeinflussung von entzündlichen Prozessen, dadurch bedingter Nozizeption und einer möglicherweise bestehenden Schmerzerfahrung stehen jedoch in deutlicher Assoziation mit zentralnervösen und autonom-vegetativen Vorgängen und sind, ähnlich Placebomechanismen, auch von Erwartungshaltungen und emotionalen Zuständen der betroffenen Personen abhängig (Abb. 1; [3,4,5]). Kurzfristige und messbare Effekte, u. a. auf sensorische Schwellen [8], sind gut beschrieben und bieten die Möglichkeit für das häufig beschriebene „window of opportunity“, um Patienten Selbstwirksamkeit im Zuge ihrer Rehabilitation zu ermöglichen.

Abb. 1
figure 1

Wirkmechanismen und -orte der manuellen Therapie nach Bialosky et al. (2009, 2018) [3, 5] – erstellt und übersetzt von den Autoren (BT). Erläuterung s. Text; ACC anteriorer zingulärer Kortex, NS Nervensystem, PAG periaquäduktales Grau, RVM rostrale ventromediale Medulla

Die Abb. 1 stellt Überlegungen zu den komplexen Wirkweisen der MM bzw. MT dar und zeigt, auf welchen Ebenen sich Interventionen auswirken und dementsprechende schmerzlindernde und funktionssteigernde Effekte haben können. Das dargestellte Modell geht davon aus, dass ein vorübergehender mechanischer Reiz auf das Gewebe eine Kette von neurophysiologischen Wirkungen hervorruft. Die durchgezogenen Pfeile stehen für einen direkten Vermittlungseffekt. Gestrichelte Pfeile weisen auf eine assoziative Beziehung hin, die eine Assoziation zwischen einem Konstrukt und seiner Messung beinhalten kann. Dunkelblaue Kästchen zeigen die mögliche objektive Messbarkeit eines Konstrukts an [3, 5].

Cook [5] beschreibt MT heutzutage v. a. als schmerzmodulierendes Verfahren und dabei primär wirksam bei schmerzadaptiven Patienten. Somit erscheint MT auch bei anhaltenden Schmerzsyndromen insofern eine Berechtigung zu haben, als dass man davon ausgehen kann, dass ein Teil der Personen mit schmerzbedingten Beeinträchtigungen schneller und daher womöglich besser auf manuelle Anwendungen reagiert als ein anderer Teil. Es scheint daher gleichzeitig wenig sinnvoll zu sein, bei Ausbleiben einer Schmerzreduktion und gleichzeitiger Verbesserung der Funktion an manualtherapeutischen bzw. -medizinischen Interventionen festzuhalten, da es unwahrscheinlich ist, dass diese Gruppe von Patienten nach mehrmaligem Behandeln reagieren wird [7]. Manuelle Therapie sollte daher niemals isoliert von Faktoren wie Patientenverhalten, Aktivitätslevel und dem aktuellen Wissensstand seitens der betroffenen Person zu seinen oder ihren Beschwerden betrachtet werden und inkludiert stets Bewegungstherapie und edukative Maßnahmen [18].

Geri et al. [12] beschreiben in ihrem Artikel die analgetischen, affektiven und somatoperzeptiven Aspekte der Berührung. Der Begriff der Somatoperzeption setzt sich zusammen aus dem altgriechischen Wort „σωμα“ (Körper) und dem lateinischen „perceptio“ (die Gesamtheit der Wahrnehmungsprozesse, der Inhalt der Wahrnehmung selbst). Bei somatoperspektiven Aspekten handelt es sich demnach um eine verbesserte, stärker integrierte Körperwahrnehmung des Patienten und die Förderung der Reorganisation der mentalen Repräsentation des Körpers, insbesondere für die Regionen, die weniger gut wahrgenommen werden können, wie z. B. die Wirbelsäulenregion. Sowohl die sensorische Orientierung, d. h. die gesteigerte Fähigkeit, taktile Reize auf der Körperoberfläche besser lokalisieren zu können, als auch die sensorische Diskrimination zwischen schädlichen und nicht bedrohlichen Reizen führen zu einer Verringerung des Angst- und Vermeidungsverhaltens und haben somit möglicherweise sogar präventiven Charakter [15, 22].

Auch die Psychoneuroimmunologie legt Berührung in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen

Auch die Forschung im Bereich der Psychoneuroimmunologie legt Berührung in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. Dabei werden sowohl positive als auch negative Komponenten erforscht, man kann jedoch davon ausgehen, dass angesichts der elementaren Bedeutung körperlich-seelischer Berührungen für das Immun- und Stresssystem eine komplexere biopsychosoziale Wirkweise manueller Therapieansätze anzunehmen ist und diese auch im Sinne so genannter beziehungsmedizinischer Aspekte mitberücksichtigt werden sollten. Berührungsassoziierte Therapiemethoden verleihen der Behandler-Patienten-Beziehung Bedeutung und Tiefe und erzielen auch daher therapeutische Effekte [16].

Die MT hat sich neben der MM also nicht nur in konzeptueller Hinsicht, vor dem Hintergrund der Ideen und Philosophien ihrer Gründer, weiterentwickelt, sondern auch in Hinblick auf klinisch-experimentelle und Grundlagenforschung [6]. Die Erkenntnisse und Beiträge der jeweiligen Personen sollen Wertschätzung, unabhängig von blindem Gurudenken, erfahren und ebenso wie evidenzbasierte Ansätze berücksichtigt und inkludiert werden. Dies gilt v. a. in Bezug auf deren eigentliches Bestreben, die Idee manueller Anwendungen weiterzuentwickeln und sich aktuellen Erkenntnissen nicht zu verwehren [2].

Fazit für die Praxis

  • Wissenschaftliche Aspekte sollten dazu beitragen, die Anwendung manualtherapeutischer Maßnahmen kritisch und mit Bedacht zu betrachten.

  • Nur so kann die Disziplin auf Dauer im Gesundheitssystem auf evidenzbasierten Fundamenten bestehen und weiterhin ihre Berechtigung behalten.