In den Inhalten eines medizinischen Studiums und der Ausbildung von Angehörigen der Gesundheitsfachberufe (z. B. Physiotherapeuten) haben sich noch nicht überall die kritische Distanz zu althergebrachten Verfahren und Verhaltensweisen sowie der Wille zur deren Prüfung durchgesetzt. Zu erleben sind daher auch immer wieder die unkritische Vermittlung der Messung von Beckenasymmetrie und Beinlängendifferenz sowie die vage und spekulative Übertragung der Bedeutung dieser Messergebnisse auf die Ätiologie von beispielsweise Rückenschmerzen und Pathologien der Hüft- und Kniegelenke. Ohne die vielfältigen Einflussfaktoren bei der Entstehung dieser Beschwerden zu berücksichtigen, wird ggf. eine Behandlung mit Korrektur von Beinlängen unterschiedlichster Art oder eine Manipulation der Beckenringgelenke durchgeführt.

Diese narrative Übersicht soll einen Beitrag leisten, Bestimmungen knöcherner Referenzpunkte (Landmarken) differenzierter zu betrachten und eine Diskussion über Sinn und Unsinn dieser Messungen sowie deren Bedeutung anzuregen.

Die Argumentationskette baut auf folgende Abschnitte auf:

  • Anlässe für die Bestimmung der Lage der knöcherne Referenzpunkte am Becken

  • Bedeutung der Bestimmung der Positionen dieser Referenzpunkte

  • Einfluss der Variationsanatomie auf die Bestimmung einer Beckenasymmetrie

  • Zuverlässigkeit der manuellen und apparativen Bestimmung der Referenzpunkte

Begriffsbestimmungen

Als „Beckenposition“ wird hier die räumliche Ausrichtung des Beckens im Kontext mit Wirbelsäule und Femora verstanden. Die Beckenposition (im Kontext mit Wirbelsäule und Hüftgelenken) nimmt mit zunehmendem Alter und bei Personen mit (lumbalem) Flachrücken ab [1] und mit zunehmender lumbaler Lordose zu [2].

Unter einer „Beckenkippung“ wird eine Absenkung der Spinae iliacae anteriores superiores (SIPS) nach ventral-kaudal verstanden.

Als „pelvic tilt“ wird die Anwinkelung der Linie SIPS zur Spina iliaca anterior superior (SIAS) gegenüber einer horizontalen Linie in Höhe der SIPS bezeichnet (Abb. 1), ausgehend von der Nullposition des Beckens [3], wobei die SIAS horizontal und die Symphyse vertikal eingeordnet sind. Das erlaubt die Betrachtung der Anatomie unabhängig von Lendenwirbelsäule und Femora [4].

Abb. 1
figure 1

Berechnung des „pelvic tilt“ (Definition s. Text). SIAS Spina iliaca anterior superior, SIPS Spina iliaca posterior superior. (In Anlehnung an Preece et al. [4])

Eine „Beckenasymmetrie“ besteht, wenn frontal eine unterschiedliche Höhe der Cristae ilacae (Höhe der Beckenkämme, Beckenhöhe) oder anderer Landmarken (jede Spina etc.) bzw. sagittal ein seitendifferentes „pelvic tilt“ festgestellt wird.

Hintergrund

Knöcherne Referenzpunkte des Beckens werden in der Medizin mit unterschiedlichen Zielen eingesetzt. Lalonde et al. [5] bezeichnen sie als „internal pelvic landmarks“. Sehr häufig werden diese Landmarken palpatorisch oder durch Bildgebung unterschiedlicher Art bestimmt.

Perlman et al. [6] sehen eindeutige Zusammenhänge zwischen knöchernen Referenzpunkten und -winkel und der Vorhersage einer sicheren vaginalen Geburt. Bendová et al. [7] schlagen vor, die Abweichungen knöcherner Beckenstrukturen im Zusammenhang mit der Beckenbodenmuskelaktivierung bei inkontinenten Personen zu betrachten. In der Industrie werden diese Landmarken beispielsweise benutzt, um Rennradsattel zu konstruieren und optimale Sitzpositionen zu entwickeln [8].

Eine gute Ausrichtung der Pfanne bei einer Totalendoprothese (TEP) der Hüfte ist ein essenzieller Faktor für den langfristigen Erfolg der Operation. Wird diese nicht gut ausgerichtet, kann es u. a. zu folgenden Komplikationen kommen [9]: Dislokationen, Impingement, Bewegungseinschränkungen, Osteolyse und Pfannenlockerung [10]. Das fehlerhafte Platzieren des Pfannenersatzes ist der häufigste Grund für postoperative Hüftluxationen. Das Risiko einer Luxation kann bei ungenauer Positionierung der Pfanne bis auf das 4‑Fache ansteigen [11].

Eine Freihandpositionierung der Pfanne führt häufig zur Fehlpositionierung. Das intraoperative Palpieren ist durch Abdeckungen und Gewebe des Patienten eine echte Limitierung für die Genauigkeit der Platzierung des Pfannenersatzes [11].

Daher wurden verschiedene apparative Techniken entwickelt, um die Genauigkeit der Positionierung zur verbessern [10]. Die Beckenposition durch eine a.-p.-Röntgenaufnahme soll als wichtige Orientierung zur sicheren Positionierung der acetabulären Anteile bei einer TEP-Operation dienen ([10, 12] und viele Autoren mehr). Allerdings sind diese Methoden nicht immer zuverlässig [12].

Des Weiteren können a.-p.-Bilder („anterior pelvic plane“) des Beckens mit Röntgen oder Computertomographie (CT) digitalisiert werden [9, 10]. Zudem sollte die sagittale Beckendarstellung („pelvic tilt angle“) berücksichtigt werden. Diese Verfahren haben prä- und postoperativ Limitierungen, da sie nicht die funktionellen Orientierungen des Beckens im täglichen Leben widerspiegeln [10]. Darüber hinaus haben auch hier morphologische Variationen einen erheblichen Einfluss auf die Interpretation der Bildgebung [4].

Auf Basis der intraoperativen Palpation knöcherner Landmarken (SIAS und Tuberculum pubicum beider Seiten) kann ein navigationsgestütztes System die Ausrichtung der Pfanne berechnen. Die auf Navigation basierende Technik hat sich als besonders zuverlässig erwiesen [9].

Selbst bei diesem System sprechen Amiri et al. [10] von einer Herausforderung bei der Bestimmung dieser Knochenpunkte aufgrund der Beeinflussung durch die Weichteilüberdeckung. Ein Body-Mass-Index von über 27 beeinflusst bereits die Darstellung der knöchernen Landmarken [11].

Die Beeinflussung der Weichteilabdeckung ist zudem abhängig von der Position des Hüftgelenks. In Flexion ist die Palpation der SIAS daher am schwierigsten. Der Unterschied von Markierungen der SIAS zwischen Extension und Flexion der Hüfte in Rückenlage beträgt bis zu 17 mm. Die Ungenauigkeit korreliert dabei mit dem Ausmaß der Hüftflexion (r = 0,70 [13]). Klinisch interessant ist dies beispielsweise bei Rollstuhlfahrern [5]. Die Weichteilabdeckung am Becken kann bei übergewichtigen Personen mehrere Zentimeter betragen.

Beckmann et al. [9] sprechen von klaren Limitierungen der Zuverlässigkeit beim Aufsuchen der knöchernen Landmarken mit einer „imageless navigation“. Selbst ein kleiner Fehler im palpatorischen Aufsuchen der o. g. knöchernen Strukturen kann zur hohen Ungenauigkeit bei der Platzierung des Pfannenersatzes führen. Eine Abweichung der SIAS-Lokalisation von 1–4 mm kann ca. 11° Ungenauigkeit in Anteversion und Inklination des Pfannenersatzes zur Folge haben. Dies ist offensichtlich bei über 30 % aller Operationen mit „imageless navigation“ der Fall [9]. Lin et al. [11] teilen diese Ansicht und bemerken, dass selbst kleine Abweichungen der Palpation der Os-pubis-Höhe die Kalkulation der Pfannennavigation erheblich beeinträchtigen kann. Um einen Eindruck vom Palpationsvorgang zu bekommen, lassen sich dazu verschiedene Videos auf YouTube [14] betrachten.

Methodik

Basis der Inhalte ist eine Recherche in PubMed und Cochrane CENTRAL vom 11.09.2019 (Tab. 1). Dabei wurden Suchanfragen mit folgenden Suchbegriffen gestellt:

  • „pelvic asymmetry“ OR „pelvis asymmetry“ OR „pelvic tilt“ OR „pelvis tilt“ OR „pelvic dysfunction“ OR „pelvis dysfunction“ OR „pelvic morphology“ OR „pelvis morphology“ OR „pelvic landmarks“ „pelvis landmarks“ sowie

  • „palpation“ AND („pelvic“ OR „pelvis“) NOT („floor“ OR „muscle“)

Die Summe der ermittelten Titel nach ungefilterter Suche betrug 1026. Nach Einsatz des Filters Abstract wurden 181 Titel manuell auf der Ebene von Abstracts auf Eignung geprüft. Diese Übersicht basiert somit auf selektierten 28 Artikeln.

Tab. 1 Suchdokumentation, eigene Darstellung

Ergebnisse

Variabilität der Morphologie

Preece et al. [4] untersuchten die knöcherne Variabilität von 30 vollständigen Beckenpräparaten. Im Mittel betrug das „pelvic tilt“ 13° (±5°, Range 0–23°), wobei es hier keine statistischen Geschlechterunterschiede gab. Die hohe Standardabweichung weist allerdings auf die besonders hohe Variabilität der Messergebnisse hin. Diese Ergebnisse unterstützen die in vivo gewonnenen Erkenntnissen von Kroll et al. [2] mit 3–22° „pelvic tilt“ bei 54 Personen sowie von Levine u. Whittle [15] mit 11,3° (±4,3°) und von weiteren Untersuchungen.

In 16 von 30 Präparaten war das „pelvic tilt“ seitendifferent. Die Messungen im Seitenvergleich zeigten sehr variable Höhenunterschiede von − 7 (± 2 mm) bis + 9 mm (± 5 mm).

Preece at al. [4] schlossen aus diesen Erkenntnissen „…, dass die morphologische Variation zwischen den Hüftbeinen einen signifikanten Einfluss auf die zugehörigen klinischen Maße der Rotationsasymmetrie hat“. Weiterhin diskutierten die Autoren, ob diese morphologischen Unterschiede im Zusammenhang mit Beinlängendifferenzen zu sehen sind.

Wenn dem so wäre, müsste eine hohe Korrelation zwischen der Rotationsasymmetrie der Hüftbeine und der Beinlängendiskrepanz zu erwarten sein. Krawiec et al. [16] untersuchten dies und fanden jedoch nur eine schwache Korrelation (r = 0,33).

In ihrem Review über Artikel mit insgesamt 323 CT-Scans machen Badii et al. [17] deutlich, dass unterschiedliche Beckenhöhen den trügerischen Eindruck von Beinlängendifferenzen vermitteln können.

Eine Beckenasymmetrie besteht zudem auch bei Personen mit Wirbelsäulendeformitäten, z. B. Skoliose. Das Ausmaß wurde hier mit dem „sacro-femoro-pubic angel“ bestimmt [1]. Die Beckenmorphologie bei Jugendlichen mit idiopathischer Skoliose in der frühen Adoleszenz zeigt deutliche Unterschiede zu Jugendlichen ohne Skoliose [18]. In ihrer anatomischen Studie untersuchten Boulay et al. [19] 12 knöcherne Beckenpräparate mit 39 verschiedenen knöchernen Punkten an jedem Becken hinsichtlich einer Seitendifferenz und berechneten 71 anatomische Beziehungen zueinander. Das knöcherne Becken hat Variationsanatomien bei 20 verschiedenen gemessenen Parametern. Der untere Teil der Beckenasymmetrie, insbesondere auf Acetabulumebene, ist in einer klinischen Untersuchung nicht zugänglich. Mit der Bestimmung der Beckenkammhöhe lässt sich nur der Symmetriegrad des oberen Beckens messen. Die Autoren kommen u. a. zu folgendem Schluss: Wichtig ist es, die Symmetrie oder Asymmetrie des Beckens unter Verwendung morphologischer und anatomischer Variablen zu klären und das knöcherne Becken unabhängig von der Position des Beckens im Raum zu bewerten. Diese Bewertung muss in Verbindung mit der Beurteilung der klinischen Skoliose betrachtet werden [19].

Eine Beckenasymmetrie in Frontalebene besteht beispielsweise bei Erwachsenen mit unilateral entwickelter Hüftdysplasie (Abb. 2). Darüber hinaus korreliert der Grad der Asymmetrie mit dem Grad der Hüftdysplasie. Das Becken der dysplastischen Seite hat immer eine geringere Höhe in der Frontalebene. Bei milder Hüftdysplasie (Crowe Typ 1) beträgt der Unterschied im Mittel 1,9 mm, 8,2 mm bei Typ 2, 12,8 mm bei Typ 3 und 18,7 mm bei Typ 4. Ausgenommen bei Crowe Typ 1 sind alle Unterschiede statistisch hochsignifikant [20].

Abb. 2
figure 2

Beckenasymmetrie bei Hüftdysplasie. (Mit freundl. Genehmigung, © Sportklinik Stuttgart, alle Rechte vorbehalten)

Bei asymptomatischen Personen gibt es häufige Variationen der Beckenposition. Zu dieser Erkenntnis gelangten Herrington et al. [21] in ihrer Studie, in der Messungen des „pelvic tilt“ mit einem speziellen Messgerät, dem sog. Palpation Meter (PALM, Performance Attainment Associates, St. Paul, Minnesota, USA), bei 120 beschwerdefreien jungen Erwachsenen durchführten. Auch Badii et al. [22] stellten in ihrem Review zu Messungen von Beckenparametern mittels CT-Scans morphologische Unterschiede fest. Eine Asymmetrie in Höhe der Beckenkämme lag zwischen − 11 und + 7 mm im Seitenvergleich rechtes Ilium zu linkem Ilium.

Eine variable knöcherne Morphologie (auch) des Beckens ist nicht typisch für das menschliche Skelett. Beckenasymmetrien sind auch bei Primaten bekannt. Sowohl zwischen den verschiedenen Klassifikationen als auch innerhalb einer Art zeigen die Becken eine variable knöcherne Anatomie [23].

Fazit zur Beckenasymmetrie.

Das knöcherne Becken hat eine normale Variationsanatomie in allen Ebenen. Die resultierende Frage lautet: Wenn wir Beckenhöhen messen, was messen wir – Variationsanatomie oder Dysfunktionen? Sicher ist: Wir messen nur das obere Becken und Variationen gibt es auch in nichtsymptomatischen Personen.

Reliabilität von Messungen durch manuelle Palpation

Die anatomische Orientierung am knöchernen Becken erfolgt üblicherweise durch manuelle Palpation der knöchernen Landmarken, insbesondere der SIAS und SIPS. Bestimmungen der Beckenposition können augenscheinlich davon abgeleitet oder durch apparative Messgeräte unterstützt werden. So wird in einigen Studien das bereits erwähnte PALM-Gerät [24] für die Messung des „pelvic tilt“ benutzt.

Holmgren u. Waling [25] untersuchten in ihrer Arbeit die Frage der Reliabilität der manuellen Palpation knöcherner Referenzpunkte. Die Aufgabe dreier Tester war, die Symmetrie der Lage der Processi transversi von L5, beider SIPS sowie die sagittale Position der inferolateralen Pole des Sakrums in Bauchlage an 27 Patienten zu bestimmen. Die körperlichen Eigenschaften dieser Patienten kann als übertragbar auf die physiotherapeutische Praxis angesehen werden. Die prozentuale Übereinstimmung bei den Testern war 40–44 % mit einem κ‑Wert von 0,11–0,17, was die Autoren als weit entfernt von einer moderaten Übereinstimmung interpretierten [25].

Eine höhere Intertester-Reliabilität erzielten Kilby et al. [26] mit ihrer Untersuchung, wobei 9 trainierte Manualtherapeuten an 3 jungen asymptomatischen Erwachsenen u. a. die Lage der linken und rechten SIPS in Bauchlage palpierten. Der Intraklassenkoeffizient (ICC) lag zwischen 0,58–0,68. Verglichen mit der Lagebestimmung der SIPS durch diagnostischen Ultraschall zeigten sich Abweichungen der Palpation in einem Range von bis zu 12 mm, was die Autoren als unakzeptabel für die statische Bestimmung einer Beckenasymmetrie bewerteten.

Genauigkeit von apparativen Messungen

Der ICC für die Palpation der SIPS war moderat (0,61–0,76) bei der Messung der Beckenhöhe an 300 stehenden Probanden mit einem „crest level tester“. Hierbei handelt es sich um horizontale Metallarme, die an einem Messstativ befestigt sind und auf den Beckenkämmen platziert werden [27].

In der Arbeit von Azevedo et al. [28] wird im Umgang mit dem PALM eine gute Intratester-Reliabilität beschrieben: ICC = 0,89–0,96. Dabei maßen 2 Tester das „pelvic tilt“ an 20 Studierenden (Abb. 3). Methodisch zu bemängeln ist die fehlende Beschreibung des Palpationsvorgangs und des Übergangs zwischen Palpation und der Anlage des Geräts. Des Weiteren wird nicht berichtet, wie die Position des Geräts auf den Knochenpunkten gesichert wurde. Damit stellt sich bei diesem etwa 270 € teuren Gerät die Frage der Validität und Nachvollziehbarkeit bei dessen Handhabung (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Anlage des PALM-Geräts. (In Anlehnung an Azevedo et al. [28], mit freundl. Genehmigung, © P. Fischer, alle Rechte vorbehalten)

An 15 gesunden Personen und 15 Patienten mit unterschiedlichen Patholgien in der Lenden-Becken-Hüft-Region untersuchten 2 Tester mithilfe des PALM die Höhe der Beckenkämme (Abb. 4) und des „pelvic tilt“ [29]. Dabei sind dieselben Einschränkungen der Methodik wie bei der Arbeit von Azevedo et al. [28] zu bemängeln. Auch wurde nicht beschrieben, ob die Probanden aufgefordert wurden, eine gleichmäßige Belastung unter beiden Füßen wahrzunehmen. Jedenfalls berichten die Autoren über einen ICC von 0,84 (Beckenhöhe) und 0,98 (Beckenkippung). Der Range in den Unterschieden zwischen den Testern betrug bis zu 21 mm. In beiden Gruppen war bei etwa der Hälfte der Probanden die Beckenkammhöhe nicht symmetrisch, was die Frage des Zusammenhangs zwischen Beckenasymmetrie und Pathologie erneut untermauert. Die Validität der Messungen der Beckenhöhe wurde im Vergleich zu einer a.-p.-Röntgenaufnahme bestimmt, wobei die Probanden die Messposition der manuellen Messung verlassen mussten, um zur Position der Röntgenaufnahme zu gelangen [29].

Abb. 4
figure 4

Die Anlage des PALM zur Bestimmung der Beckenhöhe. (In Anlehnung an Petrone et al. [29] mit freundl. Genehmigung, © P. Fischer, alle Rechte vorbehalten)

In der Arbeit von Beardsley et al. [30] setzten 2 Tester zu 2 Zeitpunkten ein „digital pelvic inclinometer“ ein, um den „pelvic tilt“ zu messen. Die Messungen an 18 gesunden Studierenden ergaben ein mittleres „pelvic tilt“ von 10,5–10,6° mit einer hohen Standardabweichung von 5–5,8°. Auch hier wurde nicht berichtet, wie der Palpationsvorgang und der Übergang zwischen Palpation und Anlage des Geräts erfolgte und wie die Position des Geräts auf den Knochenpunkten gesichert wurde. Weiterhin wurde nicht erwähnt, ob die Reihenfolge der Probanden zu den Messzeitpunkten randomisiert wurde. Jedenfalls wurde die Intrarater-Reliabilität mit einem ICC von 0,81–0,88 angegeben. Dabei gab es Messdifferenzen bis zu 8,8° zwischen den beiden Messpunkten. Die Interrater-Reliabilität wurde mit 0,88–0,95 angegeben, wobei über Messdifferenzen zwischen beiden Testern von bis zu 11,2° berichtet wurde [30].

Fazit zur Messgenauigkeit.

Manuelle Messungen der Beckenhöhe sind nicht zuverlässig. Die resultierende Frage lautet: Welchen Wert haben Messergebnisse, wenn die Messmethode nicht zuverlässig ist?

Diskussion

Therapeutische Herangehensweisen z. B. mit dem Ziel, eine starke Beckenkippung mit verstärkter lumbaler Lordose zu korrigieren, basieren auf Studien aus den 1980er und 1990er Jahren, wie beispielsweise der von During et al. [31]. Die Autoren postulierten einen Zusammenhang zwischen einer „guten Haltung“ und der Beckenposition und auch andere Korrelationen, die einen pathologischen Wert von abweichenden Beckenpositionen suggerieren [31]. Andere Autoren stellten klar, dass der Einfluss der Beckenposition auf lumbale Beschwerden zu relativieren sei. So stellten Levangie et al. [27] fest: „Die Beckenasymmetrie war in keiner Weise, die klinisch sinnvoll erschien, positiv mit Kreuzschmerzen assoziiert.“

Holmgren u. Waling [25] postulierten das Feststellen einer Dysfunktion der Beckengelenke durch statische oder dynamische Tests auf der Basis einer Palpation knöcherner Landmarken. Kilby et al. [26] entgegneten, dass diese Tests in mehreren Untersuchungen keine vertretbare Intertester-Wiederholungszuverlässigkeit und letztlich damit auch eine unzureichende Validität zeigten.

In der Arbeit von Levine u. Whittle [15] wurde die Beckenposition bei 20 Studierenden mit aufgesetzten Markern eines Vicon Motion Capture Systems zur 3‑D-Bewegungsanalyse an L1 und S2 mit moderater Reliabilität gemessen. Die Autoren schlussfolgerten u. a., dass Bauchmuskelübungen diese Beckenkippung erfolgreich korrigieren könnten. Damit wird auf der Basis einer schwachen Zusammenhangsmessung vorgeschlagen, dass eine starke Beckenkippung pathologisch einzuordnen sei. Im Übrigen wurde dieser Zusammenhang durch 2 Arbeiten in den folgenden Jahren angezweifelt [2, 32]. Interessanterweise kommen Lafage et al. [32] durch ihre Studie über den Zusammenhang zwischen Beckenposition und gesundheitsbezogener Lebensqualität (r = 0,28–0,42) sowie funktioneller Einschränkungen durch Rückenbeschwerden (r = 0,42–0,55) bei Personen mit deutlichen Wirbelsäulendeformitäten u. a. zur Erkenntnis, dass Beschwerden mit einer geringeren Beckenkippung korrelieren. Letztlich ist auch die lumbale Beweglichkeit unabhängig von der Beckenposition [2].

Diese narrative Übersicht legt folgende Erkenntnisse nahe:

  1. 1.

    Eine Variationsanatomie des Beckens ist häufig. Sie ist in einem solchen Ausmaß vorhanden, dass bei der Bestimmung von knöchernen Referenzpunkten der Eindruck einer Dysfunktion entstehen könnte. Eine Bestimmung knöcherner Landmarken kann daher nicht vorhersagen, ob eine Variationsanatomie oder eine pathologische Fehlposition vorliegt.

  2. 2.

    Eine Variationsanatomie des Beckens ist geschlechterunabhängig und bei Personen mit Rücken‑, Hüft- oder Beckengelenkbeschwerden sowie bei nichtsymptomatischen Personen vorhanden.

  3. 3.

    Der Rückschluss von einer festgestellten Beckenasymmetrie auf den Einfluss bestehender oder noch zu erwartender Rücken‑, Hüft- oder Beckengelenkbeschwerden ist nach derzeitiger Studienlage zumindest umstritten und daher nicht empfehlenswert.

  4. 4.

    Die knöcherne Orientierung am Becken ist für das genaue Platzieren der Pfanne bei Totalendoprothesen des Hüftgelenks essenziell und bestimmt u. a. eine postoperative Komplikationsrate.

  5. 5.

    Das manuelle Aufsuchen von erreichbaren Landmarken ist über die Studien hinweg im höchsten Fall moderat zuverlässig. Die Intertester-Zuverlässigkeit ist offensichtlich abhängig von der Weichteilabdeckung. Sie sinkt bei Personen mit körperlichen Eigenschaften, die häufig in der Praxis zu sehen sind. Sie steigt bei schlanken jungen Probanden.

  6. 6.

    Die Zuverlässigkeit ist in besonderem Maße abhängig von den individuellen Palpationsfertigkeiten der Untersucher, die bei allen Studien gegeben war. „Basis für akzeptable Zuverlässigkeit sind akkurate, standardisierte und wiederholbare Palpationsfähigkeiten“ [25].

  7. 7.

    Die Studien über eine apparativ unterstützte Messmethode scheinen eine größere Reliabilität zu suggerieren, wobei dem aufmerksamen Leser einige methodische Ungereimtheiten auffallen.

Diese Ergebnisse decken sich mit den Erkenntnissen eines systematischen Reviews von Stovall & Kumar [33]. Danach ist die Palpation knöcherner Referenzpunkte des Beckens keine zuverlässige Beurteilungsmethode. Herrington et al. [21] unterstützen dies: „Die Reliabilität der Palpation der SIPS und SIAS muss angezweifelt werden.“ Holmgren u. Waling [25] ergänzen: Die Palpation anderer knöcherner Punkte, wie Processus transversus L5 und inferolateraler Pol des Sakrums, ist ebenso wenig zuverlässig.

Limitierungen

Diese Übersichtsarbeit unterliegt den üblichen methodischen Limitierungen eines narrativen Reviews. Nicht auszuschließen sind maßgebliche Publikationen, die durch Suchen in weiteren Datenbanken hätten gefunden werden können.

Fazit für die Praxis

  • Der Sinn einer Beckenasymmetriebestimmung ist in hohem Maße anzuzweifeln.

  • Unterrichtung in und Diagnostik mit diesen Verfahren sollten beendet werden.

  • Behandlungen mit Korrektur von Beinlängen oder Manipulation der Beckenringgelenken auf der Basis der Feststellung einer Beckenasymmetrie einzuleiten, ist nicht evidenzinformiert.

  • Letztlich ist es sinnvoller, sich mit guter klinischer Diagnostik den Schmerzgeneratoren und anschließend der Causa von Rücken- und Beckenbeschwerden zu nähern.

  • Eine nachvollziehbare sinnhafte Konsequenz hat das intraoperative Palpieren zur Platzierung des Pfannenersatzes bei Hüftprothesen und in der pränatalen Geburtshilfe.