Die Hand des Menschen ist in Form und Konstruktion weit mehr als nur eine „Greifvorrichtung“. Sie stellt ein hochentwickeltes und sehr anpassungsfähiges Werkzeug dar, mit dem der Mensch für seinen eigenen Körper sorgen und die Umwelt „behandeln“ kann. Darüber hinaus dient sie als hochempfindliches Tastorgan [1].

Eine gute Funktion der einzelnen Gelenke, Muskeln und Gewebeanteile ist unabdingbar, um diese Fähigkeiten zu gewährleisten.

Im Folgenden werden die unspektakulär wirkenden Techniken nach Sell [2], nämlich die Mobilisation der Interphalangealgelenke, in einem neuen Blickwinkel beleuchtet.

Technik

Vor jeder Behandlung erfolgen die eingehende Anamnese und Befunderhebung. Primär liegen an den proximalen Interphalangealgelenken (PIP) und distalen Interphalangealgelenken (DIP) meist strukturell degenerative Veränderungen im Rahmen von Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis oder nach Traumen vor. Funktionelle Störungen sind eher selten [2], dürften aber v. a. nach Ruhigstellungen und Traumen als Functio laesa auftreten.

Als manualmedizinische Technik werden u. a. das dorsovolare (dorsopalmare) translatorische Gleiten und die radioulnare Gleitbewegung beschrieben [2].

Dazu werden die beiden Gelenkpartner zwischen Daumen und Zeigefingerkuppe des Therapeuten möglichst gelenknah gefasst. Dabei wird die proximal angelegte Hand als Haltehand und die distal angelegte Hand als Arbeitshand verwendet, im Fall des dorsovolaren translatorischen Gleitens von dorsal und volar, im Falle des radioulnaren Gleitens von radial und ulnar.

Die Techniken werden durch eine Traktion, die infolge der exzentrischen Anordnung des Bandapparats aus 10–15° Flexion erfolgt, vorbereitet. Dann wird in beiden Fällen in die entsprechende Arbeitsrichtung weich, rhythmisch und repetitiv gearbeitet. Dabei soll stets unter der Schmerzgrenze behandelt werden ([2]; Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Anlage der dorsovolaren Gleitmobilisation an einem Median-Sagittal-Schnitt eines Fingers, der mittels Thiel-Lösung konserviert wurde. 1 Phalanx proximalis, 2 Phalanx distalis, rot: Haltehand, grün: Arbeitshand

Unter bisherigen Gesichtspunkten wurde bei diesen Techniken ausschließlich das Gelenk behandelt. Ein weiterer Fokus sollte jedoch auf benachbarte Strukturen gerichtet werden.

Anatomie

Das proximale (Articulatio interphalangea proximalis) und das distale (Articulatio interphalangea distalis) Interphalangealgelenk stellen ein modifiziertes Scharniergelenk (Ginglymus) dar. Der Aufbau der Gelenkpartner und des Kapselbandapparats ermöglicht neben den Hauptbewegungsrichtungen Flexion und Extension in geringem Ausmaß Seitneigung und Rotationen nur als passives Begleitmuster der aktiven Bewegung [1].

Der Kapselbandapparat wird von dem paarig angelegten Lig. collaterale und Lig. collaterale accessorium sowie von einer palmaren Platte (Lig. palmare) gebildet.

Sehnen des Fingers sind dorsal die Aponeurosis dorsalis und palmar die Sehnen des M. flexor digitorum superficialis et profundus (Abb. 2 und 3).

Abb. 2
figure 2

Median-Sagittal-Schnitt eines Fingers, der mittels Thiel-Lösung konserviert wurde. 1 Grundgelenk, 2 proximales Interphalangealgelenk, 3 Distales Interphalangealgelenk, 4 Sehnen des M. flexor digitorum superficialis et profundus, 5 subkutanes Gewebe volarseitig

Abb. 3
figure 3

Sonographische Darstellung des proximales Interphalangealgelenks (PIP) von volar mittels 33-Hz-Sonde. Deutlich sichtbar werden die unterschiedlichen Gewebeschichten. 1 PIP, 2 Beugesehen, 3 subkutanes Gewebe

Die Betrachtung der Hand und der Finger unter faszialen Gesichtspunkten ergibt ein überraschend komplexes Bild. So stellen die Faszien der Hand eine Fortsetzung der Unterarmfaszie dar. Dorsalseitig teilt sich die Faszie in ein superfizielles und ein profundes Blatt. Dazwischen liegen die Hautvenen und -nerven. Das tiefe Blatt der Faszie teilt sich wiederum in 2 Schichten, zwischen denen die Strecksehnen verlaufen [1].

Die Innervation wird durch die Nn. digitales dorsales (aus N. radialis und N. ulnaris) und die Nn. digitales palmares (aus N. medianus und N. ulnaris) gebildet.

Diese anatomische Komplexität darf als Folge des funktionellen Bedarfs angenommen werden. Zum einen dienen die einzelnen faszialen Schichten als Gleitschichten gegeneinander und für die darin eingebetteten Strukturen. Zum anderen dürfen wir annehmen, dass auch in diesen Gewebeschichten vermehrt Rezeptoren vorkommen, die für die Bewegungssteuerung von Bedeutung sind.

Neurophysiologie

Der sensorische Input inkludiert die kinematischen Informationen. Darunter versteht man insbesondere die Gelenkstellung, die Muskellänge und die Sehnenspannung. Diese Informationen werden durch Rezeptoren wie Muskelspindeln, Golgi-Sehnen-Organe und Mechanorezeptoren erbracht, die am Beginn einer jeden Bewegungssteuerung stehen. Die sensorische Weiterverarbeitung erfolgt zentral, wobei weite Teile des Zentralnervensystems (ZNS) darin involviert sind.

Angesichts der fixen Länge unserer Gliedmaßen ergibt sich eine mathematische Beziehung zwischen den Gelenkwinkeln und der Position der Hand im Raum. Dies erlaubt dem Gehirn, die Position der Hand im Raum am Ende eines Bewegungsvorgangs zu schätzen, vorausgesetzt, die Gelenkwinkel und die Gliedmaßenlänge sind bekannt. Die neuronalen Schaltkreise, die dazu fähig sind, gelten als Beispiele für „interne Modelle“. Kenneth Craik formulierte diesen Begriff in den 1940er Jahren und beschrieb sie als „small scale model of external reality“. Solche Modelle ermöglichen es uns, Bewegungen vorab im Geist zu planen, zu testen und allenfalls Alternativen bereitzustellen. Dabei greift das Gehirn auf bereits bekannte Muster zurück [3].

Besonders beachtenswert ist, dass es dem ZNS möglich ist, aus der Information des aktuellen Zustands nicht nur die Bewegung im Voraus zu planen, sondern auch den daraus zu erwartenden sensorischen Input zu antizipieren. Dies wird durch das Reafferenzprinzip ermöglicht [4]. Dabei wird eine Kopie des motorischen Befehls in Form einer Efferenzkopie abgelegt. Dies wird als „feedforward model“ bezeichnet.

Die nun neuerlich eintreffenden sensorischen Signale der Bewegung werden mit der Efferenzkopie verglichen. Im Falle einer Abweichung können die motorischen Zentren relativ schnell die Bewegung korrigieren, noch bevor höhere Zentren involviert werden. Dies wird als sog. inverses Modell bezeichnet ([3]; Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Schema der sensomotorischen Kontrolle. Diese beginnt stets im sensorischen System. Nach Weiterleitung der Ausgangssituation über entsprechende afferente Systeme erfolgen die Verarbeitung und Planung des Bewegungsprozesses im „inneren Modell“. Nach Abschluss dieses Prozesses wird der motorische Befehl nach peripher gesandt. Eine Efferenzkopie wird angelegt und sofort mit dem neuen sensorischen Input verglichen. Bei Diskonkordanz wird umgehend eine Korrektur eingeleitet, noch bevor höhere Zentren in Anspruch genommen werden. ZNS Zentralnervensystem

Die Hand bietet sich insbesondere zur Untersuchung dieser Modelle an [5, 6].

Der Vorteil dieses „Feedforward-Mechanismus“ ist seine Geschwindigkeit. Ein Bewegungsplan liegt primär vor und wird durchgeführt. Einkommende sensorische Signale werden bestätigt und nur im Falle einer Nichtübereinstimmung werden Korrekturen der Bewegung notwendig bzw. sind höhere motorische Zentren miteinzuziehen. Im Falle eines Feedback-Systems müsste jedes eintreffende Signal erneut analysiert und verrechnet werden.

Die Schwäche dieses Systems liegt in der Abhängigkeit vom bestmöglichen sensorischen Signal sowie vom Zustand des Erfolgsorgans, im beschriebenen Fall der Hand. Auch die Faktoren Trägheit, Viskosität und Steifheit des Gewebes spielen eine große Rolle. Die Kenntnis über diese Faktoren erlangen wir in unserer frühen Kindheit im Rahmen der sensomotorischen Entwicklung [3]. Bei der Bewegungsplanung werden diese Werte in unserem „inneren Modell“ berücksichtigt.

Die Nozizeption infolge von Traumen oder entzündlichen Prozessen löst eine Aktivierung der spinal-segmentalen somato- und viszerosympathischen Reflexwege aus. Dabei wird ein nozizeptiver Reiz über Aδ- und C‑Schmerzafferenzen zum Rückenmark geleitet. Im Hinterhorn schalten die Neurone auf „wide dynamic rage neurons“ (WDR-Neurone) um. Diese erreichen das Vorderhorn, wo sie auf segmentale Motoneurone umschalten. Hierdurch ergibt sich eine motorische Systemaktivierung mit Aktvierung der homolateralen Flexoren (Schutzreflex). Außerdem erreichen die WDR die sympathischen Kerne in den Seitenhörnern, was wiederum eine sympathische Systemaktivierung mit Veränderung der Mikrozirkulation und somit der Trophik nach sich zieht. Viskosität nimmt ab, Trägheit und Steifheit nehmen zu. Die sensorischen Ergebnisse stimmen nicht mehr mit dem ursprünglichen Plan überein.

Therapeutische Möglichkeiten

Mit manuellen Techniken, wie sie eingangs beschrieben wurden, lässt sich die Gewebekonsistenz verändern – zum einen durch direkte mechanische Effekte, zum anderen durch eine Stimulation der Mechanosensoren. Dadurch erregte Aβ-Fasern dämpfen über GABAerge inhibitorische Interneurone die WDR-Aktivität und unterbrechen die somato- und viszerosympathischen Reflexwege [7]. Vermutlich lässt sich auch die Wahrnehmung selbst positiv beeinflussen. Durch Traktion, dorsovolares Gleiten etc. werden nicht nur die faszialen Mechanosensoren der Gelenkstrukturen erfasst, sondern über die Sehnen der Mm. lumbricales und Mm. interossei auch die in diesen Muskeln sehr dicht angesiedelten Spindelrezeptoren und damit im weiteren Sinne die Propriozeption. Die Hand samt Fingern hat ihre Bedeutung für die Raumorientierung; wir setzen dieses Organ unzählige Male am Tag zur räumlichen Orientierung und Eigenwahrnehmung ein, ohne uns dessen bewusst zu sein. Eine schmerzhafte Functio laesa der Hand- oder Fingergelenke macht unsicher, da Propriozeption und in gewisser Weise auch die Raumorientierung in Mitleidenschaft gezogen sind. Dies ist beispielsweise beim Treppabgehen mit Tragen eines Gegenstands oder bei Benutzung einer Gehhilfe der Fall.

Die Bedeutung der sensorischen Strukturen an Hand und Fingern wird am Beispiel der explorativen Gestaltwahrnehmung des Säuglings deutlich. Ab dem 3. Monat, genauer mit Beginn der Medianisierung der Hände, beginnen diese mehr und mehr ihre Bedeutung als Nahsinn zu erlangen. Im Weiteren werden sie dazu benutzt, den Raum zu ergründen und zu manipulieren.

Im Rahmen von funktionellen Störungsbildern wie dem Tonusasymmetriesyndrom sind diese Fähigkeiten gestört. Dies resultiert wiederum in einer verzögerten motorischen Entwicklung.

Hier zeigen Stimulationen des propriozeptiven Systems gerade über die dicht spindelbesetzten Muskeln regelmäßig eine Verbesserung der Motorik. Dies ist natürlich nur eine klinische Beobachtung, der wissenschaftliche Nachweis muss erst erbracht werden.

Fazit für die Praxis

  • Mit der Behandlung der myofaszialen Strukturen sowie der Mobilisation der Gelenke der Hand lässt sich durch den beschriebenen Pathomechanismus eine Verbesserung der Beweglichkeit sowie der Raumwahrnehmung und somit der motorischen Kontrolle erzielen.

  • Mit dem derzeitigen Stand der Grundlagenforschung eröffnen sich insbesondere auch für das Wirkprinzip der manualmedizinischen Behandlung neue Erklärungsmodelle und damit neue Perspektiven.