Leserbrief

B. Krocker

Gemeinschaftspraxis Cottbus

Weder die ursprünglich publizierten Auffassungen zur Bedeutung von muskulären Dysbalancen noch die publizierte Diskussion kann das aufgegriffene Problem soweit klären, dass der Bedarf weiterer Untersuchungen in klare Bahnen gelenkt wird, wozu die schulmeisterlichen Untertöne in der Erwiderung durch P. Günther, K. Zima, E.J. Seidel (2006) hinsichtlich der unzureichenden Bibliotheksarbeit junger Autoren/innen ebenso wie der Verweis auf eine angeblich exakte Definition „arthromuskulärer und muskulärer Dysbalancen“ (letzteres unterstellt muskuläre Dysbalancen ohne Arthron!) weiteren wissenschaftlichen Unmut fördern. (Ein Literaturnachweis fehlt hier wie leider auch anderswo in dieser Erwiderung!)

Nach manualmedizinischem Verständnis ist das Arthron (am Achsenorgan Vertebron) eine Funktionseinheit mit verschiedenen Bestandteilen (Knochen, Kapsel, Ligamente, Muskulatur, Rezeptoren für afferente Signale und Effektoren der efferenten Signale als Teil der zentralnervalen Steuerung, Dermatom etc). Die persistierende Funktionsstörung eines dieser Teile beeinflusst die Arthron- (Vertobron-)Funktion mit auf der Zeitschiene meist negativen Folgen in ihrer funktionellen Gesamtheit (funktionelle Dekompensation). In der Historie der manuellen Medizin erkannten Manualtherapeuten zunächst die Störung der Gelenkfunktion, woraus der Begriff der arthrogenen Dysfunktion (Blockierung) hergeleitet wurde. Inzwischen ist die Bedeutung weiterer Bestandteile – der Muskulatur und ihrer zentralnervalen afferenten und efferenten Steuerung u. a. –des Arthrons (Vertebrons) für die Entstehung klinisch relevanter Störungen in unsere Lehre und die tägliche Praxis eingeflossen, so dass der Blockierungsbegriff erheblich erweitert wurde bzw. gelegentlich wegen seiner vorwiegend biomechanischen „Besetzung“ bei der neurophysiologischen Betrachtung der Funktionsstörungen schon ganz vermieden wird.

Insofern ist für die Erweiterung unserer Auffassungen zum Kiefergelenk die Einführung eines Begriffes „kraniomandibuläre Dysbalance“ relevant, allerdings darf man von Autoren aus dem Hochschulbereich, die diesen Begriff erstmals verwenden, mindestens den Versuch einer inhaltlichen Beschreibung und Abgrenzung von anderen bereits eingeführten Fachtermini – kraniomandibuläre Dysfunktion – erwarten.

Dies ist für ein junges Fachgebiet wie das unserer manuellen Medizin sowohl eine grundlegende Voraussetzung für fundierten Meinungsaustausch innerhalb der Manualmediziner und zu den angrenzenden Fachgebieten als auch eine Voraussetzung zur Weiterentwicklung unserer jungen Fachdisziplin.

Inwieweit Funktionsstörungen des Kiefergelenkes, seiner Muskulatur und besondere funktionelle Variationen im Bereich der mimischen, supra- und infrahyoidalen Muskulatur und anderen Regionen (Verkettungen) durch Musiker- oder Sängertraining hervorgerufen werden, kann man sicher durch multizentrische Studien relativ schnell erfassen. Ob aber die dabei gefundenen Funktionsstörungen für die professionelle Leistung Voraussetzung sind, darf bis zum Beweis des Gegenteils nicht behauptet, sondern muss wissenschaftlich kritisch angezweifelt werden.

Aus der Betreuung von Leistungssportlern verschiedenster Disziplinen wurde in den 80er-Jahren deutlich, dass optimale Muskel- und damit Gelenkfunktion die Voraussetzung langjähriger sportlicher Spitzenleistung ist, während generelle oder zeitweilig eingetretene Funktionsdefizite immer wieder in Dekompensationen des Stütz- u. Bewegungssystems münden, die dann wegen der besonderen Beanspruchung in Training und Wettkampf als häufige Verletzungsmuster beschrieben und behandelt wurden [1]. Therapeutische Misserfolge wegen Missachtung der funktionellen Zusammenhänge im weiteren Trainingsregime führten zur vorzeitigen Beendigung mancher hoffnungsvoller Sportlerkarriere, weshalb auch dem Wissen der Instrumentallehrer um die funktionellen Grundlagen des Kiefergelenkes, seiner Muskulatur und anderer Faktoren der instrumentellen Leistungsfähigkeit bei Bläsern und Sängern nicht zuviel Vorschusslorbeer zugestanden werden darf.

Können wir analog zu den verschiedenen Sportdisziplinen Elemente einer Leistungsstruktur des Bläsers oder des Sängers beschreiben, die wenigstens die Funktionen des Kiefergelenkes, der mimischen, supra- und infrahyoidalen Muskulatur einschließen?

Übereinstimmend mit den Autoren und Frau Steinmetz will ich abschließend verdeutlichen, dass viele ernsthafte Untersuchungen und Überlegungen notwendig sein werden, ehe die funktionsmedizinische Betreuung und Entwicklung von Musikern im Struktur- und Funktionselement Stütz- und Bewegungssystem mit dem Schwerpunkt Kiefergelenk und dessen weit zu fassender Funktionsmuskulatur auf ein professionelles medizinisches Niveau nach manualmedizinischem Funktionsverständnis gebracht ist.