Einleitung

Bereits Rudolf Virchow vermutete einen Zusammenhang zwischen der Gestalt eines Tumors und dem klinischen Verlauf. Die ersten Versuche, mikroskopische Eigenschaften eines Tumors mit der Tumorbiologie und dem klinischen Verhalten in Beziehung zu setzen, datieren wohl auf David Paul von Hansemann zurück [47]. Hansemann, ein Schüler von Virchow, untersuchte systematisch den mikroskopischen Aufbau von Tumoren und publizierte in den 1890er-Jahren über abnorme Mitosefiguren. Das Buch von Hansemann wurde seinerzeit als revolutionär betrachtet, aber durchaus kontrovers bewertet und stimulierte somit viele wissenschaftliche Diskussionen. Ivan Damjanov hat kürzlich geschrieben, dass die exakte mikroskopische Beschreibung der erfassten Tumoren als eine der ersten „Evidenz-basierten“ Vorgehensweisen angesehen werden könnte [3]. In den 1920er-Jahren publizierte Albert C. Broders, ein Pathologe der Mayoklinik, seine Erfahrungen mit dem Grading von Plattenepithelkarzinomen der Lippen und korrelierte den histologischen Grad mit dem Ausgang der Tumorerkrankung [1, 2]. Er verwendete ein 4‑armiges System und klassifizierte Tumoren nach ihrem Gehalt an „inkomplett“ differenzierten Zellen mit einer Unterteilung in 25, 50, 75 oder 100 %. Seine Vorstellungen, ein Grading von Tumoren durchzuführen, wurden von vielen anderen Pathologen aufgegriffen und für verschiedene Organtumoren angewandt. Die Ideen von Broders finden sich auch in den heute verwendeten Gradingsystemen wieder. In diese Gradingsysteme wurde unterschiedliche viele histologische Merkmale aufgenommen, in manchen Systemen bis zu 15 Parameter. In den Gradingsystemen wurden Eigenschaften der Gewebearchitektur eines Tumors ebenso berücksichtig wie zytologische Merkmale. Das Spektrum reichte dabei von der alleinigen Berücksichtigung histoarchitektonischer Parameter beim Grading des Prostatakarzinoms bis hin zu zytologischen, nukleären Gestalteigenschaften beim Nierenzellkarzinom. Das Prinzip, basierend auf den Arbeiten von Broders, war, differenzierte Abschnitte eines malignen Tumors zu identifizieren und die gut differenzierten Abschnitte als Prozentanteile des Gesamttumors anzugeben. Es stellte sich schnell heraus, dass solche Gradingsysteme mühsam in der Anwendung und oft nicht reproduzierbar waren, woraus eine schlechte Korrelation mit der Prognose resultierte. Die Grade wurden in fast allen Arbeiten mit dem 5‑Jahres-Überleben korreliert. An ein gutes Gradingsystem wurden deswegen folgende Forderungen gestellt: einfach, leicht anzuwenden, zuverlässig und reproduzierbar. Derartige Systeme sollten in der Lage sein – so wurde postuliert – den Ansprüchen längerer Zeiträume zu genügen und sich so langfristig als klinisch nützlich zu erweisen. Die Gradingsysteme waren nur für die Anwendung an Primärtumoren entwickelt worden. Es wurde versucht, die Kriterien für das Grading des Primärtumors auch für Metastasen oder Tumorrezidive anzuwenden oder sogar für Tumoren, die zuvor mit einer Radio- und/oder Chemotherapie behandelt worden waren. Hinsichtlich der Möglichkeiten der Anwendungen gibt es keinen generell akzeptierten Konsens.

Aufgrund der Defizite aller Gradingsysteme ergab sich die Notwendigkeit, diese im Laufe der Jahre und mit zunehmenden Erfahrungen über fehlende Korrelationen mit der Prognose weiterzuentwickeln. Zu den Weiterentwicklungen gehörten auch Überlegungen die praktisch ausschließlich verwendeten morphologischen Parameter durch zusätzliche, für das Grading wichtige Faktoren zu ergänzen oder zu ersetzen. Viele Parameter wurden ausprobiert, durchgesetzt hat sich bisher nur die immunhistochemische Untersuchung mit dem Antikörper MIB-1 (Ki-67).

Betrachtet man die klinische Bedeutung der Gradingsysteme, dann müssen diese mit den Daten anderer Systeme wie dem Staging und einiger klinischer Scores verglichen und ggf. multivariat analysiert werden. Bei einigen Tumorentitäten wurde das Grading auch bei der Therapieplanung berücksichtigt. Bei niedrig malignen Tumoren ist eine chirurgische Resektion ausreichend, bei hoch malignen Tumoren werden zusätzliche Therapiemaßnahmen gefordert.

Seit fast 100 Jahren sind Gradingsysteme ein wichtiger Bestandteil der pathohistologischen Untersuchung. Sie wurden laufend weiterentwickelt. Die Tatsache, dass sie auch in Zukunft immer weiterentwickelt werden müssen, bezeichnete Damjanov [3] als „Work in Progress“.

Die Beiträge des vorliegenden Heftes haben es sich zur Aufgabe gemacht, den aktuellen Stand des Fortschritts der Gradingsysteme bei verschiedenen Organtumoren aufzuzeigen. Sie werden neben kurzen historischen Rückblicken Feststellungen zu den histologische Subtypen und den Anwendungen von Gradingsystemen machen, die derzeit empfohlenen Gradingsysteme (wenn es mehrere gibt) und die Gradingkriterien beschreiben, die Korrelationen mit der Prognose darstellen und Kommentare zu Stärken und Schwächen der vorhandenen Gradingsysteme abgeben.

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Prof. Dr. C. Wittekind