Strukturelle Definition von Amyloidfibrillen

Gegenwärtig existieren in verschiedenen wissenschaftlichen Fachgebieten unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Amyloidfibrille“. So wird Amyloid in der klassischen pathologischen Diagnose grundsätzlich als extrazelluläre Ablagerungen von Polypeptidfibrillen definiert, die ein charakteristisches Aussehen im Elektronenmikroskop, ein typisches Röntgenbeugungsmuster und eine mit rotgrüner Doppelbrechung assoziierte Affinität für den Farbstoff Kongorot zeigen. Außerdem zeichnen sich diese Ablagerungen durch die Anwesenheit von verschiedenen Amyloid-Nebenkomponenten aus, die den eigentlichen Amyloidfibrillen aufgelagert sind, wie z. B. die Serum-Amyloid-P-Komponente [28]. Diese Definition wird beispielsweise durch die Nomenklatur-Kommission der Internationalen Gesellschaft für Amyloidosen vertreten [28].

Aus biophysikalischer Sicht bereitet die klassische Amyloiddefinition jedoch eine Reihe von Problemen. Erstens ist es schwierig, grundsätzlich zwischen intra- und extrazellulären Ablagerungen zu unterscheiden. Extrazelluläre Ablagerungen bilden sich in vielen Fällen aus intrazellulären Vorstufen, und nicht alle Amyloidvorläufer sind extrazelluläre Proteine, wie z. B. das Mikrotubuli-bindende Protein Gelsolin [28]. Zweitens hängt die Bindung von Farbstoffen wie Kongorot stark von den Umgebungsbedingungen ab [18], und sie ist vermutlich selbst für verschiedene Fibrillen des gleichen strukturellen Typus unterschiedlich intensiv. So gibt es eine Reihe von krankheitsassoziierten Fibrillen, die die gleiche grundsätzliche Anordnung der Polypeptidketten besitzen wie klassische Amyloidfibrillen, die aber intrazellulär auftreten oder andere Farbstoffaffinitäten aufweisen, wie z. B. die von folgenden Proteinen abgeleiteten Fibrillen:

  • α-Synuclein (Parkinson-Krankheit),

  • Tau (Alzheimer-Krankheit) oder

  • Huntingtin (Chorea Huntington; [2]).

In biophysikalischen Fragestellungen, die sich mit der Struktur und der Bildung von Amyloidfibrillen befassen, kann aber nicht zwischen Fibrillen unterschieden werden, die sich zwar in ihrer subzellulären Lokalisation oder Affinität für bestimmte Farbstoffe unterscheiden, jedoch die gleiche grundsätzliche Struktur besitzen. Daher erfordern diese Arbeiten eine strukturelle Definition des Begriffs „Amyloidfibrille“. Derartige Definitionen gründen sich darauf, dass Amyloidfibrillen eine besondere konformationelle Anordnung der Polypeptidketten darstellen. Die gemeinsamen strukturellen Eigenschaften von Amyloidfibrillen bilden somit den Kernpunkt dieser Definition, wogegen die genauen Bedingungen der Ablagerung im Gewebe nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Amyloidfibrillen werden daher hier als fibrilläre Polypeptidaggregate definiert, die eine Cross-β-Struktur aufweisen. In dieser Anordnung wird das zentrale strukturelle Rückgrat der Fibrillen aus intermolekularen und prinzipiell unbegrenzt lang fortsetzbaren β-Faltblättern gebildet. In der β-Faltblattgeometrie sind die β-Stränge der einzelnen Polypeptide senkrecht zur Fibrillenachse und die Wasserstoffbrückenbindungen des Faltblatts parallel zur Fibrillenachse angeordnet (Abb. 1 a; [23]). Die β-Faltblätter werden durch regelmäßige, lineare Stapel von Polypeptiden gebildet, die das zentrale strukturelle Charakteristikum von Amyloidfibrillen darstellen. Eine Amyloidfibrille kann aus einem oder mehreren nebeneinander liegenden β-Faltblättern dieses Typs bestehen [23].

Abb. 1
figure 1

Strukturelle Charakteristika von Amyloidfibrillen. a Modell der Cross-β-Struktur, in der regelmäßige Stapel von β-Strängen (orange und dunkelblaue Streifen) durch intermolekulare Wasserstoffbrückenbindungen (gestrichelte Linien) entlang der Hauptfibrillenachse (grauer Pfeil) zu β-Faltblättern verbunden sind. b Schematische Darstellung des Röntgenbeugungsmusters einer Amyloidfibrille. Die scharfen meridionalen Reflexionen (schwarze Bögen) spiegeln den Abstand zwischen den β-Strängen entlang der Fibrillenachse wider (schwarzer Pfeil), während die diffuseren äquatorialen Reflexionen (hellblaue Bögen) dem seitlichen Abstand benachbarter β-Faltblätter entsprechen (hellblauer Pfeil). c Infrarotspektrum des globulär gefalteten β-Faltblattproteins B10 (schwarze Linie; [7]) und von Aβ(1–40)-Amyloidfibrillen (rote Linie), bei denen das Maximum der Amid-I’-Bande typischerweise bei kleineren Wellenzahlen liegt. d Absorptionsspektrum des Amyloidfarbstoffs Kongorot ohne (schwarze Linie) und in der Gegenwart von Amyloidfibrillen (rote Linie). Durch die Bindung an Fibrillen wird das Absorptionsmaximum zu höheren Wellenlängen verschoben, dessen Intensität erhöht, und ein zusätzlicher Absorptions-Peak bei etwa 540 nm tritt auf

Das Vorhandensein einer Cross-β-Struktur kann mittels Elektronen- oder Röntgenbeugung nachgewiesen werden. Die Bestrahlung von Amyloidfibrillen mit Röntgenstrahlen führt zu einem Beugungsmuster mit einer scharfen und intensiven meridionalen Reflexion bei 4,6–4,8 Å und einer diffuseren äquatorialen Reflexion bei etwa 10 Å (Abb. 1 b; [23]). Die dominante meridionale Reflexion wird durch den Molekülabstand zwischen übereinander liegenden β-Strängen eines β-Faltblatts verursacht, der durch die Standardlänge der Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den β-Strängen auf etwa 4,7 Å fixiert ist. Die äquatoriale Reflexion geht auf den Abstand zwischen benachbarten β-Faltblättern im Fibrillenquerschnitt zurück. Da der Packungsabstand der β-Faltblätter von der Aminosäuresequenz abhängt, zeigt diese Reflexion größere Variabilität [5, 23].

Die β-Faltblattstruktur in Amyloidfibrillen unterscheidet sich von den meisten β-Faltblattstrukturen in nativen, globulären Proteinen. Dieser Unterschied kann mittels Infrarotspektroskopie nachgewiesen werden. So zeigen Amyloidfibrillen eine Amid-I’-Bande mit einem Maximum zwischen 1610 und 1630 cm-1, während dieses Maximum bei globulär gefalteten, nativen Proteinen bei 1630–1645 cm-1 liegt (Abb. 1 c; [29]). Vermutlich sind die Unterschiede im Infrarotspektrum auf eine geringere Verdrehung der β-Faltblätter in Amyloidfibrillen zurückzuführen [29]. Außerdem können die β-Faltblätter in Amyloidfibrillen von sogenannten „Konformations-sensitiven“ Antikörpern erkannt werden, die nicht oder nur schwach mit globulär gefalteten Proteinen mit einer nativen β-Faltblattstruktur interagieren. Schließlich besitzen amyloide β-Faltblattstrukturen eine starke Affinität für bestimmte heteroaromatische Farbstoffe wie Thioflavin T oder Kongorot (Abb. 1 d), was in der Pathologie als klassischer Nachweis von Amyloid dient [27].

Die Cross-β-Struktur bildet den Kern der Amyloidfibrillen, welche in elektronenmikroskopischen Aufnahmen meist als unverzweigte, seil- oder bänderartige Aggregate erscheinen (Abb. 2 a). Amyloidfibrillen sind das Ergebnis einer relativ komplexen Bildungsreaktion. Eine der ersten Stufen dabei ist die Bildung von nichtfibrillären Aggregaten, die oft auch als „Oligomere“ bezeichnet werden (Abb. 2 a; [2]). Diese können sich in sogenannte „Protofibrillen“ umwandeln, die die nächste Stufe in der Bildungsreaktion darstellen (Abb. 2 a). Obwohl die heutige Verwendung des Begriffs „Protofibrille“ mitunter variiert, wurde diese Bezeichnung ursprünglich zur Beschreibung früher, fibrillärer Aggregatformen verwendet [8].

„Reife Amyloidfibrillen“ stellen das Endprodukt der Amyloidbildung dar. Mit einer Dicke von 10–20 nm sind sie meist etwas breiter als Protofibrillen, deren Dicke unter 10 nm liegt (Abb. 2 a; [2, 8, 25]). Reife Amyloidfibrillen sind bis zu einigen Mikrometern lang und damit länger als Protofibrillen. Außerdem sind sie geradliniger als die gebogenen, wurmartigen Protofibrillen [25]. Ausgewachsene Fibrillen sind oft helikal gewunden. Diese Helizität äußert sich in transmissionselektronenmikroskopischen Aufnahmen durch das Auftreten von scheinbaren Verjüngungen der Fibrillendicke („Crossover“) in regelmäßigen Abständen. Die meisten helikalen Amyloidfibrillen sind linksdrehend gewunden (Abb. 2 b; [10]). Eine reife Fibrille kann aus einem oder mehreren Protofilamenten bestehen (nicht zu verwechseln mit „Protofibrille“; Abb. 1 a; [10]). Die Protofilamente sind die filamentösen Grundeinheiten einer Amyloidfibrille, ähnlich wie auch Mikrotubuli aus Protofilamenten aufgebaut sind.

Abb. 2
figure 2

Morphologie von präfibrillären und fibrillären Amyloidstrukturen. a Negativ kontrastierte elektronenmikroskopische Aufnahmen von Oligomeren (links), Protofibrillen (Mitte) und reifen Amyloidfibrillen (rechts) des Aβ(1–40)-Peptids. b Die elektronenmikroskopische Aufnahme einer platinschattierten, reifen Aβ(1–40)-Amyloidfibrille zeigt ihre linksdrehende Windung

Biophysikalische Grundlagen der Amyloidbildung

Warum bilden sich Amyloidfibrillen? Oder genauer: Warum bilden Polypeptidketten, die von der Natur dazu vorgesehen sind, native, globuläre Proteinstrukturen aufzubauen, Amyloidfibrillen? Während man ursprünglich davon ausging, dass die Eigenschaft Amyloidfibrillen zu bilden nur sehr wenigen Polypeptidsequenzen zu eigen ist, sind heute schon mindestens 25 verschiedene Vorläuferproteine krankheitsassoziierter Amyloidfibrillen bekannt [28]. Diese zeigen keine gemeinsame Konsensussequenz oder Ähnlichkeit in ihrer nativen dreidimensionalen Struktur. Sie alle können jedoch Amyloidfibrillen bilden, die grundsätzlich einen gleichartigen Aufbau zeigen. Mehr noch, Amyloidfibrillen können sogar im Reagenzglas von einer enormen Zahl unterschiedlicher Polypeptidketten gebildet werden, die in vivo bislang keinerlei Relevanz für Amyloiderkrankungen zeigten. Selbst stark α-helikale, globuläre Proteine wie Apomyoglobin, denen in ihrer nativen Form β-Faltblattstrukturen vollständig fehlen, können in vitro Amyloidfibrillen ausbilden [6]. Amyloidstrukturen können selbst von Polypeptidketten gebildet werden, die nicht dazu in der Lage sind, sich in globuläre Proteine zu falten. Beispiele hierfür sind Homopolymere wie Poly-L-Lysin [5] oder sehr kurze Peptide [13]. Obwohl derartige synthetische Fibrillen nicht unter die in der Pathologie verwendete Definition von Amyloidfibrillen fallen, besteht aus biophysikalischen Gesichtspunkten heraus kein grundsätzlicher Unterschied. So weisen diese Fibrillen ebenfalls eine Cross-β-Struktur auf und können entsprechend der oben eingeführten strukturellen Definition als Amyloidfibrillen klassifiziert werden.

Diese und weitere Arbeiten führten zu dem modernen Konzept der molekularen Grundlage der Amyloidbildung. Demzufolge ist die Fähigkeit zur Amyloidbildung eine intrinsische Eigenschaft der Polypeptidkette, die hauptsächlich auf der Ausbildung von Wasserstoffbrückenbindungen zwischen dem unveränderlichen Polypeptidrückgrat beruht. Das heißt, die Bildung von Amyloidfibrillen resultiert aus der Tatsache, dass Polypeptidketten organische Polymere sind, und folglich – wie auch andere organische Polymere – Strukturen ausbilden, die vor allem diese Polymercharakteristika widerspiegeln [3, 5].

Die Eigenschaften der Aminosäureseitenketten und die chemisch-physikalischen Umgebungsbedingungen beeinflussen jedoch die Wahrscheinlichkeit und Geschwindigkeit der Amyloidbildung [12, 16]. Darüber hinaus bestimmen diese Parameter den genauen Bereich der Polypeptidsequenz, die den selbstkomplementären Cross-β-Kern der Amyloidfibrillen ausbildet [24]. So können Mutationen der nativen Polypetidsequenz die Wahrscheinlichkeit der Amyloidbildung erhöhen und die Aggregation beschleunigen. Solche Mutationen treten bei bestimmten erblichen Varianten von Amyloidkrankheiten auf, z. B. bei der Alzheimer-Krankheit [16]. Mutationsbedingte, erbliche Amyloidosen sind jedoch nicht die häufigste Form dieser Erkrankungen. Der Großteil der Amyloidosen tritt sporadisch auf [1].

Strukturanalyse

Die strukturelle Flexibilität und Heterogenität von Amyloidfibrillen, ihr hohes Molekulargewicht und ihre unlösliche, nichtkristallisierbare Beschaffenheit erschweren die Analyse der dreidimensionalen Fibrillenstruktur mittels etablierter struktureller Techniken, wie Röntgenkristallographie und Flüssigphasen-Magnetresonanz-Spektroskopie, beträchtlich. Abgesehen von einer Vielzahl mehr oder weniger gerechtfertigter Modelle gibt es bislang nur eine extrem geringe Zahl von Amyloidfibrillen, deren Struktur mit atomarer Auflösung geklärt werden konnte. In den folgenden drei Abschnitten geben wir einen Überblick über den Stand der Amyloidstruktur-Aufklärung, der mit Hilfe der strukturellen Haupttechniken Kristallographie, Magnetresonanzspektroskopie und Elektronenmikroskopie erreicht werden konnte.

Strukturanalyse mittels Kristallographie

Die Röntgenkristallographie ist das klassische Verfahren zur Strukturuntersuchung von Proteinen. Mittels Röntgenstrahlen wird ein Beugungsbild eines Proteinkristalls erstellt, aus dem sich die dreidimensionale Struktur des Proteins berechnen lässt. Diese Methode erfordert allerdings die Herstellung eines ausreichend großen Proteinkristalls, was für Amyloidfibrillen bislang nicht erreicht wurde. Jedoch ist es kürzlich gelungen, aus Peptidfragmenten verschiedener Proteine Mikrokristalle herzustellen, deren molekulare Kontakte denen in Amyloidfibrillen sehr ähneln [17, 22]. Die dabei gefundenen Strukturen, sogenannte „steric zipper“, sind wichtige Modellsysteme für das Verständnis der Amyloidbildung. Diese „steric zipper“ bestehen aus zwei nebeneinander gepackten Cross-β-Faltblättern, wobei die Seitenketten dieser β-Faltblätter komplementär und reißverschlussartig ineinander greifen (Abb. 3 a).

Abb. 3
figure 3

Strukturen von fibrillären Aggregaten oder Modellsystemen basierend auf Röntgenkristallographie oder Festkörper-NMR-Daten. a Röntgenkristallstruktur eines Mikrokristalls des Hefe-Prionenproteins sup35 (PDB-Zugangscode 1yjp; [17, 22]). b Festkörper-NMR-Struktur eines Peptidfragments des humanen Proteins Transthyretin in der Amyloidfibrille (PDB-Zugangscode 1rvs; [9]). c Fibrillenmodell des Pilzproteins Het-s basierend auf Festkörper-NMR-Daten (PDB-Zugangscode 2rnm; [26])

Strukturanalyse mittels Magnetresonanzspektroskopie

Strukturanalyse mittels Magnetresonanz- („nuclear magnetic resonance“, NMR-)Spektroskopie erfordert eine kostspielige und aufwendige Markierung großer Proteinmengen mit Isotopen wie 15N oder 13C. Klassische Flüssigphasen-NMR-Verfahren sind außerdem auf kleine Proteine limitiert, sodass die Untersuchung von Amyloidfibrillen aufgrund ihrer beträchtlichen Größe ausscheidet. Allerdings gibt es zwei NMR-Verfahren, die in den letzten Jahren zu wichtigen Erkenntnissen über die Struktur von Amyloidfibrillen führten:

  1. 1.

    Flüssigphasen-NMR kombiniert mit Wasserstoffaustausch und

  2. 2.

    Festkörper-NMR.

Ad 1.: Beim Wasserstoffaustausch untersucht man die Stabilität von H-N-Bindungen im Polypeptidrückgrat, indem man 1H-Isotope (Protium) gegen 2H-Isotope (Deuterium) austauscht oder umgekehrt. Diese Bindung ist stabil, wenn der Wasserstoff über eine Wasserstoffbrücke fixiert wird, z. B. im Falle einer β-Faltblattstruktur. Die H-N-Bindung ist instabil, wenn die Polypeptidkette nicht in eine stabile Konformation gefaltet ist. Auf diese Weise lassen sich Informationen über die Lokalisation der β-Faltblattstruktur in einem Polypeptid gewinnen [14, 19]. Die Berechnung der dreidimensionalen Struktur ist mit diesem Verfahren jedoch nicht möglich.

Ad 2.: Mit den sogenannten Festkörper-NMR-Methoden kann jedoch die dreidimensionale Struktur aufgelöst werden, wie es beispielsweise für ein Peptidfragment von Transthyretin (Abb. 3 b) und ein Fragment des Pilzproteins Het-s in einer Amyloidkonformation gelungen ist (Abb. 3 c; [9, 26]).

Die grundsätzlichen Nachteile der NMR-Spektroskopie bestehen aber in der Notwendigkeit einer Isotopenmarkierung (15N oder 13C) und in der Tatsache, dass NMR-Spektren gemittelte Informationen über alle Amyloidfibrillen einer Probe enthalten, was insbesondere bei strukturell heterogenen Proben ein großes Problem darstellen kann.

Strukturanalyse mittels Elektronenmikroskopie

Diese Nachteile bestehen bei elektronenmikroskopischen Verfahren nicht. Für die Elektronenmikroskopie ist weder eine Isotopenmarkierung erforderlich noch benötigt man strukturell extrem homogene Proben. Da die Strukturanalyse mittels Elektronenmikroskopie ein Einzelpartikelverfahren ist, können strukturell identische Fibrillen aus einer komplexen Probe herausgefiltert werden. Aus den aufgenommenen, digitalisierten Bildern kann mit Hilfe rechenintensiver Computeralgorithmen die dreidimensionale Fibrillenstruktur rekonstruiert werden.

Obwohl mit der Elektronenmikroskopie theoretisch eine atomare Auflösung erreicht werden kann, wird dies derzeit noch durch praktische Komplikationen und Unzulänglichkeiten der Probe verhindert. Die Elektronenmikroskopie ist daher zurzeit vor allem zur Aufklärung der globalen Fibrillenstruktur geeignet.

So ist es mit elektronenmikroskopischen Verfahren kürzlich gelungen, die Struktur einzelner Amyloidfibrillen des Alzheimer-assoziierten Aβ(1–40)-Peptids bei einer Auflösung von 24–39 Å zu rekonstruieren (Abb. 4 a). Dabei zeigte sich, dass einzelne Fibrillen aus ein und derselben Probe enorm unterschiedlich sein können. Diese Heterogenität spiegelt sich in unterschiedlichen Formen, Breiten, Abständen zwischen den „Crossovers“ und Querschnitten der einzelnen Fibrillen wider. So können Aβ(1–40)-Amyloidfibrillen aus derselben Probe Breiten zwischen 10 und 30 nm aufweisen und sehr unterschiedliche Querschnittsformen zeigen: rechteckig, elliptisch oder S-förmig [15]. Strukturelle Polymorphismen wurden auch für Ex-vivo-Amyloidfibrillen beschrieben [4, 11].

Interessanterweise ergab eine Untersuchung des Polymorphismus von Aβ(1–40)-Amyloidfibrillen, dass sich die einzelnen Fibrillen nicht einer definierten Anzahl morphologischer Klassen zuordnen lassen. Stattdessen bilden sie ein fast kontinuierliches morphologisches Spektrum, in dem Fibrillendicke oder Crossover-Abstand nahezu kontinuierlich variieren [15]. Diese Beobachtungen legen nahe, dass eine sehr große Anzahl verschiedener Fibrillentypen aus einem Polypeptid entstehen kann. Dieser strukturelle Polymorphismus stellt eine wichtige Eigenschaft der Amyloidbildung dar, die sie deutlich von der Faltung von Polypeptidketten in globuläre Proteinstrukturen unterscheidet. Bei der Proteinfaltung entsteht nämlich für eine definierte Proteinsequenz stets nur eine geordnete Konformation mit einem spezifischen Satz von Wechselwirkungen zwischen den Aminosäuren.

Abb. 4
figure 4

Dreidimensionale Struktur verschiedener Fibrillenmorphologien des Aβ(1–40)-Peptids basierend auf Kryoelektronenmikroskopie. a Obere Reihe: Seitenansicht von 11 verschiedenen Fibrillen. Untere Reihe: β-Faltblattmodell von 3 dieser Fibrillen (β-Faltblätter rot oder blau; [15]). b Aufsicht auf den Querschnitt einer Aβ(1–40)-Fibrille, die mit einer Auflösung von etwa 8 Å rekonstruiert wurde [21].

Mittels Elektronenmikroskopie konnte außerdem für eine Aβ(1–40)-Amyloidfibrille eine Auflösung von unter 10 Å erzielt werden [20]. Dies stellt für Alzheimer-Amyloidfibrillen die höchste bis dahin erzielte Auflösung dar. Diese Fibrille besitzt eine doppelhelikale Struktur bestehend aus zwei Protofilamenten (Abb. 4 b). Jedes Protofilament wird von zwei Cross-β-Faltblättern durchzogen, die miteinander gepaart vorliegen. Diese Struktur erinnert damit an die Anordnung innerhalb der „steric zipper“, wie sie zuvor in Peptidmikrokristallen beschrieben wurden [17, 22]. Weitere Arbeiten sind allerdings notwendig, um die Struktur dieser Fibrille mit atomarer Auflösung beschreiben zu können.

Fazit für die Praxis

Aufgrund ihres identischen Bauprinzips weisen Amyloidfibrillen aus verschiedenen Polypeptiden gemeinsame biochemische, morphologische und spektroskopische Eigenschaften auf. Dennoch zeigen In-vitro-Proben von Amyloidfibrillen oft eine erhebliche strukturelle Heterogenität, die sich in unterschiedlicher Windung, Form, Breite und Querschnitt der einzelnen Fibrillen widerspiegelt. Das Auftreten mehrerer deutlich verschiedener Morphologien sowie Unterschiede in der Anfärbbarkeit mit Amyloidfarbstoffen wurden auch für gewebeisolierte Amyloidfibrillen beschrieben. Verschiedene Fibrillenmorphologien können Unterschiede in der Toxizität gegenüber neuronalen Zellen zeigen und verschiedene klinische Ausprägungen der Amyloidose bedingen. Der strukturelle Polymorphismus stellt somit eine wichtige Eigenschaft von Amyloidfibrillen dar, der sie deutlich von der Faltung globulärer Proteinstrukturen unterscheidet und wichtige Implikationen für die klinische Diagnose und therapeutische Ansätze hat.