50 Jahre Informatik – auf den Tag genau lässt sich dieses Jubiläum nicht datieren. Schon deshalb nicht, weil man es näher spezifizieren müsste: beispielsweise wurden Informatikmethoden und -systeme erforscht und entwickelt lange bevor der Karlsruher Nachrichtentechnik-Professor Karl Steinbuch den Begriff „Informatik“ dafür prägte. Das war im Jahr 1957, in Frankreich tauchte die „Informatique“ zum ersten Mal im Jahr 1962 auf. Ein Voll-Studium der Informatik mit dem Abschluss als „Diplom-Informatiker“ nach neun Semestern gab es in Deutschland ab dem WS 1969 an der damaligen „Universität (TH) Karlsruhe“, in Österreich wurde im gleichen Jahr ein Informatik-Studiengang gestartet, der mit dem Titel „Diplomingenieur“ abschloss – was dort übrigens bis heute so ist, in Österreich kennt man also keine Diplom-Informatiker*innen.

Die erste deutsche Informatik-Fakultät wurde 1972 eingerichtet, die Eintragung der Gesellschaft für Informatik als „e. V.“ in das Vereinsregister beim Amtsgericht Bonn erfolgte am 29.10.1969, die erste Jahrestagung – die heutige INFORMATIK – fand im Jahr 1971 statt.

Also passt es ganz gut, wenn das Informatik Spektrum in diesem Jahr ein Themenheft zum 50er herausbringt. Die Einladung, mich dessen anzunehmen, habe ich gerne und sofort angenommen, denn ich gehöre zu denjenigen, die im Oktober 1969 in Karlsruhe in das erste Semester Informatik eingestiegen sind. Zu den ersten Diplom-Informatikern gehöre ich dagegen nicht – die gab es nämlich schon im Jahr 1971, und dies nicht etwa deshalb, weil man damals das Studium in vier Semestern hätte abschließen können. Vielmehr wurden die Studiengänge seinerzeit so eingerichtet, dass man von verwandten anderen Studien, etwa der Nachrichtentechnik oder der Mathematik, in das 5. Semester, also nach dem sogenannten „Vordiplom“, umsteigen konnte. Hintergrund war der schon damals beklagte und damit ebenfalls über 50 Jahre andauernde Mangel an Fachpersonal für den Bereich der Datenverarbeitung, welcher mit solchen Maßnahmen und der flächendeckenden Einführung von Informatik-Studiengängen an Universitäten und Fachhochschulen gelindert werden sollte.

Theoretisch haben die Studierenden der ersten Stunde jetzt das 101. Semester Informatik hinter sich – und zumindest ich habe die seinerzeitige Entscheidung für dieses spannende Gebiet bis heute noch an keinem einzigen Tag bereut. Ich hoffe, dass das Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, ganz genauso geht, falls Sie sich der Informatik verschrieben haben, gleichgültig in welchem „Semester“ Sie sich gerade befinden.

Schier Unglaubliches hat sich in diesen rund 50 Jahren getan – und niemand von uns seinerzeit Studierenden, aber auch kein Professor (hier kann ich bei der maskulinen Form bleiben, denn ich hatte mein gesamtes Studium über keine weibliche Lehrperson, weder an der Universität Karlsruhe noch an der Universität Grenoble, wohin ich nach dem Vordiplom gewechselt war) konnte sich diese Entwicklung vorstellen. Zwar war das Moore’sche Gesetz seit 1965 bekannt und ab 1970 als solches bezeichnet, aber richtig ernst genommen haben wir es nicht, und deshalb haben wir auch die sich daraus ergebenden Möglichkeiten nicht wirklich vorhergesehen.

Dennoch waren die damals bestehenden Möglichkeiten durchaus beeindruckend. Privat konnte man sich zwar keinen Computer leisten, aber auch von „kleineren“ Rechnern wie etwa denjenigen der Siemens Prozessrechnerserie 300 konnte man schon recht anspruchsvolle Programme bearbeiten lassen. Beispielsweise habe ich für einen solchen Rechner im Jahr 1971 als Werkstudent für die damalige Bundesanstalt für Wasserbau ein umfangreiches Programm zur Lösung von Differentialgleichungen geschrieben. Damit sollten die bei Flutwellen entstehenden Pegelhöhen der Elbe berechnet werden mit dem Ziel, durch die Anlage geeigneter Puffer eine Katastrophe vergleichbar derjenigen des Jahres 1962 zu verhindern. Der verwendete Algol 60 Compiler benötigte zwar noch mehrere Pässe, bei denen der Zwischenstand mangels ausreichendem Haupt- und Externspeicher auf Lochstreifen ausgegeben wurde, welcher dann für den nächsten Pass wieder einzulesen war. Aber die Ergebnisse waren sehr brauchbar.

Unsere ersten Programme an der Universität Karlsruhe haben wir übrigens auch über einen Fernschreiber mit angeschlossenem Lochstreifenstanzer vorbereitet, um sie dann dem Operateur der „Electrologica“ x8 zu übergeben. Das war allerdings nur einmal pro Tag und nicht am Sonntag möglich. Man hatte also gerade mal sechs Versuche, die wöchentlichen Programmier-Übungsaufgaben zu erledigen. Lexikalische und Syntaxfehler musste man daher um jeden Preis vermeiden, um keinen „shot“ zu vergeuden, den man für den Semantik-Test dringend brauchte. Für unsere heutigen Studierenden ist das vermutlich schwer vorstellbar, wiewohl uns das damals als normal und nicht sonderlich belastend vorkam.

Insgesamt hatte ich ohnehin über die Jahre den Eindruck gewonnen, dass wir es zu unserer Zeit viel leichter gehabt hätten und unser Studium quasi „mit links“ bewältigen konnten. Verstärkt hatte sich dieser Eindruck durch den von mir stets skeptisch beäugten Eifer von Kolleginnen und Kollegen, immer mehr in die Studienpläne zu packen. Im Zuge der Vorbereitung dieses Themenheftes habe ich allerdings mein altes Studienbuch (siehe Abb. 1) hervorgekramt und siehe da: im zweiten Fachsemester Informatik waren beispielsweise insgesamt 27 Semesterwochenstunden zu absolvieren, wie das Foto zeigt. Heutigen Berechnungen zufolge würde das sicher mehr als 30 ECTS ausmachen.

Abb. 1
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Auszug aus einem Studienbuch – SS 1970

Möglicherweise war es aber auch einfach das Gefühl des Aufbruchs, welches uns das studentische Leben leicht erschienen ließ: mit überall entstehenden Instituten, Studien, und Anwendungen, und einem überbordenden Stellenangebot.

Zehn Jahre später entstand dann der erste Hype, genannt „Informatisierung“, heute terminologisch abgelöst durch den noch hysterischeren Digitalisierungshype. Und das wird sicher nicht der letzte sein.

Bei Jubiläen pflegt man gerne einen Rückblick und lässt die verflossene Zeit noch einmal Revue passieren. Aber natürlich darf auch der Blick in die Zukunft nicht fehlen. Dementsprechend sind auch die Beiträge dieses Themenheftes gestaltet.

Axel Lehmann, Peter Lockemann und Jürgen Nehmer haben sich zusammen mit den Fellows der GI auf Schatzsuche begeben und stellen hier einen Teil ihrer Funde vor: es geht darum, zu dokumentieren, welche originären Leistungen die Informatik im deutschen Sprachraum hervorgebracht hat. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wesentliche Konzepte und Erfindungen stammen von hier, auch wenn das global nicht großflächig bekannt sein mag. Der bzw. dem deutschsprachigen Wissenschaftler*in und Tüftler*in liegt eben das Marktschreierische nicht so sehr.

Volker Claus und Norbert Ritter beleuchten in ihrem Beitrag die fulminante Entwicklung der Informatik-Fakultäten und ihrer Studiengänge an deutschen Universitäten. Über 60 deutsche Universitäten bieten heute Informatikstudiengänge an, zusammen mit Universitäten in Österreich und in der Schweiz sind es rund 80. Und sie leisten neben den einschlägigen nichtuniversitären Forschungszentren, deren Institute auch nicht ohne Universitätsnähe auskämen, einen unverzichtbaren Beitrag zur Forschung. Ähnlich rasant verlief die Entwicklung der Informatik an den Fachhochschulen und an den Berufsakademien/dualen Hochschulen. Deren Funktion als Kompetenz‑, Ausbildungs- und Forschungszentren für die regionale, vorwiegend mittelständische Wirtschaft ist unverzichtbar für die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

Beachtenswert ist aus meiner Sicht die von Volker Claus und Norbert Ritter am Ende ihres Beitrags erhobene Forderung, dass „die Informatik ihr Selbstverständnis überdenken müsse, etwa in Hinblick darauf, wie die Grundeinheiten der universitären Informatik aussehen sollen, wie der Zusammenhalt der Informatikbereiche gewährleistet und dennoch Interdisziplinarität gelebt werden kann und ob dies in unserer Zeit überhaupt erstrebenswerte Ziele sind“. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Ausrichtung eines Informatikstudienganges an einem Standort oft maßgeblich von den Forschungsfeldern und Vorlieben der jeweils ansässigen Kolleginnen und Kollegen bestimmt wird. Oft setzt sich dann durch, wer die stärkere Hausmacht hat oder schneller auf einen aktuellen Hype aufspringt. Die zentrale Aufgabe der Universität ist meines Erachtens aber noch immer, um die altbekannte Metapher zu bemühen, den Studierenden nicht Fische zu servieren, sondern das Angeln beizubringen. Weniger Lernstoff zugunsten höherer Kreativität und Kombinationsfähigkeit würde es sicher leichter machen, die geforderten „Grundeinheiten der universitären Informatik“ zu identifizieren.

Deshalb freue ich mich auch sehr darüber, dass es mir gelang, Wolfgang Reisig dazu zu motivieren, seine Vorstellungen über die Bildung einer umfassenden und zusammenhängenden Theorie der Informatik zu diesem Themenheft beizutragen. Er spricht von formalen Konzepte, die „weit über Rechentechnik und Programmierung hinausgehen, mit einem Blickwinkel auch aus den Anwendungen und ihren Grenzen“ und gliedert seine Gedanken dazu in 14 Gruppen: Im Zentrum stehen dabei die die Informatik konstituierenden diskreten (dynamischen) Systeme, die Modellbildung und die Frage nach Invarianten sowie das Konzept lokaler Zustände. Eine englische Version dieses Beitrags wird im englischsprachigen Online-Journal EMISA Forum erscheinen. Wie Kurt Lewin richtig sagte: „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.“ Auch dies sollten wir unseren Studierenden mitgeben, wenn wir sie als Ingenieure der Informatik in die Praxis entlassen.

Die Informatik wirkt in alle Lebensbereiche und damit in alle anderen Disziplinen – von der Kultur über die Wirtschaft, die Naturwissenschaften bis zur Technik. „Interdisziplinarität und Anwendungsentwicklung sind keine neuen Entwicklungen, sondern sind bereits seit Beginn der 90er-Jahre im Zusammenhang mit Informatikforschung zu beobachten … Stichworte ‚Querschnittsdisziplin‘, ‚Bindestrich-Informatiken‘“ schreiben Volker Claus und Norbert Ritter in ihrem Beitrag. Es lag also nahe, auch diesen Aspekt in unserem Themenheft etwas näher zu betrachten. Dankenswerterweise hat Matthias Jarke diesen Part übernommen. Sein Beitrag „Vom Bindestrich zur Digitalisierung: Interdisziplinarität in der Informatik“ legt eindrucksvoll dar, zu welcher Power und Vielfalt sich die Informatik in den technischen Wissenschaften sowie den Wirtschafts‑, Lebens‑, Natur- und Kommunikationswissenschaften entwickelt hat. Im Kontext der Digitalisierung wir nun herausgefordert, „uns noch sehr viel tiefgehender auf das in unsern Anwendungsdomänen notwendige Wissen und Kompetenzen einzulassen“, also zu Innovationen und interdisziplinärer Kooperation.

Ein weiteres wichtiges Gebiet der Informatik ist die „Künstliche Intelligenz“. Irene Teich beschreibt in ihrem Beitrag die Meilensteine, die die KI in den letzten 50 Jahren durchlaufen hat und welche Höhen und Tiefen dabei zu überwinden waren. Maschinelles Lernen, Schlussfolgern, Wissensverarbeitung und Robotik sind die Eckpunkte einer Vielzahl von Entwicklungslinien, für die Irene Teich ein sehr facettenreiches Bild mit hohem Zukunftspotential zeichnet.

Natürlich darf in einem solchen Themenheft ein Beitrag zu der Fachgesellschaft, in der sich die in der Informatik Tätigen seit über 50 Jahren zusammenfinden, und die in vielen Bereichen Entwicklungsanstöße gegeben hat, nicht fehlen. Es wäre aber müßig, hier die Entstehungsgeschichte der GI zu wiederholen: sie wurde nicht nur in früheren Jubiläumsjahren im Informatik Spektrum beleuchtet, vielmehr gibt es auch eine sehr umfangreiche und aufschlussreiche Dokumentation, die der GI-Arbeitskreis „Geschichte der Informatik“ im Jahr 2001 unter der Leitung von Fritz Krückeberg zusammengestellt hat: https://gi.de/fileadmin/GI/Hauptseite/Themen/geschichte-der-gi.pdf. Aus diesem Grund habe ich es vorgezogen, den derzeitigen Präsidenten der GI, Hannes Federrath, über Herausforderungen und künftige Entwicklungen in der GI zu befragen. Seine Antworten zeigen, dass die GI auf einem recht guten Weg ist und ihrer Tradition, sich dem beständigen Wandel anzupassen bzw. diesen auch zu treiben, gerecht zu werden versucht. Wichtig dabei ist aber vor allem auch, wie Hannes Federrath sagt, dass es auf das Mitmachen der Mitglieder ankommt: „Die GI lebt von der ehrenamtlichen Arbeit ihrer Mitglieder und Amtsträger. Gute Ideen sind sehr willkommen, die Unterstützung aller bei deren Umsetzung ist unverzichtbar.“

Gerne hätte ich diesen Reigen zum 50er der Informatik mit einem Beitrag zur Informatik-Didaktik abgerundet. Einen nachhaltigen Zuspruch zu den Informatik-Studien an unseren Hochschulen können wir nämlich nur sichern, wenn sich die künftigen Studierenden eine didaktisch abgesicherte Vermittlung der Inhalte erwarten können. Mindestens genauso wichtig ist aber auch die Gestaltung des Informatik-Unterrichts an den Schulen: schlechter Unterricht kann hier für unsere Disziplin mehr Schaden anrichten als kein Unterricht. Leider hat sich ein solcher Beitrag letztlich aber aus terminlichen Gründen nicht ergeben.

Stattdessen machen wir zum Abschluss etwas für Informatiker nichts Ungewöhnliches: wir begeben uns auf die Metaebene und machen uns Gedanken zum Informatik Spektrum selbst. Das ist zwar noch keine 50 Jahre alt, aber es begleitet die deutschsprachige Informatik nun schon auf mehr als vier Fünftel ihres Weges. Die Gesellschaft für Informatik macht in regelmäßigen Abständen Umfragen unter ihren Mitgliedern und erhebt dabei unter anderem auch die Meinung der Mitglieder zum Informatik Spektrum. Diesen Weg sind wir hier nicht gegangen, vielmehr haben wir einige Wegbegleiter und Menschen der ersten Stunde (Mitherausgeberinnen bzw. Mitherausgeber, Redakteure, Autorinnen bzw. Autoren) befragt. Ihnen wurde freigestellt, auf die vorgegebenen Fragen zu antworten oder diese nach Belieben zu modifizieren. Peter Schnupp hat von dieser Möglichkeit besonders intensiv Gebrauch gemacht. Deshalb schließt sein Beitrag über den beständigen Wandel und seine persönliche Erwartungen diesen Reigen zum Thema 50 Jahre Informatik ab.

Mein letztes Themenheft (damals herausgegeben zusammen mit Wolfgang Hesse) liegt inzwischen mehr als 10 Jahre zurück. Damals wie heute konnte ich feststellen, dass das eine durchaus herausfordernde Aufgabe für alle Beteiligten ist. Aber es macht auch viel Vergnügen, mit den Autorinnen und Autoren die Themen zu erarbeiten und die Beiträge zu diskutieren. Allen Beitragenden danke ich daher sehr herzlich für ihren Einsatz, das Heft ist durch sie ein schönes Dokument zum 50er der Informatik geworden.

Und jetzt schicken wir uns an, das Informatik-Jahrhundert voll zu machen – möge es genauso spannend und erfolgreich wie in der ersten Hälfte weitergehen.