Die komplexen strukturellen und finanziellen Herausforderungen des wissenschaftlichen Nachwuchses sind in anderen Bereichen der Wissenschaft, wie zum Beispiel den Geisteswissenschaften, wohl bekannt. In den letzten Jahren scheinen diese Probleme jedoch auch in den vergleichsweise gut finanzierten technischen Zweigen wie der Informatik zur Normalität zu werden. Dramatischerweise hat gerade jene Gruppe aufgrund ihrer vielen Herausforderungen am wenigsten Ressourcen, sich um sich selbst zu kümmern. Doch es ist längst an der Zeit, auch aus Sicht des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Informatik, im Besonderen der Gesellschaft für Informatik, Stellung zur Bildungs- und Wissenschaftspolitik und zum Hochschulbetrieb zu beziehen.
Der Begriff des wissenschaftlichen Nachwuchses kann unterschiedlich ausgelegt werden [1]: Im engeren Sinn sind Promovierende, Postdoktoranden und Postdoktorandinnen gemeint, die an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen beschäftigt sind und eine Professur oder eine wissenschaftliche Leitungsposition anstreben. Sie sind hochqualifiziert und haben üblicherweise eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeitende inne. Jedoch strebt nicht jeder junge Forschende eine Karriere in der Wissenschaft bis hin zur Professur an. Vielmehr sehen sie ihre Funktion auch in der Ausfüllung von Tätigkeiten im akademischen Mittelbau. Dieser Mittelbau ist auf der einen Seite mit Lehr- und Forschungsaufgaben und auf der anderen Seite mit administrativen Aufgaben, hochschulpolitischen Ämtern und der Außendarstellung („public outreach“) befasst.
Prekäre Beschäftigungsverhältnisse
Die Nachwuchsqualifizierung und -förderung erweist sich in Deutschland als prekär. So ergibt sich bei der Planbarkeit der akademischen Karriere ein unsichtbarer Flaschenhals auf der Karriereleiter hin zur Professur. Seit 2000 erhöhte sich die Zahl des wissenschaftlichen Nachwuchses um 76 %, die der Professoren jedoch nur um 21 % [1]. Befeuert wurde diese Entwicklung außerdem durch das 2007 eingeführte Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG). Es sollte dazu dienen, wissenschaftlichen Nachwuchs – nach einer begrenzten Qualifikationsphase – schnell in feste Arbeitsverhältnisse zu überführen und nicht dauerhaft in zeitlich begrenzten Drittmittelprojekten zu beschäftigen. Faktisch ist jedoch das Gegenteil eingetreten: Permanente Stellen an Hochschulen und Universitäten wurden massiv abgebaut. Die Vertragslaufzeiten für wissenschaftliche Mitarbeitende werden immer kürzer. Teilweise werden nur Teilzeitverträge angeboten. Von einigen Hochschulen wird die Regelung derart streng ausgelegt, dass generell nach 12 Jahren Schluss ist, unabhängig davon, ob es sich um eine Drittmittelstelle handelt. Wie viele und welche Hochschulen dieser Auslegung folgen, ist nicht mit Statistiken hinterlegt. Dies ist für die Betroffenen aber umso problematischer, da diese gezwungenen Karriereenden dem Forschenden in jungen Jahren oft nicht bewusst sind. Die Fristenregelung führt aktuell in der Mehrheit der Fälle dazu, dass wissenschaftliche Mitarbeitende im Mittelbau ihre Stellen in Forschung und Lehre mittel- bis langfristig dauerhaft aufgeben müssen.
Unzureichende Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Die Vereinbarkeit von Familie und akademischer Karriere ist nach wie vor schwierig; die unsichere Perspektive einer akademischen Karriere sowie die beschriebenen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen führen zu einer Benachteiligung insbesondere von Wissenschaftlerinnen. So sind 49 % der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und 42 % der wissenschaftlichen Mitarbeiter an Universitäten endgültig kinderlos – bei altersgleichen Hochschulabsolventinnen und -absolventen liegt dieser Wert bei geschätzten 25 %. Ebenso ist mit fortschreitender Karrierestufe ein abnehmender Frauenanteil in der Wissenschaft zu verzeichnen [1]. Durch die lange Dauer der Promotion an Hochschulen ist eine Verschiebung der Familienplanung auf die Zeit nach der Promotion keine adäquate Alternative. Gleichzeitig wirken sich die langen Promotionsverfahren sowohl bei Wissenschaftlerinnen als auch bei Wissenschaftlern nachteilig auf die Berufschancen in der freien Wirtschaft aus. Maßnahmen, wie sie familienfreundliche Hochschulen, berufundfamilie [2] und GESIS [3] anstreben, sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Chancengleichheit und -gerechtigkeit
In Deutschland dreht sich die Chancengleichheit hauptsächlich um die Rolle des Geschlechts. Jedoch entstehen Benachteiligungen auch nach sozialer Herkunft, Religion, sexueller Neigung, Behinderung und Alter [4]; etwa zwei Drittel der Doktoranden stammen demnach aus einem bildungsnahen Elternhaus [4]. Finanzielle Sorgen können zum Teil mit einem Stipendium abgefangen werden. Die Benachteiligung zeigt sich jedoch besonders in den Zeiten zwischen zwei Verträgen, der gestiegenen Erwartung der Mobilität, der Teilnahme am wissenschaftlichen Austausch auf Konferenzen und weniger ausgeprägten Kulturtechniken wie Sprachfertigkeit. Zusätzlich fehlen für Nachwuchswissenschaftlerinnen nach wie vor passende Rollenvorbilder, die nicht nur in ihrer Rolle, sondern auch durch deren Anzahl und somit gut sichtbare Leistung eine Wirkung entfalten [5]. Wie helfen wenige Rollenvorbilder, wenn sie am Ende doch wie eine Ausnahme wirken?
Mangelndes Qualitätsmanagement
Hinzu kommen mangelnde Qualitätssicherung während der wissenschaftlichen Qualifizierung sowie fehlende zuverlässige und vertrauenswürdige Mechanismen, Konflikte zu melden und zu lösen. Begünstigt wird dies durch steile Hierarchien des Wissenschaftssystems [6], hohen Publikationsdruck und vielseitige Abhängigkeiten von Promovierenden. Diese stehen laut einem Positionspapier des Doktoranden-Netzwerks der Max-Planck-Gesellschaft oft unter einem umfassenden akademischen und administrativen bzw. beruflichen Abhängigkeitsverhältnis [7]. Gepaart mit fehlendem Training in Personalführung wissenschaftlicher Führungspersönlichkeiten führt dies zu hohen Abbruchquoten, langer Promotionsdauer und unzureichender Vermittlung von Schlüsselqualifikationen für den (nichtakademischen) Arbeitsmarkt [1]. Die Erwartungen an Evaluationen von Nachwuchswissenschaftlern sind darüber hinaus häufig nicht hinreichend präzise konkretisiert – diese Planungsunsicherheit erschwert die wissenschaftliche Karriere [8].
Unzureichende Formalisierung der Prozesse
Fehlanreize im akademischen System führen außerdem zu großen Fachgebieten und Lehrstühlen, die eine direkte, intensive und regelmäßige Betreuung der Promovierenden durch Professorinnen und Professoren beeinträchtigen. Sowohl das Bewerbungsverfahren als auch das Betreuungsverhältnis sind dabei häufig nicht ausreichend formalisiert. Das Arbeitsverhältnis selbst ist häufig prekär und durch Teilzeit- und Kurzzeitverträge geprägt. Das führt im Ergebnis zu einer mangelnden Planbarkeit der Promotionsphase und zu unsicheren Zukunftsperspektiven für die Promovierenden. Auch die Häufung von Rollen (der disziplinarische Vorgesetzte ist in der Regel gleichzeitig Betreuer und Erstgutachter) ist vor diesem Hintergrund als nachteilig zu betrachten [9].
Nachwuchs als Rückgrat der Wissenschaft
Der wissenschaftliche Nachwuchs trägt erheblich zum Betrieb universitärer Forschungseinrichtungen bei: Die Beteiligung Promovierender an Lehre, Forschung und Transfer liegt an Universitäten bei etwa 67 % und an Fachhochschulen bei etwa 65 % [1]. Gleichzeitig ist es von gesellschaftlich zentraler Bedeutung, dass sich das Prinzip der Bestenauslese bei der Wahl der Promovierenden auch in Zukunft als tragfähig erweist. Der direkte Wechsel der Jahrgangsbesten in die Wirtschaft verlagert mittelfristig nicht nur die Informatikforschung zunehmend in Unternehmen, sondern schafft auf lange Sicht auch neue Herausforderungen bei der Besetzung von Informatikprofessuren. Durch einen wachsenden Fokus auf Work-Life-Balance ist zu erwarten, dass sich das Problem in naher Zukunft noch verschärfen wird, falls sich Organisation und Strukturierung der Promotionsphase in Deutschland nicht zeitnah an die geänderten Rahmenbedingungen anpassen sollten.
Kurzfristige Handlungs- und Planungshorizonte
Der durch Forschungstätigkeiten angestrebte Erkenntnisgewinn beschränkt sich nicht auf kurzfristige Erfolge und Ergebnisse; wegweisende Entdeckungen in der Informatik sind häufig das Ergebnis von jahrelangen Fehl- und Rückschlägen in mühsam aufgebauter (internationaler) Zusammenarbeit. Ein durch Befristung und unsichere Zukunftsperspektiven geprägtes Forschungsfeld nimmt den Forschenden den langen Atem und erschwert die tiefe Durchdringung und Erforschung von Themenfeldern [10]. Ullrich und Reitz bezeichnen diese Problematik mit dem Begriff der „prekären Mobilität“. Jene ist de facto durch eine „fast grenzenlose zeitliche und räumliche Verfügbarkeit der akademischen Wissensarbeiter*innen“ gekennzeichnet [11]. Für die Betroffenen entwickelt sich anstelle des idealistischen Lebensplans einer sich stetig weiterentwickelnden Persönlichkeit, wie er vielleicht noch zum Antritt des Studiums bestand, eher das Leben eines Nomaden, der situativ zwischen Hochschulen und Forschungseinrichtung springt, um jegliche Möglichkeit zur Stabilisierung der eigenen Lebensverhältnisse zu ergreifen und nicht einen sozialen Absturz zu erleiden [11,12,13]. Ein ungewollter Nebeneffekt ist, dass Deutschland dadurch mehr gut qualifizierte Forschende verliert (Brain Drain) als gewinnt [13]. Insbesondere die Juniorprofessur kann eines der größten Probleme auf dem Weg zur Professur auf Lebenszeit nicht lösen: die Unsicherheit. Das liegt daran, dass nur 13 % der Juniorprofessoren und Juniorprofessorinnen einen Tenure-Track haben [5].
Eigenverantwortlichkeit versus Unterstützung
In der Phase nach der Promotion besteht ein Spannungsfeld zwischen selbstverantwortlicher Forschung und Lehre und der wissenschaftlichen und administrativen Unterstützung. Das sorgfältige Austarieren gerät an beiden Polen des Spektrums an seine Grenzen: Postdoktoranden und Postdoktorandinnen haben bei guter Unterstützung eine vergleichsweise geringe Selbstverantwortung, während Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren bei einer hohen Selbstverantwortung eine vergleichsweise geringe Unterstützung genießen. Dabei erfordert die Koexistenz verschiedener Modelle für die wissenschaftliche Karriere nach der Promotion die kontinuierliche Anpassung der durch Hochschulen, Forschende sowie Fördergeber geprägten Kulturen im Bereich von Forschung und Lehre [14].
Unklare Zukunftsperspektiven und undurchsichtige Erstberufungskriterien
Die Gewissheit, dass eine Professur erreicht werden kann, kommt in der akademischen Karriere zu spät; die grundsätzlich positive Bewertung des Modells „Juniorprofessur“ wird durch diese Planungsunsicherheit entscheidend getrübt. Laut einer Studie aus dem Jahr 2016 bewerten weniger als 10 % der Juniorprofessoren und Juniorprofessorinnen die Planbarkeit ihrer Karriere positiv [15, 16]. Während Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen sich spätestens nach Fertigstellung der Promotion für eine Karriere in der Wissenschaft entscheiden, wird die Sinnhaftigkeit dieser Entscheidung in der Regel erst viele Jahre später bestätigt – oder eben auch widerlegt. Bei Postdoktorandinnen und Postdoktoranden sowie Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren handelt es sich bereits um hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – ein Ende der wissenschaftlichen Karriere zu diesem Zeitpunkt schadet dem Wissenschaftsstandort Deutschland [8].
Hinzu kommt eine schwache Infrastruktur für jene, die den riskanten und aufwendigen Schritt wagen, für einige Zeit ins Ausland zu gehen. Eine gezielte Heimkehr ist oft nicht möglich, was nicht selten zum Verlust des sozialen Umfelds (insbesondere Familie oder Partnerschaft) führt. Den anachronistischen Gipfel bilden Habilitationsmodelle, die wertvolle Auslandsaufenthalte pönalisieren, statt Publikations- und Lehrverpflichtungen sowie Zeitplan entsprechend anzupassen oder Vorkehrungen wie zum Beispiel kompensierende Erasmus+-Besuche aktiv zu fördern. Was die Vorselektion in Berufungsverfahren angeht, herrscht das kennzahlengetriebene Publish-or-perish-Diktat vor, das der Oberflächlichkeit den Vorrang gewährt und eine inhaltsbezogene Bewertung schlicht unattraktiv macht.