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Die Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte bereits 1883 den ersten klassifikatorischen Katalog, der eine Liste von Todesursachen enthielt. Dieser Katalog entwickelte sich später zur Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), die darauf abzielt, Krankheiten unabhängig von der kulturellen Zugehörigkeit und geographischen Position einer Person korrekt zu beschreiben. Psychische Erkrankungen wurden erst in der 6. Auflage im Jahr 1948 in die ICD aufgenommen.

Die Entwicklung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM) begann im Jahr 1952 als Initiative der US-amerikanischen Psychiatrie mit dem DSM‑I. Im Laufe der Weiterentwicklung wurden die diagnostischen Einheiten für psychische Störungen immer feiner abgestuft. Während das DSM‑I von 128 verschiedenen Diagnosen ausging, enthält das aktuelle DSM‑5 bereits 541 Diagnosen.

Die Veröffentlichung des DSM verfolgte das Ziel, die Psychiatrie mit anderen medizinischen Fachgebieten gleichzustellen. Mit der dritten Ausgabe wurde eine atheoretische Konzeption eingeführt, die schulenspezifische Ätiologien aus den Beschreibungen der psychischen Störungen entfernte. Die dritte Überarbeitung initiierte neue empirische störungsbezogene Forschung, die Überarbeitungsbedarfe identifizierte, wenn Kategorien nicht mit den Forschungsergebnissen übereinstimmten.

Seit der Einführung großer Klassifikationssysteme gibt es wiederholt grundlegende Kritik aus den Bereichen Klinische Psychologie, Psychotherapie und Persönlichkeitspsychologie, da klassifikatorische Diagnosen insbesondere bei psychischen Problemen verschiedene Nachteile aufweisen. Die Beschwerden von Personen sind bei psychischen Erkrankungen sehr heterogen, und Symptomprofile können innerhalb derselben Diagnose stark variieren. Die Krankheitsschwellen sind oft eher durch Expertenurteile als durch empirische Überprüfungen begründet und wirken daher künstlich. Diagnosen psychischer Probleme weisen häufig hohe Überlappungen und Komorbiditäten auf, was bedeutet, dass mehr als eine Diagnose vergeben werden kann.

Im klinischen Alltag haben sowohl dimensionale als auch kategoriale Diagnostik ihren Stellenwert in der Erfassung psychischer Auffälligkeiten. Das Vorliegen einer psychischen Störung ist eine Voraussetzung für die Aufnahme einer Psychotherapie. Auch wenn Diagnosen und Diagnosekriterien kritisch hinterfragt werden sollten, sind sie in unserem derzeitigen Gesundheitssystem erforderlich und Grundlage zur Anerkennung von Gesundheitsleistungen. Diagnosen sind unsere Kurzformeln, die Kommunikation innerhalb der Profession und auch mit den Patient:innen erleichtert. Dementsprechend sollten sie kontinuierlich auf den neusten Stand der Wissenschaft und im Hinblick auf Gütekriterien überprüft werden.

Die Klassifikation psychischer Störungen ist also ein fortlaufender Prozess, der sich an wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen orientiert. Nach der 1992 eingeführten ICD-10 (World Health Organization 1992) trat am 1. Januar 2022 die ICD-11 in Kraft. Insgesamt ist eine starke Annäherung an das DSM‑5 (American Psychiatric Association 2013) festzustellen. Dies ist insofern relevant, da in der internationalen Forschung mehrheitlich das DSM verwendet wird, aber in der Praxis bzw. zur Beantragung an die Krankenkassen die Kriterien der ICD notwendig sind, was zu einer Sprachverwirrung zwischen Forschung und Praxis beiträgt.

Die neue ICD-11 ist nach einer neuen Architektur aufgebaut, es gibt keine F‑Kodes mehr, sondern numerische Kodes. Eine wesentliche inhaltliche Änderung ist der Lebensspannenansatz. Damit verbunden ist die Streichung der F9-Kategorie Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. In der Folge wurden Diagnosen der F9-Kategorie in andere Kategorien verschoben. So enthält die Kategorie Angststörungen nun auch die Trennungsangststörung und den selektiven Mutismus. Der Artikel von Schwenck und Schartl in diesem Schwerpunktheft befasst sich mit dem Störungsbild des selektiven Mutismus und seinen diagnostischen Kriterien.

Eine neue Kategorie in der ICD-11 sind „Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte“. Der Artikel „Verhaltenssüchte als neue ICD-11 Diagnosen“ von Lindenberg und Sonnenschein in dieser Ausgabe gibt einen Überblick über die Klassifikation und die aktuelle Evidenzlage der neuen ICD-11-Kategorie.

Im Beitrag von Gallinat und Schmidt wird ein Überblick über die Einführung der Kategorie der Körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörungen (BFRBDs) in der ICD-11 gegeben, die unter anderem die Trichotillomanie (TTM) und die Skin-Picking-Störung (SPS) umfasst. Die BFRBDs weisen Ähnlichkeiten mit Zwangsstörungen und Verhaltenssüchten auf, erfordern jedoch eine differenzierte Betrachtung und Behandlung. Trotz hoher Prävalenzen wurden diese Störungsbilder bisher wenig beachtet, was zu einem hohen Forschungsbedarf und mangelhaften Versorgungsangeboten geführt hat. Die Einordnung der BFRBDs in der ICD-11 bietet Chancen zur Verbesserung der Forschungs- und Versorgungslage.

Die Einführung der ICD-11-Klassifikation für Persönlichkeitsstörungen hat das Ziel, die Limitationen der bisherigen kategorialen Systeme zu überwinden und die klinische Nützlichkeit in Bezug auf Indikationsstellung und Behandlungsplanung zu verbessern. Der Artikel von Volkert und Weiland gibt einen Überblick über den Aufbau und Inhalt der neuen Klassifikation, zeigt die praktische Anwendung anhand eines Fallbeispiels und stellt aktuell verfügbare deutschsprachige Instrumente zur Einschätzung von Persönlichkeitsfunktionen und -merkmalen sowie eine erste Einschätzung zur klinischen Nützlichkeit vor. Die ICD-11 hat belastungsbezogene Störungen als neue Gruppe von psychischen Störungen eingeführt, darunter die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die komplexe PTBS (KPTBS), die anhaltende Trauerstörung und die Anpassungsstörung. Eberle und Maercker stellen die neuen belastungsbezogenen Störungen in der ICD-11 differenziert dar. Die Überarbeitungen in der ICD-11 haben dazu beigetragen, die Konzeptualisierung und Diagnose dieser Störungen zu verbessern und eine spezifischere Behandlung zu ermöglichen.

Aktuell kann bereits mit der ICD-11 diagnostiziert werden, aber hier besteht eine Übergangsfrist von 5 Jahren, bevor sie verpflichtend eingeführt wird. Auch liegt noch keine lizensierte deutsche Übersetzung vor.

Weitere aktuelle Informationen zur ICD-11 finden Sie auf der Homepage des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte: www.bfarm.de.