Die Aufnahme von Störungen durch Verhaltenssüchte in die 11. Revision der International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11) durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt einen bedeutenden Meilenstein dar. Aktuell werden die Glücksspiel- und die Computerspielstörung sowie die Soziale-Netzwerke-Störung zusammen mit Substanzgebrauchsstörungen in der Kategorie „Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte“ klassifiziert, zwei weitere Störungsbilder werden diskutiert. Diese Zuordnung bildet eine wichtige Grundlage für die adäquate Versorgung von Betroffenen und ihren Angehörigen.

Taxonomie, Definitionen und Codes

Die 11. Überarbeitung des Diagnosesystems International Classification of Diseases (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization 2018) beinhaltet das Kapitel „Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte“ (englisch: „disorders due to substance use or addictive behaviours“), das in die beiden Unterkapitel „Störungen aufgrund von Substanzgebrauch“ (englisch: „disorders due to substance use“) und „Störungen aufgrund von Verhaltenssüchten“ (englisch: „disorders due to addictive behaviours“) unterteilt ist. Verhaltenssüchte werden als „erkennbare und klinisch bedeutsame Syndrome“ definiert, die „mit Leiden oder Beeinträchtigungen persönlicher Funktionen einhergehen und sich als Folge wiederholter belohnender Verhaltensweisen entwickeln, bei denen es sich nicht um den Konsum von abhängigkeitserzeugenden Substanzen handelt“ (World Health Organization 2018). Hierzu gehören die Glücksspielstörung (ICD-11-Code: 6C50, engl. „gambling disorder“) und die Computerspielstörung (ICD-11-Code: 6C51, engl. „gaming disorder“). Im Rahmen der ICD-11-Übersetzung werden aktuell sowohl der Begriff Computerspielsucht (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2024) als auch Computerspielstörung (Rumpf et al. 2021) diskutiert. Aufgrund der Publikation von Rumpf et al. (2021) wird in der vorliegenden Arbeit jedoch der Begriff Computerspielstörung, der näher am englischen Originalbegriff ist, verwendet. Beide Störungsbilder können sich sowohl auf Online- als auch Offline-Verhaltensweisen beziehen, was in der Kennzeichnung durch „.0“ oder „.1“ an der 5. Stelle im Code zum Ausdruck kommt. Während das pathologische Glücksspiel bereits in der ICD-10 unter den Impulskontrollstörungen aufgeführt war (ICD-10-Code: F63.0), stellt die Computerspielstörung eine neue Diagnose dar.

Die Glücksspielstörung und die Computerspielstörung gemäß ICD-11 sind durch 1) eingeschränkte Kontrolle über das Glücks- oder Computerspiel, 2) Priorisierung des Glücks- oder Computerspiels vor anderen Interessen und Lebensbereichen mit Vernachlässigung derselben und 3) Fortsetzung des Glücks- oder Computerspiels trotz negativer Konsequenzen charakterisiert. Die Diagnose erfordert das Vorliegen dieser 3 Kriterien sowie des übergeordneten Kriteriums des Leidensdrucks und/oder erheblicher psychosozialer Einschränkungen.

Während die Vernachlässigung anderer Lebensbereiche und das Fortsetzen trotz negativer Konsequenzen als Problemkriterien betrachtet werden können, weil sie signifikante Beeinträchtigungen in relevanten Lebensbereichen beschreiben, fungiert die eingeschränkte Kontrolle als Symptomkriterium, da sie alleinstehend nicht notwendigerweise mit einem Problem verbunden sein muss (Colder Carras und Kardefelt-Winther 2018). Aufgrund der obligatorischen 2 Problemkriterien in der ICD-11-Diagnose gilt sie als konservativ und führt in epidemiologischen Studien zu niedrigeren Prävalenzraten im Vergleich zur Forschungsdiagnose der Internet Gaming Disorder in der 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM‑5, American Psychiatric Association 2013). Letztere erfordert lediglich 5 aus insgesamt 9 Kriterien (darunter 5 Symptom- und 4 Problemkriterien) in beliebiger Kombination. Theoretisch besteht die Möglichkeit einer DSM-5-Diagnose ausschließlich auf Basis von Symptomkriterien, ohne dass ein Problemkriterium erfüllt ist. Die ICD-11 berücksichtigt in ihrem strengeren Ansatz den wissenschaftlichen Diskurs und die Besorgnis hinsichtlich einer möglichen Überpathologisierung, die im Vorfeld der Anerkennung dieser Diagnose durch die WHO kontrovers diskutiert wurde (Aarseth et al. 2017).

Für die Diagnose „Andere spezifizierte Störungen durch Verhaltenssüchte“ (ICD-11 Code: 6C5Y) wurden weitere Störungsbilder vorgeschlagen, darunter die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, die Kauf-Shopping-Störung und die Pornografie-Nutzungsstörung (Brand et al. 2020). Gegenwärtig sind die Kauf-Shopping-Störung und die Pornografie-Nutzungsstörung gemäß der ICD-11 jedoch dem Kapitel der Impulskontrollstörungen zugeordnet, obwohl die Symptomatik eine Eingliederung unter die Verhaltenssüchte ebenso rechtfertigen würde. Eine mögliche Umgruppierung wird erwartet, sobald die Forschung belegt, dass die zugrunde liegenden Prozesse dieser beiden Störungen ähnlich denen anderer Verhaltenssüchte sind.

Zur Vergabe der Diagnose einer Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, die bereits den anderen spezifizierten Störungen durch Verhaltenssüchte zugeordnet ist (ICD-11 Code: 6C5Y), wird vorgeschlagen, dass die gleichen Kriterien erfüllt sein müssen wie bei der Computerspielstörung, wobei sich das Verhalten auf die Nutzung von sozialen Netzwerken (wie Snapchat, Instagram, TikTok) anstelle von Computerspielen bezieht (Brand et al. 2020). Die Kauf-Shopping-Störung (ICD-11 Code: 6C7Y) ist durch zwanghaftes Einkaufen und wiederholten Kontrollverlust über den Erwerb von Konsumgütern gekennzeichnet. Das unangemessene Kaufverhalten führt zu finanziellen Problemen, familiären Konflikten, emotionaler Belastung und klinisch signifikanter Beeinträchtigung in wichtigen Lebensbereichen. Entsprechend des dritten Kriteriums der Verhaltenssüchte sind die Betroffenen trotz erheblicher negativer Konsequenzen nicht in der Lage, ihr Einkaufsverhalten nachhaltig zu kontrollieren (Brand et al. 2020). Die Pornografie-Nutzungsstörung kann als eine Unterform der Störung mit zwanghaftem sexuellem Verhalten (ICD-11 Code: 6C72) innerhalb der Kategorie der Impulskontrollstörungen diagnostiziert werden. Vergleichbar zu den Kriterien der Verhaltenssüchte zeigt sich ein anhaltender Konsum mit Verlust der Kontrolle über den Konsum. Der Pornografiekonsum nimmt eine dominierende Rolle im Leben der betroffenen Person ein, was zu einer Vernachlässigung von Pflichten, zuvor bestehenden Interessen und Hobbys führt. Das Verhalten wird trotz nachteiliger Konsequenzen fortgesetzt, wodurch wesentliche Lebensbereiche erheblich beeinträchtigt werden. Konsequenzen können sich in Form von Konflikten in intimen Beziehungen oder beeinträchtigter beruflicher Leistungsfähigkeit äußern, oft bedingt durch exzessiven nächtlichen Konsum von Pornografie (Brand et al. 2020).

Begrifflich werden zudem häufig die Termini Online-Verhaltenssüchte sowie synonym Internetnutzungsstörungen (engl.: „internet use disorders“) verwendet, wenn die Störungen auf online durchgeführtem Problemverhalten beruhenden (Rumpf et al. 2021). Der allgemeinere Nutzungsbegriff betont den Bezug zu dem entsprechenden Verhalten, das die Störung bedingt, z. B. Glücksspielen, Computerspielen, Soziale-Netzwerke-Nutzung, Pornografienutzung, Kaufen bzw. Shopping oder Internetnutzung unabhängig von der Modalität. Bei substantivierten Verben (z. B. Computerspielen) wird auf die Bildung eines Nominalkompositums durch Verwendung des Grundwortes „Nutzung“ verzichtet. Die Terminologie wurde in Analogie zu den Substanzgebrauchsstörungen (engl. „substance use disorders“) gewählt, die durch den Gebrauch von Substanzen wie Alkohol, Anxiolytika, Koffein, Cannabis, Halluzinogene, Schnüffelstoffe, Opioide, Stimulanzien oder Tabak entstehen.

Die Prävalenzen der beschriebenen Störungsbilder variieren zwischen etwa 0,5 % für die Glücksspielstörung (Potenza et al. 2019), 3 % für die Computerspielstörung (Stevens et al. 2021) sowie jeweils 5 % für die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung (Cheng et al. 2021), die Kauf-Shopping-Störung (Maraz et al. 2016) und die Pornografie-Nutzungsstörung (Markert et al. 2023). Es zeigen sich Unterschiede in der Geschlechts- und Altersverteilung zwischen den Störungsbildern. Der Anteil weiblicher Betroffener bei Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen oder Kauf-Shopping-Störungen ist erhöht, während bei Personen mit Glücksspielstörung, Computerspielstörung und Pornografie-Nutzungsstörung eine höhere Prävalenz bei Männern zu beobachten ist.

Ebenso finden sich Unterschiede in Bezug auf das Erstmanifestationsalter. Während die Computerspielstörung und Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung häufig erstmals im Jugendalter auftreten, entstehen Glücksspielstörung, Kauf-Shopping-Störung oder Pornografie-Nutzungsstörung häufig erst zwischen der 2. und 5. Lebensdekade. Das Risiko für diese Störungen steigt, wenn Schwierigkeiten in bedeutenden Lebensbereichen wie Familie, Schule, Arbeit oder Peerbeziehungen vorliegen. Im Hinblick auf Komorbiditäten lassen sich für alle genannten Störungsbilder häufig parallele Aufmerksamkeitsstörungen, Angststörungen, depressive Störungen oder Substanzkonsumstörungen diagnostizieren (Lindenberg et al. 2017; Müller et al. 2019; Palazzolo und Bettman 2020; Potenza et al. 2019). Darüber hinaus geht die Kauf-Shopping-Störung oft mit pathologischem Horten von Konsumgütern und Essstörungen, insbesondere der Binge-Eating-Störung, einher (Müller et al. 2019). Eine übersichtliche Darstellung der Klassifikation von Verhaltenssüchten in der ICD-10, der ICD-11 sowie des Vorschlags einer künftigen Umgruppierung ist in Tab. 1 zu finden.

Tab. 1 Klassifikation von Verhaltenssüchten in der ICD-10 und der ICD-11

Behandlungsrelevante Grundlagen zur Entstehung

Sowohl auf Verhaltensebene als auch auf neurobiologischer Ebene weisen Verhaltenssüchte Ähnlichkeiten mit substanzgebundenen Störungen auf. Entsprechende Befunde liegen für die Computerspielstörung (Weinstein und Lejoyeux 2020), die Pornografie-Nutzungsstörung bzw. zwanghaftes sexuelles Verhalten (Golec et al. 2021), die Kauf-Shopping-Störung (Thomas et al. 2023; Trotzke et al. 2021), die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung (Wadsley und Ihssen 2023) und unspezifizierte Internetnutzungsstörungen (Solly et al. 2022) vor. In beiden Fällen kommt es zu Reaktionen im dopaminergen Belohnungssystem, wobei der wesentliche Unterschied darin besteht, dass bei Verhaltenssüchten Dopamin durch exzessives Verhalten freigesetzt wird, während beim Konsum von substanzgebundenen Suchtmitteln die pharmakologischen Substanzen Reaktionen im dopaminergen Belohnungssystem über Botenstoffe auslösen (Everitt et al. 2001). Analog zu substanzgebundenen Süchten wird auch bei Verhaltenssüchten von einer komplexen Interaktion der Merkmale des Suchtmittels, der Person und der Umwelt ausgegangen (Wölfling et al. 2013).

Faktoren des Suchtmittels.

Zwar enthalten digitale Anwendungen keine abhängigkeitserzeugenden Substanzen, jedoch kommt es durch spezifische Reizkonfigurationen und Verstärkungsmechanismen des Stimulusmaterials zu einer ähnlich suchterzeugenden Wirkung sowie entsprechend gesteigerten Frequenz und Dauer des Verhaltens. Die psychologischen Mechanismen der abhängigkeitserzeugenden Wirkung verschiedener Verhaltensweisen sind komplex und nicht gut untersucht. Die meisten Befunde gibt es zu Glücksspiel und Computerspiel, die beispielhaft dargestellt werden. Die kommerziellen Anwendungsentwickler nutzen als ökonomische Strategien gezielt intermittierende Verstärkungsmechanismen (Skinner 1938) und sozialpsychologische Mechanismen, um Onlinezeit und Anwendungsbindung zu maximieren (für eine ausführliche Darstellung: Lindenberg und Basten 2021). Diese äußern sich beispielsweise in „Free-to-play“-Modellen mit Mikrotransaktionen („In-App-Käufe“), Gewinnspielen (Lootboxen), Like-Buttons, „Pull-to-refresh“-Mechanismen oder Videoschleifen. Sozialpsychologische Phänomene wie Anstrengungsrechtfertigung (Festinger 1957, 2001) und der Trugschluss der versunkenen Kosten (Kahnemann und Tversky 1979) erklären das scheinbar irrationale Verhalten, zusätzliche Zeit und Geld in eine Anwendung zu investieren, in die bereits viel Zeit oder Geld geflossen ist. Entsprechend kann im Rahmen der Computerspielstörung angenommen werden, dass Personen zur Erreichung von Erfolgen im Spiel weiter sowohl Zeit als auch Geld hierein investieren, aufgrund des Eindrucks bereits „so nah dran“ gewesen zu sein. Im Bereich des Glücksspiels bezeichnet der Begriff „chasing“ den Versuch, Verluste durch weitere Einsätze oder Wetten auszugleichen. Dieses ursprünglich aus dem Glücksspiel stammende Verhalten lässt sich auf die Computerspielabhängigkeit übertragen, da reale Verluste (Geld etc.) durch Erfolge im Spiel ausgeglichen werden sollen und im Rahmen der Dissonanzreduktion der Widerspruch etwas aufzugeben, in das man bereits viel investiert hat, durch Weiterspielen verringert wird. Durch die kontinuierliche Zunahme der Nutzungszeit und die fortgesetzte Stimulation des dopaminergen Systems zeigen sich nachweisbare strukturelle Veränderungen im Gehirn, die das Belohnungssystem beeinflussen (Kuss et al. 2018). Bei der Pornografie-Nutzungsstörung spielt darüber hinaus die Verknüpfung mit Masturbation und der entsprechenden biochemischen Reaktion eine Rolle, während Verhaltensweisen im Rahmen der Kauf-Shopping-Störung und der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen durch Annahmen über Gruppenprozesse („social identity theory“) erklärt werden können (Tajfel und Turner 1986).

Faktoren des Individuums.

Sowohl generelle prädisponierende Merkmale (z. B. Temperament, Emotionsregulationsstrategien, traumatische Kindheitserlebnisse) als auch unmittelbare kognitive (z. B. Erwartungseffekte), affektive (z. B. Craving) und exekutive (z. B. Inhibitionskontrolle) Merkmale spielen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltenssüchten (Brand et al. 2019). Auf der Ebene der Persönlichkeit zeigten sich beispielsweise geringe Gewissenhaftigkeit, hohe Neurotizismuswerte und hohe Impulsivität als Risikofaktoren (Wölfling et al. 2013). Weitere Risikofaktoren sind das Vorhandensein psychischer Störungen wie Depressionen und Ängste (Leo et al. 2021). Zudem lässt sich das Geschlecht (männlich für Glücksspiel- und Computerspielstörung sowie Pornografie-Nutzungsstörung; weiblich für Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung und Kauf-Shopping-Störung) den Faktoren des Individuums zuordnen. Operante Lernmechanismen sowie eine Sensibilisierung des dopaminergen Belohnungssystems bei gleichzeitiger Habituation an das Gratifikationserleben, führen in Wechselwirkung mit einer herabgesetzten inhibitorischen Kontrolle zu Teufelskreisen und zur Entwicklung eines Suchtgedächtnisses, bei dem die Reizreaktivität gegenüber suchtassoziierten Reizen mit jeder wiederholten Exposition zunimmt (Dong et al. 2017). Eine Verlagerung des Aktivierungsmusters vom ventralen zum dorsalen Striatum lässt auf eine Habitualisierung der Verhaltenssucht schließen (Starcke et al. 2018). Das exzessive Computerspielverhalten wird folglich nicht mehr bewusst ausgeführt, sondern erfolgt zunehmend automatisiert (Brand et al. 2019). In Übereinstimmung mit der Dual-Prozess-Theorie (Meng et al. 2015; Sussman et al. 2018; Weinstein et al. 2017) wird eine zunehmende Umkehr des Ungleichgewichts zwischen dem impulsiv-reaktiven und dem reflektiv-inhibierenden Netzwerk zuungunsten der kontrollierend inhibierenden Anteile angenommen. In einer aktuellen Arbeit werden zwei Motivationspfade vorgeschlagen. Während der „Fühlt-sich-besser-an“-Pfad positive und negative Verstärkungserfahrungen beinhaltet sowie das ventrale Striatum (Nucleus accumbens) und das dorsale Striatum aktiviert, umfasst der „Muss“-Pfad zwanghafte Verhaltensweisen und beteiligt das dorsale Striatum (Putamen und Nucleus caudatus). Dementgegen steht ein Selbstkontrollprozess („jetzt aufhören“), der den dorsolateralen präfrontalen Kortex aktiviert (Brand 2022). Es kommt zu einer Verminderung der inhibierenden, kontrollierenden Fähigkeiten und einer Zunahme der Aktivität des reaktiven Netzwerks, sodass die Selbstkontrolle abnimmt und das Verhalten trotz negativer Konsequenzen vermehrt ausgeführt wird. Bei Kindern und Jugendlichen ist dieses Aktivierungsmuster entwicklungsbedingt verstärkt. Sie zeigen häufig riskanteres Verhalten, bevorzugen kurzfristige Ziele und können sich schlechter selbst regulieren als Erwachsene (Liu et al. 2017; Paschke et al. 2020).

Faktoren der Umwelt.

Probleme in relevanten Lebensbereichen wie Familie/Partnerschaft, Peerbeziehungen/Freizeit oder Schule/Arbeit sind mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Verhaltenssüchten assoziiert. Empirisch gesicherte Risikofaktoren beinhalten ein ungünstiges Familienklima und familiäre Konflikte (Brandhorst et al. 2022b), Probleme in Peerbeziehungen und soziale Ausgrenzung (Lindenberg und Wartberg 2022; Rehbein und Baier 2013) sowie Einsamkeit und mangelnde soziale Unterstützung (Eichenberg et al. 2017; Greschner et al. 2017). Auch Zusammenhänge mit dem desorganisierten Bindungsstil (Greschner et al. 2017), schulischen Problemen (Kindt et al. 2019; Rehbein und Baier 2013) und Schulangst oder Arbeitslosigkeit (Lindenberg et al. 2017) wurden als relevante Faktoren für die Entwicklung von Verhaltenssüchten berichtet. Auf der anderen Seite erhöht die Zugänglichkeit zu den Suchtmitteln (wie die räumliche Verfügbarkeit durch elektronische Geräte im eigenen Zimmer sowie die zeitliche Verfügbarkeit) das Suchtrisiko (Mößle und Föcker 2020).

Versorgung von Betroffenen

Für Betroffene finden sich in Deutschland sowohl im Beratungsbereich als auch in den Bereichen Behandlung und Rehabilitation Hilfen. Zudem können Angehörige in Beratungskontexten unterstützt werden. Beratungsangebote stehen sowohl in spezialisierten Fachambulanzen als auch in allgemeinen Einrichtungen für Sucht- und Erziehungsberatung zur Verfügung. In vielen Fällen erweist sich eine sozialpsychiatrische Perspektive mit Kooperationen mit Jugendhilfe, (Schul‑)Sozialarbeit, Jobcenter, Schuldenberatung, Soziotherapie und – insbesondere im Falle der Pornografie-Nutzungsstörung auch Paarberatung – als sinnvoll. Behandlungsmaßnahmen umfassen Einzel- oder Gruppenpsychotherapie, rehabilitative Angebote sowie Maßnahmen zur Stabilisierung und zur Rückfallprävention nach einem stationären Aufenthalt. Stationäre Behandlungen in psychosomatischen Akut- und Rehabilitationskliniken oder psychiatrischen Einrichtungen sind indiziert, wenn die Symptomatik schwerwiegend oder chronifiziert ist, Abstinenz oder Distanz vom sozialen Umfeld erforderlich erscheinen, spezifische Komorbiditäten vorliegen, Eigen- oder Fremdgefährdung besteht oder es zu Schulabsentismus kam.

Therapeutische Ziele der genannten Verhaltenssüchte (obwohl nicht alle auch in der ICD-11 unter Verhaltenssüchten geführt werden) beinhalten den Abbau des Suchtverhaltens und die Behebung der eingetretenen psychosozialen Probleme. Strategien enthalten motivationale Verfahren (Psychoedukation, motivierende Gesprächsführung, funktionale Analysen und Pro-Contra-Analysen), behaviorale Verfahren (Stimuluskontrolltechniken, (Teil-)Abstinenz, Exposition mit Reaktionsverhinderung), kognitive Verfahren (kognitive Umstrukturierung, einsichtsorientierte Verfahren, cognitive bias modification) sowie körperorientierte Verfahren (Entspannung) und Methoden des Aktivitätsaufbaus zur Erarbeitung alternativer Verhaltensweisen. Diese werden ergänzt durch Fertigkeitentrainings (Emotionsregulationstraining, Strukturtraining, soziales Kompetenztraining, Problemlösetraining) sowie Interventionen, die Probleme innerhalb der Familie oder in der Paarbeziehung adressieren. Für Jugendliche ab 16 Jahren und Erwachsene existiert ein manualisiertes Therapieprogramm für alle Formen von Online-Verhaltenssüchten, das in der multizentrischen STICA-Studie („short-term treatment for internet and computer game addiction”) eine hohe Wirksamkeit erwies (Wölfling et al. 2019). Für Kinder und Jugendliche im therapeutischen Kontext zeigen die Programme „PROTECT+“ („Professioneller Umgang mit technischen Medien“; Szász-Janocha et al. 2020) und „Lebenslust statt Onlineflucht“ (Wartberg et al. 2014) im therapeutischen Kontext vielversprechende Ergebnisse. In der indizierten Prävention haben kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme wie „PROTECT“ (Lindenberg et al. 2022) den höchsten Evidenzgrad, aber auch systemische Ansätze wie „ESCapade“ (Bundesministerium für Gesundheit 2014) haben sich im Beratungskontext bewährt. Das evidenzbasierte Programm „Internetsucht: Eltern stärken“ (ISES) beinhaltet ein 6‑wöchiges Elterngruppentraining (Brandhorst et al. 2022). Auch zur Glücksspielstörung (Müller und Wölfling 2020), Kauf-Shopping-Störung (Müller et al. 2020; Müller et al. 2023) und Pornografie-Nutzungsstörung (Stark 2020) haben sich psychotherapeutische Interventionen in verschiedenen Studien als wirksam erwiesen.

Fazit für die Praxis

Durch die Etablierung der Verhaltenssüchte als eigenständige Diagnosen in der ICD-11 wird anerkannt, dass es sich bei diesen Störungsbildern um Süchte handelt. Dies stellt einen enormen Fortschritt für das Verständnis sowie die Behandlung dieser Erkrankungen dar. Die Einordnung als eigenständige Diagnose unterstreicht zusätzlich zur nicht unerheblichen Zahl betroffener Personen die Wichtigkeit der Anamnese der Störungsbilder in der Routine-Diagnostik. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass es bereits evidenzbasierte psychotherapeutische Behandlungsmethoden gibt. Es wurde außerdem gezeigt, dass für weitere Störungsbilder die Umgruppierung in dieses ICD-11-Kapitel diskutiert wird, was dem zusätzlichen ätiologischen Verständnis und der Behandlung dienen würde. Es bleibt abschließend festzuhalten, dass durch die ICD-11 den Verhaltenssüchten eine gesteigerte Bedeutung zukommt und eine Grundlage geschaffen wurde, diese Störungsbilder im klinischen Kontext adäquat zu erkennen und zu behandeln.