Lernziele

Nach der Lektüre dieses Beitrags…

  • können Sie die drei Grundprinzipien der Improvisation benennen und ihre Übertragung in die Angewandte Improvisation erklären.

  • können Sie die psychologischen Grundbedürfnisse nach Grawe benennen.

  • können Sie die Achsen des interaktionellen Circumplexmodells benennen und erklären, wie diese mit Angewandter Improvisation erfahrbar gemacht werden können.

  • können Sie wichtige therapeutische Kompetenzen für den Umgang mit Beziehungsbrüchen benennen.

Angewandte Improvisation als Training interaktioneller Kompetenzen

Angewandte Improvisation ist ein Ansatz, bei dem Prinzipien und Übungen aus dem Improvisationstheater zum Training persönlicher und sozialer Kompetenzen eingesetzt werden. Im Folgenden wird gezeigt, wie die Angewandte Improvisation als erfahrungs- und körperzentrierten Methode in der Psychotherapie sowohl mit Patient:innen als auch im Ausbildungskontext nutzbar ist, um therapeutische Modelle der sozialen Interaktion wie z. B. das Konsistenzmodell und das Circumplexmodell leichter verständlich und im Alltag praktisch anwendbar zu machen. Zunächst führt der Beitrag in die Prinzipien des Improvisationstheaters und der Angewandten Improvisation ein, dann wird abgeleitet, wie die Angewandte Improvisation im psychotherapeutischen Kontext eingesetzt werden kann, und abschließend werden der konkrete Ablauf und mögliche Einsatzfelder der Angewandten Improvisation dargestellt.

Fallbeispiel

Frau M., 52 Jahre alt, geschieden, Angestellte bei der Stadtverwaltung, leidet an einer chronischen Depression. Sie lebt zurückgezogen; bei der Arbeit fühlt sie sich häufig ausgeschlossen, wenngleich sie sich in der Mittagspause den Kollegen:innen anschließen könnte. Das jedoch traut sie sich nicht, da sie nicht weiß, worüber sie reden soll. In der Therapiegruppe „Mit Spaß Beziehungen gestalten“ für depressive Patient:innen in einer Institutsambulanz wirkt Frau M. zunächst sehr darauf konzentriert, keinen Fehler zu machen. Schwerpunkt der ersten Stunde sind die Themen interpersonelle Präsenz und Annäherungsmodus. Konkret sind einige Übungen darauf angelegt, in einem Gruppenspiel Fehler zu erzeugen, über die gemeinsam in der Gruppe gelacht werden kann. Am Ende der ersten Sitzung stellt Frau M. überrascht fest, dass sie sich nicht erinnern könne, wann sie jemals so gelacht habe. Bereits beim 2. Termin zeigt sie eine geringere kritische Selbstaufmerksamkeit; sie wird zunehmend spontaner und aufmerksamer für die Mitspieler. Über die Einnahme verschiedener Rollen in nichtautobiografischen Szenen kann sie ihr eigenes Interaktionsverhalten im Circumplexmodell einordnen und mehr und mehr flexibel gestalten. Insbesondere gelingt es ihr, ihr häufig distanziert-unterwürfiges Interaktionsmuster durch positive Interaktionserfahrungen im Spiel zu erweitern.

Vom Improvisationstheater zur Angewandten Improvisation

Improvisation auf der Bühne

Improvisationstheater ist eine Form des Theaters, bei der die Darsteller:innen ohne vorgegebenes Skript spontan Szenen und Dialoge entwickeln, basierend auf Vorgaben des Publikums und mithilfe von trainierten improvisatorischen Grundregeln. Während Improvisationstheater für das Publikum eine unterhaltsame Theaterform darstellen mag, in der Schauspieler:innen scheinbar aus dem Nichts eine kohärente Geschichte erschaffen, bietet es den Spieler:innen einen besonderen Erfahrungs- und Entwicklungsraum, in dem sie wie bei einer Selbsterfahrung und -entwicklung gedankliche Freiheit und gemeinsame Kreativität entdecken können (Johnstone 2010). Um in diesem „Theater ohne Absicht“ (Lösel 2004) spontan und aus der Situation heraus gemeinsam interessante und tiefgehende Geschichten und Beziehungen der Charaktere entwickeln zu können, müssen Improvisationstheaterspieler:innen im Training Interaktionskompetenzen und etablierte Prinzipien der Improvisation mithilfe eines umfangreichen Repertoires von Übungen erlernen.

Übertragung in den therapeutischen Kontext

Die Prinzipien und Übungen des Improvisationstheaters überträgt die Angewandte Improvisation in therapeutische Kontexte und bietet für die Psychotherapie eine Möglichkeit zur Förderung interaktioneller Achtsamkeit von Patient:innen und Therapeut:innen. Im Unterschied zum Improvisationstheater werden nicht schauspielerische, sondern alltagsrelevante persönliche und interaktionelle Kompetenzen auf der Basis von psychologischen Modellen sozialer Interaktion trainiert (Dshemuchadse und Scherbaum 2014; Rossing und Hoffmann-Longtin 2016). Dieser Ansatz wurde im englischen Sprachraum bereits früh in der Entwicklung des Improvisationstheaters genutzt, um beispielsweise nichtsprachgebundene Trainings für Migrant:innen zu gestalten (Spolin 1986), und verbreitete sich im letzten Jahrzehnt seit der Gründung des internationalen Applied Improvisation Network insbesondere im Bereich von Weiterbildung, Coaching und Führungskräftetraining zum Training von Kommunikationsfähigkeit, Kreativität und Problemlösefähigkeit (Keefe 2003; Shaw und Stacey 2006; Schwenke et al. 2020). Auch im Rahmen der klinischen Ausbildung wurde Angewandte Improvisation bereits erfolgreich zur Verbesserung der Patient-Arzt-Interaktion eingesetzt, um Empathie und Perspektivwechsel zu trainieren (Ballon et al. 2007; Shochet et al. 2013; Hoffmann-Longtin et al. 2018).

Prinzipien des Improvisationstheaters

Im Folgenden werden die drei Prinzipien des Improvisationstheaters, die als grundlegend für den Einsatz der Angewandten Improvisation im Bereich der Psychotherapie anzusehen sind, beschrieben.

Au-ja-Prinzip.

Das erste Prinzip ist das Au-ja-Prinzip (Johnstone 2010). Dieses Prinzip bezieht sich sowohl auf die Impulse (Lösel 2004), die die Spieler:innen als Angebote machen, als auch auf die Reaktionen der Mitspielenden. Eine Geschichte entsteht dadurch, dass die Spieler:innen sich die eingebrachten Impulse gegenseitig wie Bälle zuspielen (Abb. 1). Dies erfordert eine annehmende Haltung – eben das Au-ja – gegenüber dem, was bisher auf der Bühne geschehen ist, aber auch gegenüber den eigenen Impulsen. Die Spieler:innen müssen darauf vertrauen, dass die Impulse, die sie anbieten, auch von den Anderen wahr- und aufgenommen werden. Ebenso müssen sie selbst das, was bisher geschehen ist, aufmerksam verfolgen und wertschätzend annehmen. Grundvoraussetzung für das Improvisationstheaterspiel und die gemeinsame Kreativität ist eine grundlegende Haltung der Akzeptanz und des Vertrauens. Diese Haltung ermöglicht es, „den inneren Assoziationsstrom mit dem Strom äußerer Reize, die ständig auf uns einprasseln, zu verschmelzen“ (Lösel 2004). Akzeptanz und Vertrauen führen zum Aufbau und zur Pflege einer Allianz zwischen den Spieler:innen, die Grundlage dafür ist, dass auch Fehler bzw. Irritationen als kreative Ressource genutzt werden können. Diese Fehlerfreundlichkeit spiegelt sich im Leitsatz, „mache Fehler groß“ wider. Die Spieler:innen sehen dann in Fehlern und „Aussetzern“ der Mitspieler:innen das Potenzial, Routinen zu stören und in einer dynamischen, kreativen Auseinandersetzung zu bleiben. Sie sind jederzeit bereit, einzuspringen und die Szene weiterzuentwickeln, falls dies den Anderen in dem Moment nicht gelingen sollte. Diese anhaltende Bezogenheit aufeinander drückt sich in dem weiteren Leitsatz: „Lass deine Mitspieler:innen aussehen wie Rockstars“ aus, denn die Kreativität im Improvisationstheater kann nur aus dem Zusammenspiel entstehen, und die Spieler:innen geben sich diesem Prozess im Vertrauen zueinander hin.

Abb. 1
figure 1

Improvisationstheater als ein Wechselspiel von Angeboten (Impulsen) zwischen Schauspielenden auf der Schauspielerebene, die zu einer Geschichte auf der Figurenbeziehungsebene führt: Aus der Interaktion der Schauspielenden, die sich vertrauensvoll wechselseitig Impulse senden, diese akzeptieren und vergrößern, entwickelt sich die Geschichte zweier Figuren. Die Schauspielenden müssen in einer Art doppelter Anwesenheit zwischen ihren Bedürfnissen als Schauspielende – eine gute Geschichte zu entwickeln – und den Bedürfnissen als Figuren unterscheiden. Mit diesem Prozessbewusstsein können sie zum passenden Zeitpunkt den Impuls, den die Geschichte braucht, an die anderen Spielenden geben

Beziehungsprinzip.

Das zweite Prinzip ist das Beziehungsprinzip (Lösel 2004; Johnstone 2010). Lebendige Improvisationstheaterszenen entstehen aus der Dynamik zwischen den Figuren, die von den Spieler:innen dargestellt werden. Die Angebote, auf die sich das Au-ja-Prinzip bezieht, sind in erster Linie Beziehungsangebote. Die Spieler:innen denken sich also nicht jeweils für sich im Kopf die Geschichte aus, um sie dann irgendwie zusammenzubringen. Vielmehr verlassen sie sich darauf, dass die von ihnen eingenommenen Figuren als Angebote für eine Beziehungsdynamik dienen, aus der sich die Geschichte dann entwickelt. Die Beziehungsangebote werden beim Improvisationstheater oft um einen zentralen Aspekt herum gestaltet: das Statusverhalten. Damit wird die unterschiedliche Dominanz der Figuren in einer Szene bezeichnet, wie beispielsweise in der klischeehaften Paarung eines herrschsüchtigen Königs mit seinem unterwürfigen Diener. Status trainieren die Spieler:innen, indem sie körperlich-gestische Zeichen zur Kommunikation des Angebots nutzen. Treffen Figuren mit verschiedenen Status aufeinander, dann entsteht ein gemeinsamer „Tanz“ (Johnstone 2010): Jede Änderung im Status einer Figur bewirkt Veränderungen im Status der anderen Figuren. Die Figuren „… bilden die Pole des aufzubauenden Spannungsfeldes. Wird dieses Spannungsfeld richtig aufgebaut, so ist nahezu alles interessant, was innerhalb dieses Feldes passiert“ (Lösel 2004, S. 147).

Prinzip der doppelten Anwesenheit.

Das dritte Prinzip ist am ehesten vergleichbar mit dem tiefenpsychologischen Konzept der therapeutischen Ich-Spaltung nach Sterba (1934). Bei diesem Prinzip geht es um die fortwährende Trennung von Schauspieler:in und Figur während des Spiels (Lösel 2004; Johnstone 2010). Diese Trennung ist nach außen nicht sichtbar, aber innerlich müssen die Spieler:innen beide Bewusstseinsebenen aufrechterhalten. Beispielhaft verdeutlichen lässt sich das anhand der Emotionalität der Figuren. Spielt die Spieler:in, dass die Figur Angst hat, muss sie diese Angst zwar darstellen, darf sich aber nicht von ihr leiten lassen. Denn dann würde sie die Szene so fortführen, dass der Angstauslöser vermieden werden kann, und die Szene würde an Spannung verlieren. Wenn sich die Spieler:in aber entscheidet, die Figur so handeln zu lassen, dass sie noch größerer Angst ausgesetzt wird, spitzt sich die Geschichte zu. Die Spieler:innen müssen also ein innerliches Au-ja gegenüber der Dramaturgie der Szene praktizieren, indem sie entgegen der intuitiven Bedürfnisse der gespielten (und mitgefühlten) Figuren handeln. Diese doppelte Anwesenheit trainiert bei den Spieler:innen ein hohes Maß an Prozessbewusstsein, um während der Szenen handlungsfähig zu bleiben. Die Spieler:innen lernen durch diese Erfahrungen ihre eigenen Präferenzen und Emotionen besser kennen und regulieren. Insbesondere beim Einsatz von Status spüren Anfänger:innen oft, dass der Status ihrer gespielten Figur (z. B. ein Hochstatus) sich für sie als Spieler:innen ungut anfühlt, da sie selbst im Sozialkontakt ihres Lebens abseits der Bühne einen anderen Status bevorzugen (z. B. einen niedrigen Status). Im Training lernen die Spieler:innen, den Status ihrer Figur nicht intuitiv zu untergraben, sondern diese Diskrepanz auszuhalten. Sie handeln also nicht so, wie sie es als Spieler:innen gerade brauchen, sondern so, wie es die Geschichte im Sinne der Beziehungskonstellation am besten voranbringt. Erfahrene Improvisationstheaterspieler:innen haben gelernt, den Reiz zu genießen, wenn sie dank der doppelten Anwesenheit ihre Figuren in Bereiche vordringen lassen, denen sie sich selbst innerlich verweigern würden. So entstehen in der Geschichte bedrohliche Situationen, traurige Begegnungen oder eskalierende Statuskonflikte – die Figuren bauen Fallhöhe. Diese Spannung, dieses drohende große Scheitern lässt scheinbar aus dem Nichts ein mitreißendes Theaterstück entstehen.

Die Angewandte Improvisation nutzt diese Prinzipien und die damit verbundenen Übungen, um eine interaktionelle Achtsamkeit von Patient:innen und Therapeut:innen zu fördern. Sie überträgt die Bühnenerfahrung der Schauspieler:innen mithilfe von geeigneten Übungen in die reale soziale Interaktion, um eine annehmende, beziehungsorientierte, flexible und prozessreflektierte Grundhaltung zu fördern.

Merke

Angewandte Improvisation ist ein mittlerweile etablierter Ansatz zum Training sozialer Interaktion auf der Basis von Techniken des Improvisationstheaters. Diese lassen sich anhand von folgenden drei Prinzipien beschreiben:

  1. 1.

    Au-ja-Prinzip: Einnehmen einer akzeptierenden vertrauensvollen Grundhaltung

  2. 2.

    Beziehungsprinzip: Sicheinlassen auf ein Spiel mit der Beziehungsdynamik

  3. 3.

    Prinzip der doppelten Anwesenheit: bewusstes Trennen und Wechseln der Interaktionsebenen zwischen Betrachtung der Geschichte von außen und dem Erleben der eigenen Figur in der Geschichte

Vermittlung von Modellen der Beziehungsgestaltung durch Angewandte Improvisation in der Psychotherapie

Die Kompetenz zur aktiven Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen zu fördern, erscheint therapeutisch in zwei Aspekten wünschenswert: einerseits als allgemeine alltagsrelevante Ressource für Patienten, andererseits als spezielle Kompetenz von Psychotherapeut:innen zur Gestaltung der psychotherapeutischen Beziehung. Für die therapeutische Praxis und Ausbildung ist es von großem Interesse, eine Methode zu finden, um die Gestaltung zwischenmenschlicher Interaktion bewusst erfahrbar und spielerisch trainierbar zu machen. Eine solche Methode bietet die Angewandte Improvisation, wobei sie an grundlegende psychologische bzw. psychotherapeutische Interaktionsmodelle anknüpft. Dieser Zusammenhang wird zunächst in Bezug auf zwei konkrete Modelle der zwischenmenschlichen Interaktion, die Konsistenztheorie nach Grawe und das Circumplexmodell nach Leary et al. erläutert. Im Anschluss wird auf die allgemeinen Zusammenhänge mit Blick auf die Gestaltung der therapeutischen Beziehung und insbesondere auf den Rupture-Repair-Ansatz eingegangen.

Konsistenztheorie nach Grawe

Das Konsistenzmodell des psychischen Geschehens (Grawe 2004) bietet einen Rahmen für das Verständnis zwischenmenschlicher Interaktion zur patientenorientierten Gestaltung des therapeutischen Prozesses. Ihm zufolge ist es für die psychische Gesundheit wesentlich, zwischen situativ aktivierten Grundbedürfnissen abzuwägen und dann geeignete Verhaltensschemata und Ziele auszuwählen. Als psychische Grundbedürfnisse nennt Grawe (2004):

  • Orientierung und Kontrolle,

  • Lustgewinn/Unlustvermeidung,

  • Bindung,

  • Selbstwerterhöhung/Selbstwertschutz.

In Abhängigkeit von Außenreizen werden diese Grundbedürfnisse unterschiedlich stark aktiviert und gegeneinander verrechnet, und schließlich wird entweder ein Annäherungs- (zur Befriedigung des Bedürfnisses) oder ein Vermeidungsschema (zum Schutz des Grundbedürfnisses vor Verletzung) ausgewählt. Können diese situativ aktivierten Bedürfnisse jedoch nicht in der Auswahl eines Verhaltensschemas miteinander vereinbart werden, entsteht Inkonsistenz. Dann setzen Regulationsmechanismen ein, mit dem Ziel, den angestrebten Zustand der Konsistenz, der „Vereinbarkeit der gleichzeitig ablaufenden neuronalen und psychischen Prozesse“ (Grawe 2004, S. 186), wiederherzustellen.

Besonders bei internalisierenden Störungen wie Depressionen oder Angststörungen überwiegen typischerweise Vermeidungsschemata. Dies führt z. B. bei Depressionen zu einer Inkonsistenz, in der das Kontrollbedürfnis die Bedürfnisse nach Lustgewinn, Bindung und ggf. auch Selbstwerterhöhung vollkommen blockieren kann. Menschen mit sozialen Phobien leiden häufig an Einsamkeit, da sie ihr Bedürfnis nach Bindung im Alltag immer wieder dem pathologisch überaktivierten Bedürfnis nach Kontrolle unterordnen.

Hier unterstützt Psychotherapie beim Streben nach Konsistenz (Grawe 2004), d. h. der Verbindung des Abwägens und Verfolgens von aktivierten Grundbedürfnissen mit einem passenden Verhaltensschema. Dabei sind Annährungsschemata bzw. -ziele für die therapeutische Entwicklung geeigneter, da sie – anders als Vermeidungsschemata – in ihrer Zielerreichung erlebbar sind. In Übungen der Angewandten Improvisation kann die konsistente Abstimmung von Bedürfnissen und Verhaltensschemata spielerisch erprobt und gefördert werden. In der Angewandten Improvisation lassen sich die Grundbedürfnisse nicht nur szenisch, sondern auch als Variation elementarer Improvisationsspiele erforschen.

Die Effekte der Aktivierung von Annäherungs- und Vermeidungsschemata können therapeutisch mit einer recht einfachen Übung zwischen zwei Spieler:innen in der Einzel- und Gruppentherapie erfahrbar gemacht werden. Dabei werden beide Schemata miteinander kontrastiert. Die Gruppenleitung bzw. Therapeut:in erklärt, dass es in der Übung darum geht, eine gemeinsame Aktivität zu planen. Vorgegeben werden im ersten Teil der Übung lediglich ein grobes Thema (hier ein Strandbesuch, möglich sind auch ein Picknick, ein Wochenendtrip usw.) und für Partner:in 1 die Aufgabe, Vorschläge zu unterbreiten, während Partner:in 2 diese mit der Formulierung „ja, aber das geht nicht, weil…“ abblocken soll. Beide Partner:innen dürfen ihre Fantasie nutzen, d. h., sowohl die Vorschläge als auch die Begründung für das Abblocken des Angebots haben nichts mit dem autobiografischen Kontext der Spieler:innen selbst zu tun – ein wesentlicher Unterschied zum klassischen Rollenspiel.

  1. 1.

    Vermeidungsschema („ja, aber“):

    • Partner:in 1: „Komm, lass uns morgen gleich ganz früh an den Strand fahren…“

    • Partner:in 2: „…ja, aber das geht nicht, ich will morgens lange schlafen…“

    • Partner:in 1: „Okay, dann fahren wir mittags in aller Ruhe, wenn du ausgeschlafen hast!“

    • Partner:in 2: „Ja, aber das geht nicht; mittags bekomme ich bestimmt einen Sonnenbrand…“

    • Partner:in 1: „Dann nehme ich eine Sonnencreme für dich mit.“

    • Partner:in 2: „Ja, aber die Sonnencreme verschmiert immer meine Sonnenbrille…“

In der Folge versucht Partner:in 1 immer wieder, die Szene durch Lösungen für die Einwände von Partner:in 2 weiterzuentwickeln. Partner:in 2 hält stereotyp mit einen „ja, aber“ dagegen. Nach ca. 3 min initiiert die Gruppenleitung bzw. Therapeut:in einen Rollenwechsel. Danach erfolgt eine Reflexion der Effekte des „Ja, aber“-Vermeidungsschemas: In den allermeisten Fällen war der Versuch, eine gemeinsame Aktivität zu planen, erfolglos.

Im zweiten Teil der Übung lautet die Aufgabe, erneut eine Aktivität zu planen (zur Abwechslung wird eine andere zu planende Aktivität vorgegeben), allerdings sollen beide Partner:innen nun auf die Vorschläge des Gegenübers mit einem annehmenden und weiterführenden „ja, genau, und dann…“ reagieren.

  1. 2.

    Annäherungsschema („ja, und“):

    • Partner:in 1: „Komm, lass uns morgen gleich ganz früh an den Strand fahren…“

    • Partner:in 2: „..ja, genau, und dann holen wir uns einen Kaffee und genießen den noch leeren Strand…“

    • Partner:in 1: „…ja, genau und dann suchen wir nach Bernstein, der nachts angeschwemmt wurde…“

    • Partner:in 2: „…ja, genau und dann …“

Da bei diesem zweiten Teil der Übung die Rollen symmetrisch agieren, ist kein Rollenwechsel nötig. Nach 3–5 min erfolgt eine Reflexion der Effekte des Au-ja-Prinzips auf die Aktivierung des Annäherungsschemas und die damit verbundenen Grundbedürfnisse. Eine zentrale Frage lautet, in welcher der drei Rollen das Gefühl von Kontrolle am größten war – und ob es hier einen Bezug zu alltäglichen Situationen gibt.

Diese Übung kann bei verschiedenen Störungsbildern genutzt werden, um die Effekte eigener Schemata zu erkennen. Bei Patienten:innen mit distanziert-unterwürfigem Verhalten, wie z. B. Ängsten oder chronischer Depression, sind sie nützlich, um die direkten Folgen des Vermeidungsschemas auf die Erfahrungsmöglichkeiten erlebbar zu machen. Johnstone (2010, S. 156) fasst die daraus resultierenden Konsequenzen so zusammen: „Die, die ja sagen, werden belohnt, indem sie mehr Abenteuer erleben, die, die nein sagen, werden belohnt durch die Sicherheit, die sie gewinnen.“ Zudem werden auch die interpersonellen Effekte direkt spürbar, d. h., Patienten:innen können unmittelbar am eigenen Leib erfahren, wie anstrengend es ist, einem Gegenüber im Vermeidungsschema immer wieder neue Angebote zu machen.

Über die konkreten Übungen hinaus bieten die Grundprinzipien der Angewandten Improvisation einen für das Konsistenzstreben förderlichen Rahmen. Zum einen können das Au-ja- und das Beziehungsprinzip die Grundbedürfnisse nach Lustgewinn und Bindung direkt erfüllen. Zum zweiten bietet die Angewandte Improvisation einen sicheren sozialen Simulationsraum, der das Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstwertschutz so ausreichend erfüllt, dass das Risiko von Fehlern eingegangen und die Erfahrung der Befriedigung der Bedürfnisse nach Bindung und Lustgewinn im gemeinsamen Lachen gemacht werden können. Dadurch können Patienten:innen im Spiel erfahren, dass Kontrolle und der Schutz des Selbstwerts nicht in jeder Situation erforderlich sind. Sie erleben, wie sie in den Annäherungsmodus zurückkehren können, und dass ein alltäglicher Fehler keine relevante Verletzung ihrer Grundbedürfnisse nach Kontrolle und Selbstwerterhöhung erzeugt, wenn sie ihre Bedürfnisse nach Bindung und Lustgewinn in einem Annäherungsschema verwirklichen. Zum dritten werden durch das Prinzip der doppelten Anwesenheit die Wahrnehmung und Reflexion der aktivierten eigenen Grundbedürfnisse trainiert. Im Spiel werden unterschiedliche Grundbedürfnisse bei Figur und Spieler:in ausgelöst, wobei gleichzeitig das Au-ja- und das Beziehungsprinzip ein übergreifendes Annäherungsschema aktivieren. Damit entsteht ein virtueller Übungsraum, in dem die Spieler:innen mit neuen Verhaltensweisen und emotionalen Zuständen experimentieren können. Die Angewandte Improvisation bietet jeweils Übungen zu verschiedenen Aspekten der sozialen Interaktion und darauf abgestimmte Reflexionsfragen, die Einsichten über die Erfahrungen im Spiel stimulieren und vertiefen. Im dritten Schritt werden diese Einsichten psychoedukativ mit psychologischen Modellen in Bezug gesetzt.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Grundprinzipien und Übungen der Angewandten Improvisation dabei helfen, die Aktivierung von interpersonellen Annäherungsschemata zur Verwirklichung individueller Grundbedürfnisse der Patienten:innen, wie z. B. Bindung, zu fördern. Die Angewandte Improvisation lässt sich in das verfahrensübergreifende Konzept des Konsistenzmodells (Grawe 2004) einfügen.

Merke

  • Bei Patienten dominieren häufig aufgrund stark aktivierter Grundbedürfnisse nach Kontrolle und Selbstwertschutz Vermeidungsschemata, sodass eine Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Bindung und Lustgewinn behindert wird.

  • Das Au-ja-Prinzip der Angewandten Improvisation unterstützt das Annäherungsschema, und das Beziehungsprinzip ermöglicht eine Reduktion dysfunktionaler Vermeidungstendenzen, wodurch motivationale Inkonsistenzen im Spiel der Angewandten Improvisation aufgelöst werden können.

Circumplexmodell

Das ursprünglich 1957 von Leary beschriebene Circumplexmodell (Abb. 2) erfasst menschliches Interaktionsverhalten in den beiden Dimensionen „agency“ (Agentenschaft/Dominanz) und „communion“ (Affiliation/Nähe). Die Autoren des vorliegenden Beitrags nutzen als eingängige Bezeichnung der ersten Achse den Begriff des Status. Zur Bezeichnung der Pole dieser Achse werden (anstelle von Learys ursprünglichem Begriffspaar „dominance“ und „submissiveness“) im klinischen Alltag die Begriffspaare „führen“ und „folgen“ oder „Hochstatus“ und „Tiefstatus“ verwendet. Die zweite Dimension des Circumplexmodells (Communion) lässt sich im klinischen Alltag als „Verbundenheitsachse“ betiteln. Die ursprünglichen Pole („love“ und „hate“ bei Leary) lassen sich in Anlehnung an die Benennung als Communion-Achse auch als „verbunden“ und „distanziert“ bezeichnen (Horowitz et al. 2006).

Abb. 2
figure 2

Beispiele für Statuskonstellationen im Circumplexmodell entlang der Verbundenheitsachse (Annäherung/„… und“ vs. Distanzierung/„… aber“)

Als verständliches Modell sozialer Interaktion hat das Circumplexmodell sowohl Eingang in die psychodynamische Psychotherapie als auch in die kognitive Verhaltenstherapie gefunden und ist als wichtiges verfahrensübergreifendes Modell der therapeutischen Beziehungsgestaltung inzwischen allgemein in die Psychotherapieausbildung integriert. In der Form der beiden Circumplexe der psychodynamischen Psychotherapie nach Benjamin (1974) stellt es in der Achse II der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD‑3, 2023) eine der Grundsäulen der psychodynamischen Fallkonzeption dar. In der Kognitiven Verhaltenstherapie wird es als das von Kiesler et al. (1997) adaptierte Circumplex mit entsprechendem Diagnostikinstrument (Impact Message Inventory, IMI) inzwischen auch über die ursprüngliche Anwendung im Rahmen des Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP; McCullough 2003) hinaus zu Diagnostik und Gestaltung im Therapieverlauf genutzt.

Das Circumplexmodell beschreibt das Interaktionsverhalten zweier Personen als sich gegenseitig beeinflussend wie folgt (Leary 1957): Ein bestimmtes Verhalten ruft beim jeweiligen Gegenüber eine spezifische Reaktion hervor. Nimmt Person A einen dominanten bzw. führenden (Hoch‑)Status ein, wird Person B einen unterwürfigen bzw. folgenden (Tief‑)Status annehmen und umgekehrt. Die soziale Interaktion wird entlang der Statusdimension gewissermaßen durch „magnetische“ Abstoßungsprozesse reguliert:

Person A: Ich zeige Dir, wo es langgeht.

Person B: Okay, ich folge Dir.

Diese Interaktion bildet beispielhaft die Hochstatus-Tiefstatus-Konstellation mit neutraler Lage auf der Verbundenheitsdimension ab. Allerdings verschieben sich die Positionen auch auf dieser Dimension, wie magnetisch gekoppelt. In der gekoppelten Position der rechten, „verbundenen“ Hälfte des Circumplexraums arrangieren sich Hoch- und Tiefstatus typischerweise in harmonischer Art, während die Vereinbarung der Statuspositionen in der linken „distanzierten“ Beziehungskonstellation oft in Konflikte mündet.

Die beschriebenen Mechanismen sozialer Interaktion werden mithilfe des Circumplexmodells erkennbar und dadurch auch aktiv und flexibel gestaltbar. Allerdings ist die flexible Gestaltung des eigenen Statusverhalten für viele Patienten stark herausfordernd: Menschen mit sozialen Ängsten, abhängigem Verhalten und insbesondere chronischen Depressionen zeigen wenige Impulse für den Schritt aus der Fixierung im Tiefstatus (McCullough 2003). Nach dem Modell der erlernten Hilflosigkeit von Seligman (1972) führt die aufgrund negativer Erfahrungen entwickelte Überzeugung, dass das eigene Handeln wirkungslos bleibt, zu einem generellen Verlust von spontanem Verhalten in aversiven Situationen. Angewandte Improvisation mit Fokus auf dem Beziehungsprinzip kann sowohl die Wahrnehmung von Statusverhältnissen als auch die Fähigkeit für Statuswechsel (Johnstone 2010) mit zahlreichen Übungen trainieren. Diese Übungen zum Statuswechsel unterscheiden sich von klassischen Rollenspielen (wie sie beispielsweise in Trainings sozialer Kompetenzen eingesetzt werden), dahingehend, dass ihre Themen losgelöst von dem Alltagskontext der Spieler:innen sind. Indem die Teilnehmenden in eine Rolle – z. B. eines führenden oder folgenden Zugbegleiters, Bademeisters oder Astronauten – schlüpfen, können sie unterschiedliche Positionen im Circumplexraum spielerisch ausprobieren.

Eine in diesem Kontext häufig eingesetzte Übung ist die „Status-WG“, bei der vier Personen mitspielen: Drei Personen suchen für ihr viertes Zimmer eine:n Mitbewohner:in. Vor Beginn wird zum einen festgelegt, wer der:die Bewerber:in ist, zum anderen zieht jede Person für die anderen nicht sichtbar einen Zettel, auf dem eine Ausprägung auf der Statusachse steht (Zahlen von 1 bis 4). Ab dem Start der Szene können die Personen ohne weitere Vorgaben interagieren und sich möglichst entsprechend ihrer Statusausprägung verhalten. Inhaltlich geht es z. B. um die Größe und Lage der Zimmer, um Putzpläne und die Dauer der Badnutzung. Dabei können die Spieler:innen erleben, wie sich ihre Körperhaltung und ihre Wahrnehmung verändern, wenn sie bewusst eine Person im Hochstatus oder im Tiefstatus darstellen. Sie können versuchen, einen hohen Status und gleichzeitig mit dem Prinzip des „Und“ statt „Aber“ Nähe auf der Verbundenheitsachse zu zeigen. Und sie können beobachten, wie das Gegenüber reagiert, wenn sie auf die feindliche Seite der Verbundenheitsachse wechseln. In erweiterten Übungsvarianten kann gezielt ein Wechsel der Statusverhältnisse in einer Situation initiiert werden – oder zwei Personen ringen um einen hohen oder auch niedrigen Status. Es ist sowohl möglich, dass die Übungen vor den anderen Teilnehmer:innen oder auch gleichzeitig in Kleingruppen durchgeführt werden. Die Gruppenleitung beobachtet und stoppt die Szene nach einigen Minuten. Im Anschluss an die Übungen findet jeweils eine gezielte Reflexion mit Bezug zum Circumplexmodell statt.

Diese körperzentrierten Ansätze lassen sich als kurze Szenen sowohl im Einzel- wie im Gruppenkontext einsetzen. Während dieser spielerischen Erkundungen des Beziehungsraums gilt selbstverständlich in jeder Übung auch das Au-ja-Prinzip. Die Spieler:innen machen so die Erfahrung, dass ihre Impulse und Statusangebote wahr- und angenommen werden. Diese positive Erfahrung hilft dabei, flexibles Statusverhalten aufzubauen und zu lernen, die Statusgestaltung bzw. die flexible Navigation im gesamten Circumplexmodell als persönliche Ressource zur Erreichung eigener Ziele und Wünsche einzusetzen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Spielerische Erweiterung der Erfahrungen mit Grundbedürfnissen und interaktionellen Verhaltensschemata im Rahmen der Konsistenztheorie und des Circumplexmodells

Merke

  • Auf der Grundlage des Circumplexmodells werden die verschiedenen Positionen menschlichen Interaktionsverhaltens anhand der beiden Dimensionen Status und Verbundenheit beschrieben.

  • Mithilfe von Angewandter Improvisation werden diese Positionen spielerisch erfahrbar und die Fähigkeit zum Positionswechsel trainiert.

Beziehungsgestaltung in der Psychotherapie

Allgemeine, schulenunabhängige Wirkfaktoren der Psychotherapie werden als „common factors“ bezeichnet. Ein Common factor, der sich in allen Untersuchungen wiederfindet, ist die therapeutische Allianz, vielleicht der bedeutendste Faktor therapeutischer Veränderung überhaupt (Horvath et al. 2011; Wampold und Imel 2015). Unter therapeutischer Allianz werden die zwischen Psychotherapeut:in und Patient:in aufgebaute Bindung und ihre Übereinstimmung hinsichtlich der Ziele und Aufgaben der Psychotherapie verstanden (Bordin 1979). Die für den Aufbau einer Allianz notwendigen therapeutischen Kompetenzen wurden mit Blick auf die zukünftige Gestaltung der Ausbildung angehender Psychotherapeuten erst kürzlich im Rahmen kompetenzorientierter Ansätze näher ausdifferenziert (EACLIPT Task Force On „Competences of Clinical Psychologists“ 2019; Rief et al. 2021). Dabei zeigt sich, dass die Herausforderung für die therapeutische Allianz nicht nur in ihrem Aufbau liegt, sondern insbesondere in der Reparatur von Brüchen in der Allianz (Rupture-Repair-Ansatz), die im Laufe des therapeutischen Prozesses regelmäßig auftreten (Safran et al. 2011). Diese Reparaturen stellen nicht nur die therapeutische Allianz wieder her, sondern ermöglichen dem:der Patient:in darüber hinaus wirksame psychotherapeutische Lernprozesse (Eubanks et al. 2018). Für die erfolgreiche Reparatur der Allianz greifen Psychotherapeut:innen auf ähnliche Kompetenzen zurück wie bei ihrem Aufbau (Ackerman und Hilsenroth 2003).

Eine grundlegende Kompetenz ist die Flexibilität in der Beziehungsgestaltung – etwa im Sinne des Circumplexmodells – als „notwendige Voraussetzung für interaktionelle Kompetenz“ (Caspar 2021), um flexibel und akzeptierend auf eine für die Psychotherapeut:in unerwartet auftauchende Veränderungen in der Beziehung reagieren zu können. Nicht nur die Flexibilität selbst hilft, sondern auch das Vertrauen in die eigene Kompetenz, flexibel zu reagieren, um Allianzbrüche offen und zuversichtlich anzunehmen. Zudem hilft eine Reflexion der Beziehungsdynamik auf der Metaebene, was allerdings bei gleichzeitig erforderlicher Präsenz in der therapeutischen Interaktion von (angehenden) Psychotherapeut:innen oftmals als herausfordernder „Spagat“ erlebt wird. Daher werden im therapeutischen Prozess auftretende Schwierigkeiten – auch im Sinne von Brüchen – oft erst im Nachhinein, etwa in der Supervision, deutlich und verstehbar. Wenn es gelingt, sowohl auf die Interaktionsangebote der Patient:innen als auch auf die Anforderungen des therapeutischen Prozesses direkt in der Sitzung zu reagieren, können Brüche entsprechend unmittelbar repariert werden.

Angewandte Improvisation bietet als Training dieser interpersonellen Kompetenzen in Weiterbildungs- und Selbsterfahrungsgruppen von Therapeut:innen ein passendes Übungsfeld. Das Au-ja-Prinzip fördert den konstruktiven Umgang mit Brüchen durch die akzeptierende Grundhaltung. Das Beziehungsprinzip trainiert Flexibilität und Vertrauen in das eigene Reaktionsvermögen. Und das Prinzip der doppelten Anwesenheit trainiert das Prozessbewusstsein. Die Fähigkeit, Veränderungen der therapeutischen Allianz zu reflektieren, benötigt auch eine Haltung der Fehlerfreundlichkeit und Selbstakzeptanz (Taubner und Evers 2021), die in den Prinzipien der Angewandten Improvisation verankert ist.

Zusammenfassend bietet die Angewandte Improvisation vielfältige Übungen und Methoden für die therapeutische Ausbildung der interaktionellen Achtsamkeit und die Förderung des flexiblen Aufgreifens von Angeboten aus der therapeutischen Interaktion. Sie trainiert allianzorientierte therapeutische Interaktions- und Beziehungskompetenzen wie Flexibilität (hier kann beispielsweise ebenfalls die bereits beschriebene Statusübung eingesetzt werden) und Prozessbewusstsein auch außerhalb von Patient:innenkontakten (Rousmaniere et al. 2017). Das Ergebnis ist die Erweiterung des eigenen Verhaltensrepertoires (abbildbar etwa im Circumplexmodell), das auch in der Tätigkeit als Psychotherapeut:in zur Verfügung steht. Belege gibt es nicht nur als anekdotische Evidenz aus Berichten der Teilnehmer:innen von Trainings und Workshops, sondern auch in Form von Studien zur Angewandten Improvisation als Training von medizinischem und therapeutischem Personal (z. B. Mehta et al. 2021, Romanelli und Berger 2018).

Merke

  • Therapeutische Allianz als zentraler Wirkfaktor für therapeutische Veränderung muss im Laufe des therapeutischen Prozesses nicht nur aufgebaut, sondern insbesondere beim Auftauchen von Brüchen repariert werden.

  • Die Angewandte Improvisation fördert das Prozessbewusstsein und die flexible Reaktion auf unerwartete Veränderungen in der Beziehungsdynamik.

Settings und Einsatzfelder

Ablauf und Setting

Das Grundprinzip der Angewandten Improvisation liegt darin, Patient:innen (bzw. Psychotherapeut:innen in Trainings und in der Selbsterfahrung) im Spiel neue Erfahrungen zu ermöglichen. Bei der Durchführung von Übungen der Angewandten Improvisation sollte eine Balance zwischen Spielfreude, der Reflexion des Erlebten und der Übertragung der Erfahrungen auf den Alltag unter Bezugnahme auf die vorgestellten Modelle hergestellt werden. Es empfiehlt sich das Vorgehen anhand eines Spiel-Reflexion-Psychoedukation-Zyklus (SRP-Zyklus). Dieses Vorgehen entspricht den Best-Practice-Empfehlungen nach Gao et al. (2019) bzw. einem leicht modifizierten erfahrungsbasierten Lernzyklus nach Kolb (2014).

  1. 1.

    Spiel: konkrete Erfahrung in Übungen,

  2. 2.

    Reflexion dieser Erfahrungen anhand von gezielten Fragen,

  3. 3.

    Psychoedukation (für Patient:innen) bzw. gemeinsame Einordnung der Erfahrung in psychologische Theorien (für Psychotherapeut:innen),

  4. 4.

    weitere Übungen zur Vertiefung der Erfahrung bzw. Ausprobieren neuer Verhaltensweisen.

Die Übungen der Angewandten Improvisation werden im Gruppensetting eingesetzt. Einsatzfelder sind ambulante und stationäre halboffene oder geschlossene Patient:innengruppen sowie Selbsterfahrungs- und Trainingsgruppen für Therapeuti:nnen und Fort- und Weiterbildung. Es ist möglich, einzelne Übungen in bestehende Gruppentherapie- oder Selbsterfahrungskonzepte zu integrieren. Als gemeinsamer Einstieg zu Beginn einer Gruppensitzung bieten sich solche Übungen an, die die Erfahrung ermöglichen, im Spiel – z. B. bei der Weitergabe eines einfachen Impulses wie eines Klatschens im Kreis – „Fehler“, die normalerweise als unangenehm erlebt würden, zu machen und gleichzeitig durch gemeinsames Lachen im Annäherungsmodus zu bleiben. Die Gruppenleitung spielt mit und zeigt modellhaft den eigenen Umgang mit Fehlern. Die Möglichkeiten der Kombination der Übungen mit etablierten therapeutischen Interventionen sind breit gefächert. Als Gruppenangebot zur Flexibilisierung des Interaktionsverhaltens können auch ganze Gruppentherapiekonzepte auf der Angewandten Improvisation basieren. Wichtig bei der Durchführung ist, dass die Gruppe nicht von einzelnen Patient:innen dominiert wird und der Schwierigkeitsgrad der Übungen so gewählt ist, dass niemand sich ausgeschlossen fühlt. Es erweist sich als hilfreich, wenn die anleitenden Therapeut:innen selbst Erfahrungen mit den Übungen und Prinzipien der Angewandten Improvisation gesammelt haben, sodass ein Einspringen jederzeit möglich ist.

Eine ganze Reihe von Übungen kann auch im Einzelsetting durchgeführt werden, um in der Therapie zentrale Interaktionsmuster mit praktischen Erfahrungen zu ergänzen und Veränderungen anzuregen, z. B. basale Übungen zur Distanzregulation durch Annehmen von Impulsen in Form des „ja, und“ statt „ja, aber“ oder zu Statuswahrnehmung und -wechsel.

Mögliche Einsatzfelder und Limitationen

Patient:innen

Die Angewandte Improvisation wird vorrangig in der Behandlung von Patient:innen mit internalisierenden Störungen eingesetzt, insbesondere bei episodisch und chronisch depressiven Patient:innen, Patient:innen mit sozialen Ängsten und mit Zwangsstörungen. Oftmals werden die Übungen der Angewandten Improvisation mit anderen Interventionen kombiniert (z. B. Phillips Sheesley et al. 2016). Ein deutschsprachiges Manual für ein Programm mit Patient:innen liegt seit Kurzem vor (Stein und Schnell 2024).

Ein weiteres vielversprechendes Einsatzfeld für die Angewandte Improvisation ist die Therapie mit Patient:innen mit Asperger-Syndrom, hier liegt ebenfalls bereits ein Manual vor (Kramer und Ploesch 2021).

Auch in der Behandlung von Essstörungen wird die Angewandte Improvisation in Kombination mit verhaltens- und bewegungstherapeutischen Elementen bereits erfolgreich zur Körperbildarbeit eingesetzt (Schwarte und Alexandridis 2024).

Der Einsatz in der Therapie bei Traumata bzw. posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) wird z. B. von Van der Kolk (2015) ebenfalls positiv bewertet; er sieht den Vorteil der Angewandten Improvisation insbesondere in der Förderung des Kontakts zum eigenen Körper und den Gefühlen sowie in der sicheren Atmosphäre in der Gruppe.

Hinsichtlich des Alters der Patient:innen wurden bislang keine Einschränkungen berichtet: Angewandte Improvisation wurde bei Kindern (Sowden et al. 2015) bis hin zu hochbetagten Teilnehmer:innen (Lindquist et al. 2021) erfolgreich eingesetzt.

Einschränkend muss festgehalten werden, dass die meisten bislang veröffentlichten Studien den Charakter von Pilotstudien aufweisen.

Zudem gibt es bislang keine systematischen Erfahrungen bezüglich des Einsatzes bei externalisierenden Störungen sowie bei Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen. Nicht eingesetzt werden sollte die Angewandte Improvisation gemäß der Erfahrung der Autoren nach bei akuten psychotischen Erkrankungen, da diese Patient:innen oftmals überfordert sind.

Ein prinzipielles Risiko fassen Reid-Wisdom und Perera-Delcourt (2022, S. 13) so zusammen: „the highly positive, rewarding, accepting personal relationships that can be developed within the safe, joyful framework of improv, can contrast unfavorably with participants’ relationships ‚in the real world‘, highlighting missing needs for connection, collaboration and creativity“.Es kann ein deutlicher Kontrast zwischen den spielerischen und annäherungsorientierten Beziehungen der Improvisationsgruppe und den oft invalidierenden Beziehungen in der alltäglichen Lebenswelt der Patient:innen entstehen. Dieser Effekt kann eine Belastung darstellen. Im Sinne der Problemaktualisierung ist dieser Kontrast allerdings auch ein notwendiger Aspekt der erwünschten Veränderung durch Psychotherapie. Zudem stellt die Angewandte Improvisation eine kontinuierliche Übertragung des Gelernten auf den Alltag her, sodass diese beiden „Welten“ nicht ohne Bezug nebeneinander stehen.

Psychotherapeut:innen

Neben dem Einsatz der Angewandten Improvisation als Training zur Verbesserung der Patient:in-Ärzt:in-Interaktion („medical improv“, z. B. Mehta et al. 2021) wurde auch im Bereich der Psychotherapie bereits der Nutzen von Angewandter Improvisation für die Ausbildung und Weiterentwicklung therapeutischer Kompetenzen erkannt (Romanelli und Berger 2018).

Auch in Deutschland gibt es verschiedene Projekte, Angewandte Improvisation in die Psychotherapie zu integrieren (www.improvintherapy.org), u. a. wird die Angewandte Improvisation derzeit an ersten Universitäten im Rahmen des neuen Psychotherapie-Master-Studiengangs als Training eingesetzt. Anregungen zum konkreten Einsatz der Angewandten Improvisation für Psychotherapeut:innen finden sich in einer aktuell erschienenen Anleitung (Stein und Schnell 2024).

Fazit für die Praxis

  • Angewandte Improvisation als etablierter Ansatz zum Training sozialer Interaktion integriert psychologische Modelle mit Techniken des Improvisationstheaters.

  • Mithilfe der Angewandten Improvisation können Grundbedürfnisse im übergeordneten Annäherungsschema des Spiels erlebt und dysfunktionale Vermeidungsschemata können reduziert werden.

  • Mithilfe von Angewandter Improvisation werden Positionen im Circumplexmodell auf den Dimensionen Status und Verbundenheit spielerisch erfahrbar; die Fähigkeit zum Positionswechsel wird trainiert.

  • Die Angewandte Improvisation kann die Behandlung von Patient:innen mit internalisierenden Störungen wie Depression und Angst sowie bei posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Asperger-Syndrom und Essstörungen unterstützen. Keine Erfahrungen gibt es bislang bei externalisierenden Störungen sowie bei Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen; bei akuten psychotischen Erkrankungen sollte die Angewandte Improvisation nicht eingesetzt werden. Gruppenleiter:innen sollten selbst Erfahrungen mit den Prinzipien und Übungen der Angewandten Improvisation gesammelt haben, um den Schwierigkeitsgrad an die Gruppe anpassen und unterstützen zu können.

  • Im Therapieverlauf muss die therapeutische Allianz als zentraler Wirkfaktor zunächst aufgebaut und immer wieder beim Auftauchen von Brüchen repariert werden. Die notwendigen therapeutischen Kompetenzen wie Prozessbewusstsein und Flexibilität können mit der Angewandten Improvisation im Rahmen von Trainings und Selbsterfahrung für Psychotherapeut:innen gefördert werden.