In den Wochenkrippen der DDR wurden Säuglinge ab einem Alter von sechs Wochen werktags Tag und Nacht betreut, weshalb diese Betreuungsform zwischen Heimerziehung und extensiver außerfamiliärer Betreuung zur verorten ist. Bekannt ist, dass Kinder, die ihre ersten Lebensjahre in Heimeinrichtungen verbringen, im Erwachsenenalter eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Diese Zusammenhänge könnten durch Störungen in der Bindungsentwicklung bedingt sein. Bislang ist jedoch zu den Bindungsmustern von Erwachsenen, welche ihre frühe Kindheit in einer Heimumgebung verbracht haben, wenig bekannt. Die Wochenkrippen stellen ein Modell dar, an dem die Assoziationen von emotionaler Deprivation durch eine heimähnliche Betreuung in den ersten Lebensjahren mit dem Bindungserleben und der psychischen Gesundheit im Erwachsenenalter untersucht werden können.

Einleitung

Institutionalisierte Erziehung in den ersten Lebensjahren ist von verschiedenen Autoren als Trauma im Sinne einer (emotionalen) Deprivation beschrieben worden (Carr et al. 2020; McLaughlin et al. 2017; Dozier et al. 2012). Als institutionalisierte Erziehung wird das Aufwachsen in Heimeinrichtungen, in denen größere Gruppen von Kindern durch wechselndes Personal im Schichtdienst betreut werden, definiert. Da unter diesen Bedingungen keine kontinuierliche stabile Beziehung zu einer primären Bezugsperson möglich ist, geht eine institutionalisierte Betreuung meist mit emotionaler Vernachlässigung einher, auch wenn die körperliche Versorgung der Kinder gegeben ist (Dozier et al. 2012; Lionetti et al. 2015). Kinder, die ihre ersten Lebensjahre in Heimeinrichtungen verbringen, weisen im Erwachsenenalter höhere Raten an psychischen Erkrankungen auf (Kumsta et al. 2017; Golm et al. 2020). Dieser Zusammenhang wird möglicherweise über Schwierigkeiten in den sozialen Beziehungen vermittelt (Golm et al. 2020). Die Bindungsforschung könnte daher zu einem vertieften Verständnis dieser Zusammenhänge beitragen: Ausgehend von den wiederholten frühen Beziehungserfahrungen bilden sich innere Arbeitsmodelle (IAM), die lebenslang prägend für die Gestaltung späterer Beziehungen sind (Bretherton und Munholland 2008). Unsichere IAM umfassen negative Annahmen über das Selbst und Andere und sind mit interpersonalen Problemen und einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen assoziiert (Doyle und Cicchetti 2017).

Die Auswirkungen von Heimerziehung auf die kindliche Bindung sind gut untersucht: Eine Metaanalyse berichtet einen 54 %igen Anteil von Kindern mit desorganisiertem Bindungsverhalten aus institutionalisierter Betreuung (n =399) im Vergleich zu einem Anteil von 21 % in einer familienbetreuten Kontrollgruppe, wobei sich insbesondere ein Betreuungsbeginn im Laufe des ersten Lebensjahres pathogen auswirkte (Lionetti et al. 2015). Zudem ist bekannt, dass bei einer außerfamiliären Betreuungszeit von mehr als 60 h pro Woche der Anteil der Kleinkinder, die zur Mutter desorganisiert gebunden waren, exponentiell ansteigt. Dieser Effekt ist ab einem Alter von sechs Monaten am stärksten, sodass das zweite Lebenshalbjahr mutmaßlich ein besonders sensitives Zeitfenster für die Bindungsentwicklung darstellt (Hazen et al. 2015). In der Literatur wird jedoch eine hohe Variabilität in der späteren Entwicklung von Kindern mit Heimerfahrung beschrieben, sodass eine frühe institutionalisierte Betreuung einen einflussreichen, aber keinen deterministischen Faktor für die weitere Entwicklung darstellt (Tottenham 2012). Studien mit Pflegekindern zeigen, dass trotz der vorausgehenden deprivierenden Erfahrung in einer Heimumgebung eine sichere Bindung zu den Pflegeeltern im Alter von drei Jahren festgestellt werden konnte und diese wiederum einen protektiven Faktor für die psychische Gesundheit in der mittleren Kindheit darstellte (McLaughlin et al. 2012). Die Bindungsentwicklung von Heimkindern kann somit durch positiv korrigierende Erfahrungen mit Bezugspersonen in der späteren Kindheit modifiziert werden, wobei der Feinfühligkeit der Bezugsperson eine entscheidende Rolle zukommt (West et al. 2020). Über die Bindungsmuster von Erwachsenen, die die ersten Lebensjahre in einer institutionalisierten Betreuungsform verbrachten, ist bislang jedoch wenig bekannt (Doyle und Cicchetti 2017).

Die Wochenkrippen der DDR stellten eine Betreuungsform dar, die strukturell an der Schnittstelle von institutionalisierter Erziehung und extensiver außerfamiliärer Betreuung verortet werden muss: In diesen Einrichtungen wurden Säuglinge ab einem Alter von sechs  Wochen werktags Tag und Nacht betreut und verbrachten nur das Wochenende bei der Familie. Die Entwicklungsbedingungen der Wochenkrippenkinder (WK) waren durch wiederholte Beziehungsabbrüche, lang anhaltende Trennungen von den Eltern und eine kollektivistische Erziehung gekennzeichnet. Hochrechnungen gehen davon aus, dass insgesamt zwischen 1949 und 1989 mehrere Hunderttausend Menschen als Säuglinge in einer Wochenkrippe betreut worden sind (Liebsch 2023). Die Gruppen von durchschnittlich etwa 16 Kindern wurden von zwei Erzieherinnen im Schichtsystem betreut (Schmidt-Kolmer und Kolmer 1970). Laut Zeitzeugenberichten war nachts teilweise nur eine Nachtwache für eine deutlich größere Zahl an Kindern zuständig, und in einigen Fällen wurden Kleinkinder an die Betten fixiert, um aufgrund der fehlenden Aufsicht die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten. Darüber hinaus gab es straffe Zeitpläne, sodass beispielsweise für das Füttern der einzelnen Kinder mit der Flasche jeweils 10 min eingeplant waren (Beronneau 2020; Liebsch 2023). Eine feinfühlige Betreuung und individuelle Zuwendung war unter diesen Umständen schwer möglich. Zeitgenössische Untersuchungen zeigten Defizite der WK gegenüber den tagesbetreuten Kindern, insbesondere in der Sprachentwicklung (Schmidt-Kolmer und Grosch 1977; Schmidt-Kolmer und Niebsch 1963). Die möglichen Auswirkungen der Wochenkrippenbetreuung auf die emotionale Entwicklung und die Bindungsentwicklung bleiben jedoch unklar. Da die Wochenkrippen die wesentlichen Merkmale einer institutionalisierten Erziehungsumgebung aufweisen, muss angesichts des oben skizzierten Forschungsstandes angenommen werden, dass eine Wochenkrippenbetreuung einen Risikofaktor für unsicheres Bindungsverhalten beim Kind darstellte. Ausgehend von der bisher unzureichenden Studienlage zu den Langzeitfolgen institutionalisierter Erziehung auf die Bindung und das psychische Befinden untersucht die vorliegende Studie das aktuelle Vorliegen psychischer Erkrankungen sowie unsicherer und desorganisierter Bindung in einer Stichprobe von Erwachsenen, die einen Großteil der ersten drei Lebensjahre in einer Wochenkrippe verbracht haben. Es werden die vorläufigen Ergebnisse aus einer noch laufenden Erhebung berichtet.

Material und Methoden

Stichproben und Durchführung

Ehemalige Wochenkrippenkinder

Über die Website wochenkinder.de, Medienberichte und Aufrufe in sozialen Netzwerken wurde ab April 2022 eine Gelegenheitsstichprobe von Personen rekrutiert, die im Alter zwischen null und drei Jahren in einer Wochenkrippe in der DDR betreut worden waren (WK). Voraussetzung für die Studienteilnahme war, dass den Teilnehmenden die Betreuung in einer Wochenkrippe eindeutig bekannt war, und dass diese eine Dauer von mindestens drei Monaten umfasst hatte. In einem telefonischen Vorgespräch wurden jeweils die Einschlusskriterien geprüft und biografische Daten erfasst. Im Anschluss wurde den Teilnehmenden ein Fragebogen zugeschickt, in dem Daten u. a. mithilfe der unten genannten Instrumente erhoben wurden. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Universitätsmedizin Rostock genehmigt (A 2022-0026) und unter Einhaltung der aktuellen Fassung der Deklaration von Helsinki sowie den Regeln der „good clinical practice“ durchgeführt. Die Studie wird gefördert von der Bundesstiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Vergleichsgruppe ehemaliger DDR-BürgerInnen

Als Vergleichsgruppe ehemaliger DDR-BürgerInnen (VG) wurde eine annähernd repräsentative Stichprobe aus der Allgemeinbevölkerung, die im Mai 2022 an einer onlinebasierten Umfrage durch das Marktforschungsinstitut respondi & bilendi teilgenommen hatte, herangezogen. Dabei wurden Daten u. a. mithilfe der unten stehenden Instrumente erhoben und die Teilnehmenden gefragt: „Wurden Sie vor 1990 in der ehemaligen DDR geboren?“ Für die vorliegende Arbeit wurden die Daten der Teilstichprobe von Personen ausgewertet, die diese Frage mit „ja“ beantwortet hatten. Zudem wurde die überwiegende Betreuungsform in den ersten drei Lebensjahren erfragt. Sechs Personen hatten eine Wochenkrippenbetreuung angegeben und wurden von den Analysen ausgeschlossen, was in einer Vergleichsgruppe von n =192 resultierte (davon n = 61 in Tageskrippenbetreuung, n = 127 Betreuung ausschließlich in der Familie, n = 2 Betreuung durch eine Tagesmutter, n = 1 Heimbetreuung, n = 1 Sonstiges). Die Studie wurde von der Ethikkommission an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock genehmigt (Registriernummer A 2021-0268) und durch die Gesellschaft für Nervenheilkunde Mecklenburg-Vorpommern finanziell gefördert.

Instrumente

Gesundheitsfragebogen für Patienten – Ultrakurzform

Der Gesundheitsfragebogen für Patienten – Ultrakurzform (PHQ‑4; Kroenke et al. 2009) ist ein Screeninginstrument zur Erfassung der aktuellen psychischen Belastung. Mithilfe von jeweils zwei Items werden auf einer Likert-Skala von 0 (überhaupt nicht) bis 3 (beinahe jeden Tag) Depressivität und Ängstlichkeit in den letzten 14 Tagen erfasst. Der Gesamtwert stellt einen Indikator für die aktuelle psychische Belastung dar. Der PHQ‑4 ist ein international etabliertes Selbstbeurteilungsinstrument mit guten psychometrischen Kennwerten (Kroenke et al. 2009). In den vorliegenden Stichproben betrug McDonalds ω 0,86 für die WK und 0,91 für die VG.

Somatic Symptom Scale-8

Die Somatic Symptom Scale‑8 (SSS‑8; Gierk et al. 2014) ist eine Kurzform des Patient Health Questionnaire-15 (Kroenke et al. 2009) zur Selbstbeurteilung körperlicher Beschwerden. Acht häufige körperliche Beschwerden werden mit jeweils einem Item im Hinblick auf die subjektive Belastung in den letzten sieben Tagen auf einer Skala von 0 (gar nicht vorhanden) bis 4 (sehr stark) eingeschätzt. Die SSS‑8 ist ein gut evaluiertes Instrument, das in einer großen Allgemeinbevölkerungsstichprobe eine hohe Reliabilität und Validität aufwies (Gierk et al. 2014). McDonalds ω betrug in der vorliegenden Studie 0,86 (WK) und 0,85 (VG).

Composite International Diagnostic Screener (A und B)

Der Selbstbeurteilungsfragebogen Composite International Diagnostic Screener (CID‑S; Wittchen et al. 1999) ist ein Screeninginstrument zur Erfassung der häufigsten Diagnosegruppen psychischer Erkrankungen. Das Instrument umfasst zwölf Items, basierend auf den diagnostischen Kernfragen des Composite International Diagnostic Interview (CIDI). Das Screening unterscheidet nach Lebenszeitdiagnosen (A) und Diagnosen, die im Laufe der letzten zwölf Monate erfüllt waren (B). Der CID‑S wies in einer Untersuchung mit dem CIDI (Wittchen et al. 1999) eine hohe Sensitivität (A: 85,3 %, B: 80,7 %) und einen hohen negativen prädiktiven Wert auf (A: 92,0 %, B: 85,1 %). In der vorliegenden Untersuchung wird die Zahl der erfüllten Screeningdiagnosen (Lebenszeit und im letzten Jahr) als Ergebnismaß für das Vorliegen psychischer Erkrankungen herangezogen.

Experiences in Close Relationships – revidierte deutsche Fassung

Der Fragebogen Experiences in Close Relationships – revidierte deutsche Fassung (ECR-RD) erfasstmittels Selbstbeurteilung partnerschaftsbezogene Bindungsdimensionen von Erwachsenen (Ehrenthal et al. 2009). Die Mittelwerte von jeweils 18 Items, die auf einer Likert-Skala von 1 (stimme gar nicht zu) bis 7 (stimme völlig zu) eingeschätzt werden, bilden die beiden Skalen bindungsbezogene Angst (BANG) und bindungsbezogene Vermeidung (BVER). Der ECR-RD ist ein im deutschen Sprachraum häufig eingesetztes Instrument zur Erfassung von Bindung im Erwachsenenalter, das in gesunden und klinischen Stichproben gute psychometrische Kennwerte aufweist (Ehrenthal et al. 2009). In der Stichprobe der WK betrug die interne Konsistenz der Skalen ω = 0,95 (BANG) und ω = 0,92 (BVER); in der VG ω = 0,91 für beide Subskalen.

Adult Disorganized Attachment Scale

Die Adult Disorganized Attachment Scale (ADA; Paetzold et al. 2015) ist ein Selbstbeurteilungsinstrument, das desorganisierte Bindungsstrategien in Liebesbeziehungen erfasst. Neun Items werden auf einer Skala von 1 (starke Ablehnung) bis 7 (starke Zustimmung) eingeschätzt und anschließend gemittelt. Eine höhere Ausprägung der ADA ist mit dem Vorliegen von psychischen Störungen assoziiert, unabhängig von Bindungsangst und Bindungsvermeidung (Paetzold et al. 2015). Das Instrument zeigte sowohl im amerikanischen Original (Paetzold et al. 2015) als auch in der deutschsprachigen Übersetzung (Flemming et al. 2023) gute psychometrische Kennwerte. In der vorliegenden Stichprobe betrug die interne Konsistenz ω = 0,90 (WK) und ω = 0,91 (VG).

Statistische Analysen

Beide Stichproben wurden hinsichtlich der Verteilung soziodemografischer Variablen (Alter, Geschlecht, Familienstand und Schulbildung) analysiert und die Unterschiede der Verteilung zwischen den Stichproben mithilfe von U‑Test bzw. χ2-Test überprüft. Die deskriptiven Skalenkennwerte der genannten Instrumente wurden jeweils getrennt für beide Stichproben ermittelt. Mithilfe hierarchischer linearer Regressionsmodelle wurden die Zusammenhänge der Gruppenzugehörigkeit (WK/VG) mit den Ergebnismaßen PHQ‑4 und SSS‑8, der Anzahl der positiven Screenings für Diagnosen im CID‑S (A und B), den Subskalen der ECR-RD Bindungsangst (BANG) und Bindungsvermeidung (BVER) sowie ADA ermittelt. Dazu wurden die genannten Skalen jeweils als abhängige Variablen eingeschlossen. Als Prädiktoren wurden im ersten Schritt die soziodemografischen Variablen (Alter, Geschlecht, Familienstand, Schulbildung) und im zweiten Schritt zusätzlich die Variable Gruppe (WK/VG) berücksichtigt. Es werden die Varianzaufklärung von Schritt 1 und die zusätzliche Varianzaufklärung in Schritt 2 berichtet, außerdem die Regressionskoeffizienten für die Variable Gruppe (B und Standardfehler sowie β). Zudem wurde mithilfe des Variance Inflation Factor (VIF) auf Multikollinearität überprüft. Als Signifikanzniveau wurde p < 0,05 festgelegt.

Ergebnisse

In der WK-Stichprobe waren 61,5 % der Personen vor dem Alter von drei Monaten in die Krippe gekommen (in der Mehrzahl der Fälle im Alter von sechs oder acht Wochen), 16,6 % zwischen dem 4. und dem 12. Lebensmonat sowie 14,1 % ab einem Alter von einem Jahr. Die durchschnittliche Dauer der Wochenkrippenbetreuung betrug in der untersuchten Stichprobe 25,5 ± 10,6 Monate. Die deskriptiven Skalenkennwerte und die soziodemografischen Angaben der beiden Stichproben sind in Tab. 1 aufgeführt. Die WK-Stichprobe unterschied sich hinsichtlich des Anteils an weiblichen Personen von der VG (χ2 = 29,58, p < 0,001). In Bezug auf das Alter bestand kein Unterschied zwischen den Gruppen (U = 7152, p = 0,461). Es zeigten sich Differenzen bei der Verteilung des Familienstands (χ2 = 9,83, p = 0,007) und des Bildungsgrades zwischen den Gruppen (χ2 = 6,63, p = 0,036). Deskriptiv wies die WK-Stichprobe jeweils höhere Ausprägungen allen untersuchten Skalen zur Erfassung des Vorliegens psychischer Erkrankungen und unsicherer/desorganisierter Bindung auf als die VG.

Tab. 1 Demografische Daten und Skalenkennwerte der Stichproben

Die Ergebnisse der hierarchischen linearen Regressionsmodelle mit der jeweiligen Varianzaufklärung und den Regressionskoeffizienten des Prädiktors Gruppe (WK/VG) sind in Tab. 2 ersichtlich. Aus Platzgründen findet sich die vollständige Darstellung der Koeffizienten für alle Prädiktoren (Gruppe, Alter, Geschlecht, Familienstand und Schulbildung) im Zusatzmaterial online: Tabelle OA. Im ersten Schritt der jeweiligen Modelle war das Geschlecht ein signifikanter Prädiktor für alle Ergebnismaße. Adult Disorganized Attachment und Bindungsangst waren mit dem Alter assoziiert und die somatischen Beschwerden mit der Schulbildung. Der Einschluss der Gruppenvariable (0 ≙ WK, 1 ≙ VG) in Schritt 2 zeigte für alle Ergebnismaße eine signifikante zusätzliche Varianzaufklärung zu den soziodemografischen Variablen. Für die abhängigen Variablen PHQ‑4, CID‑S, Bindungsvermeidung und ADA erzielte der Einschluss der Gruppenvariable jeweils eine größere Varianzaufklärung als die Soziodemografie. Hinsichtlich der Regressionskoeffizienten stand die Wochenkrippenbetreuung mit allen Ergebnismaßen in einem signifikanten Zusammenhang; dieser war bezüglich der Anzahl der positiven Screenings für die Lebenszeitdiagnosen am höchsten (β = −0,71, p < 0,001) und für die somatische Beschwerden am geringsten (β = −0,26, p < 0,001). Die Zusammenhänge der Ergebnismaße mit den soziodemografischen Variablen, insbesondere dem Geschlecht, waren im zweiten Modellschritt deskriptiv schwächer oder nicht mehr signifikant (Zusatzmaterial online: Tabelle OA). Das Vorliegen von Multikollinearität konnte ausgeschlossen werden, da der VIF in allen untersuchten Modellen unter 2 lag.

Tab. 2 Ergebnisse der multiplen linearen Regressionsmodelle (n =272): Zusammenhang der Variable Gruppe (Wochenkrippe ≙ 0, Vergleichsgruppe ≙ 1) mit den Ergebnismaßen unter Kontrolle von Alter, Geschlecht, Familienstand und Schulbildung

Diskussion

Interpretation der Ergebnisse

Die vorläufigen Ergebnisse aus einer noch laufenden Studie legen Zusammenhänge zwischen einer wochenweisen Krippenbetreuung und deutlich erhöhten Ausprägungen in der Psychopathologie im Erwachsenenalter im Vergleich zu anderen Betreuungsformen (Tageskrippe oder Familie) nahe. Eine frühe wochenweise Betreuung war assoziiert mit der generellen psychischen Belastung, aktuellen somatoformen Beschwerden sowie der Zahl der psychischen Problembereiche, für die sowohl aktuell als auch (retrospektiv) im Lebensverlauf positiv gescreent wurde. Diese Zusammenhänge bestanden unter Kontrolle der soziodemografischen Unterschiede zwischen den Stichproben. Diese vorläufigen Ergebnisse sind grundsätzlich vereinbar mit den bisherigen Befunden zur Assoziation zwischen früher institutionalisierter Erziehung und dem Auftreten emotionaler Schwierigkeiten im Erwachsenenalter (Golm et al. 2020; Kumsta et al. 2017). Für diesen Zusammenhang sind in der Literatur verschiedene mögliche Entwicklungspfade beschrieben worden, wobei u. a. der Dysregulation der hormonellen Stressantwort durch emotionale Deprivation in den ersten Lebensjahren eine wichtige Rolle zukommt (Blaisdell et al. 2019). Diese steht wiederum mit einer erhöhten Stresssensitivität und einem höheren Risiko für psychische Erkrankungen im späteren Lebensalter im Zusammenhang (Murphy et al. 2022). Insbesondere eine Dauer von mehr als sechs Monaten in der Heimbetreuung könnte einen Risikofaktor sowohl für spätere hormonelle Dysregulation als auch das Vorliegen psychischer Erkrankungen darstellen (Kumsta et al. 2017). Die in der vorliegenden Studie befragten Personen hatten durchschnittlich mehr als zwei Jahre in der Wochenkrippe verbracht, was einen tiefgreifenden Einfluss dieser Betreuungsform auf die weitere Entwicklung nahelegt. Darüber hinaus wurde der überwiegende Teil der untersuchten Personen im Laufe des ersten Lebensjahres in die Wochenkrippe aufgenommen, wobei dies als ein kritischer Zeitraum für die Bindungsentwicklung gilt und eine extensive außerfamiliäre Betreuung in dieser Zeit das Risiko von desorganisiertem Bindungsverhalten beim Kind erhöht (Hazen et al. 2015). Die WK wiesen in der vorliegenden Untersuchung erhöhte Ausprägungen in unsicherer und desorganisierter Bindung in den aktuell bedeutsamen Beziehungen auf. Diese Ergebnisse lassen sich im Rahmen des Modells der selbstorganisatorischen Entwicklung (Cicchetti 2016; Doyle und Cicchetti 2017) verstehen: Die Qualität der frühkindlichen Bindung beeinflusst das Gelingen der weiteren sozioemotionalen Entwicklungsschritte im Verlauf der Kindheit (u. a. Aufbau von Freundschaften, Verstehen der sozialen Signale Gleichaltriger) und des jungen Erwachsenenalters (etwa positives Selbstbild in romantischen Beziehungen, Konfliktlösefähigkeit; Doyle und Cicchetti 2017). Sowohl die weitgehend institutionalisierte Betreuung mit (überwiegend) mangelnden Ressourcen für individuelle und emotionale Zuwendung als auch die wiederholten Trennungserfahrungen können bei ehemaligen WK zu einer höheren Wahrscheinlichkeit von unsicheren inneren Arbeitsmodellen von Bindung geführt haben. Dies kann im Sinne des oben beschriebenen Modells (Doyle und Cicchetti 2017) Folgen für die weiteren sozialen Lernerfahrungen dahingehend gehabt haben, dass bestimmte interpersonale Kompetenzen (Vertrauen in Andere, um Hilfe bitten, sich aus schwierigen Beziehungen lösen können) nicht ausreichend erworben werden konnten und korrigierende Beziehungserfahrungen im späteren Lebensalter weniger wahrscheinlich werden. Auch wenn diese Zusammenhänge aufgrund fehlender Längsschnittdaten nicht überprüft werden können, bietet das beschriebene Modell einen Rahmen, um das unsichere Bindungserleben der ehemaligen WK in den aktuellen Beziehungen zu erklären. Die Ergebnisse stehen außerdem im Einklang mit den bisherigen Fallstudien und biografischen Interviews mit ehemaligen WK, die insbesondere Bindungsschwierigkeiten in Form von fehlendem Vertrauen in das Selbst und in Andere beschrieben haben (Beronneau 2020; Liebsch 2023). Ebenso, wie für die Heimerziehung beschrieben (Tottenham 2012), stellt auch der Besuch einer Wochenkrippe einen zwar mutmaßlich einflussreichen, jedoch nicht deterministischen Faktor für die Bindungsentwicklung dar. Es ist vorstellbar, dass der Aufbau einer sicheren Bindung zu mindestens einem Elternteil, einer Krippenerzieherin oder einer anderen Person für einen Teil der WK einen protektiven Faktor hinsichtlich der späteren psychischen Gesundheit darstellte. Hierfür kann die Erhebung von Bindungsrepräsentanzen mithilfe des Adult Attachment Interview aufschlussreich sein; diese ermöglichen einen Rückschluss auf die inneren Arbeitsmodelle von Bindung. Sichere Bindungsrepräsentanzen könnten einen moderierenden Faktor für den Zusammenhang zwischen früherer Wochenkrippenbetreuung und dem späteren Vorliegen psychischer Erkrankungen darstellen.

Limitationen der Studie

Die Frage nach der Auswirkung von sicheren Bindungsrepräsentanzen bei WK muss auf Grundlage der vorliegenden Daten offen bleiben, da mit den ECR-RD ein spezifischer Aspekt von Bindung, d. h. selbstbeurteilte Bindungsdimensionen in der Partnerschaft, erfasst wurde. Auch wenn selbstbeurteilte Bindungsunsicherheit in den romantischen Beziehungen eng mit der psychischen Belastung korreliert (Flemming et al. 2022), ist die Konvergenz mit dem Adult Attachment Interview zur Erfassung der Bindungsrepräsentanz moderat (Strauss et al. 2022).

Darüber hinaus müssen weitere Limitationen der Studie diskutiert werden: Aufgrund des Studiendesigns lassen die Ergebnisse keine Rückschlüsse auf die Kausalität der gefundenen Zusammenhänge zu. Die Auswahl der Studienteilnehmenden erfolgte mithilfe der Selbstselektion, daher könnten sich in erster Linie Personen, die sich stärker belastet fühlten, zur Studienteilnahme gemeldet haben. Jedoch gab es auch ProbandInnen, die auf die Frage nach der Teilnahmemotivation angaben, durch ihre als positiv erlebten Lebensgeschichten einer negativen Darstellung der Wochenkrippen entgegenwirken zu wollen. Zudem lassen sich Erinnerungsverzerrungen (etwa bei der retrospektiven Erfassung psychischer Probleme über die Lebensspanne hinweg) nicht ausschließen. Weiterhin sollten zukünftige Untersuchungen ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis anstreben.

Resümee

Trotz oben genannter Einschränkungen sind die dargestellten Ergebnisse perspektivisch für die klinische Praxis relevant: Bei PatientInnen, die vor 1990 in der DDR geboren wurden, sollte die Möglichkeit einer Wochenkrippenbetreuung berücksichtigt und ggf. in der Anamnese direkt erfragt werden. Unsicheres Bindungserleben in den aktuellen Beziehungen könnte der Symptomatik zugrunde liegen und ein wichtiger Fokus der Behandlung sein. Der therapeutischen Beziehung kann in der Behandlung ehemaliger WK im Sinne einer sicheren und haltgebenden korrigierenden Beziehungserfahrung eine besondere Bedeutung zukommen. Vertiefende Untersuchungen in größeren Stichproben sind notwendig, um diese ersten Befunde zu überprüfen und differenzierte Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie von PatientInnen mit Wochenkrippenerfahrung ableiten zu können.

Fazit für die Praxis

  • Ehemalige Wochenkrippenkinder weisen, auch unter Kontrolle soziodemografischer Variablen, ein höheres Risiko für spätere psychische Erkrankungen auf als eine Vergleichsgruppe von Personen, die vor 1990 in der DDR geboren sind.

  • Eine mögliche Wochenkrippenbetreuung sollte bei PatientInnen aus der ehemaligen DDR in der psychotherapeutischen Anamnese erfragt und ggf. in der Behandlung berücksichtigt werden.

  • Größere Stichproben mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis sind notwendig, um diese ersten vorläufigen Ergebnisse zu überprüfen.