Hinführung

Kontrastierend zu hohen Prävalenzraten psychischer Störungen im Jugend- und im jungen Erwachsenenalter steht eine geringe und oftmals zeitlich verzögerte Inanspruchnahme von ambulanter Psychotherapie. Der Einbezug von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen (KJP) bietet das Potenzial, weitere Barrieren und Faszilitatoren zur Aufnahme einer Psychotherapie zu erfassen und in Bezug zu wahrgenommenen Barrieren von Patient*innen in ambulanter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zu setzen.

Einleitung

In Deutschland hat sich im Verlauf der Coronapandemie die Prävalenz für psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen von 17 auf 30,4 % fast verdoppelt (Ravens-Sieberer et al. 2021). Im Kontrast dazu steht trotz hoher Wirksamkeit von Psychotherapie (Weisz et al. 2017) ein geringes Inanspruchnahmeverhalten von Psychotherapie (Hintzpeter et al. 2014). Da das Erstmanifestationsalter bei der Hälfte aller psychischen Störungen unter einem Lebensalter von 18 Jahren liegt (Solmi et al. 2021) und eine hohe Persistenz psychischer Störungen im Kindes- und im Jugendalter besteht (Mulraney et al. 2021), sind die frühzeitige Erkennung und Behandlung psychischer Störungen wesentlich. Das Jugendalter stellt hierbei vor dem Hintergrund von Identitätsentwicklung, physischer und psychischer Reifungsprozesse und steigender Autonomieanforderungen eine vulnerable Zeit für die Entwicklung psychischer Störungen dar (Kwong et al. 2019). Diese Vulnerabilitätsfaktoren können mit altersspezifischen Barrieren im Hilfesuchverhalten einhergehen. Das Verständnis von Faktoren, die die Aufnahme einer Psychotherapie erschweren (Barrieren) oder erleichtern (Faszilitatoren), ist ein wichtiger Schritt, um Maßnahmen weiterzuentwickeln, die das frühzeitige Inanspruchnahmeverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen steigern. In zwei systematischen Reviews (Aguirre Velasco et al. 2020; Radez et al. 2021) zu Barrieren und Faszilitatoren von hilfesuchendem Verhalten bei Jugendlichen mit psychischen Problemen wurden in 53 bzw. 54 Studien Ängste vor öffentlicher Stigmatisierung, Wissensdefizite bezüglich psychischer Störungen und deren Behandlung, negative Einstellungen gegenüber dem Gesundheitssystem zur Behandlung psychischer Störungen, Selbststigmatisierung, Ängste vor dem Psychotherapiesetting sowie strukturelle Barrieren (z. B. mangelnde Verfügbarkeit professioneller Hilfsangebote) als Barrieren genannt. Als Faszilitatoren wurden positive Vorerfahrungen mit Fachkräften im Gesundheitssystem sowie eine gute mentale Gesundheitskompetenz (z. B. Erkennung des Hilfebedarfs, Wissen über psychische Störung, Wissen über Coping mit Symptomen) genannt. Ein Fokus auf klinische Stichproben ermöglicht eine höhere ökologische Validität im Vergleich zu gesunden Stichproben mit antizipierten Barrieren im Falle einer hypothetischen psychischen Störung, da Letztere das Ausmaß von Barrieren oft unterschätzen (Pfeiffer 2023). Eine Gruppe, die bisher nicht zu Erfahrungen mit Barrieren und Faszilitatoren hinsichtlich der Psychotherapieaufnahme im Jugend- und im jungen Erwachsenenalter befragt wurde, sind Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen (KJP). Diese können durch ihre Arbeit mit der Zielgruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine weitere wichtige Informationsquelle darstellen, auch mit der Fragestellung nach Unterschieden in der Fremd- und Eigenwahrnehmung. In einem Review (Aguirre Velasco et al. 2020) zu evaluierten Interventionen im Jugendalter zum Abbau von Barrieren von Hilfesuchverhalten für psychische Störungen basieren die meisten Intervention auf Psychoedukation mit dem Schwerpunkt auf allgemeiner psychischer Gesundheit, Depression, Suizidalität, Selbstverletzung und Stigma. Die Autor*innen betonen die Heterogenität der Definition von Hilfesuchverhalten und die geringe bis mittlere Studienqualität und schlussfolgern die Notwendigkeit einer Verbesserung der Studienlage zur weiteren Evaluation und Konzeption von Interventionen zur Steigerung des Hilfesuchverhaltens im Jugendalter.

Ziel dieser Studie ist daher, die explorative Erfassung von wahrgenommenen Barrieren und Faszilitatoren zur Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie für das Jugendalter aus der Sicht ambulant arbeitender KJP. Eine Fragestellung ist hierbei, inwiefern sich die wahrgenommenen Barrieren und Faszilitatoren aus der Sichtweise von KJP und Patient*innen in ambulanter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie unterscheiden. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass die berichteten Barrieren und Faszilitatoren bei Patient*innen im Einklang bisheriger Befunde stehen.

Methode

Rekrutierung und Einschlusskriterien

Die Studie wurde von der lokalen Ethikkommission genehmigt und ist präregistriert (https://aspredicted.org/5mk9m.pdf). Die Teilnehmenden wurden vorab über die Ziele der Studie informiert und gaben ihr aktives Einverständnis.

Von Februar bis Mai 2022 fand die Online-Erhebung mittels SoSci Survey statt. Die Rekrutierung ambulant niedergelassener Psychotherapeut*innen erfolgte über E‑Mail, soziale Medien und eine Psychotherapieambulanz für Kinder- und Jugendliche. Patient*innen wurden von ihren KJP über die Studie informiert oder über den Umfrageverteiler der Universität rekrutiert. Unter allen teilnehmenden Patient*innen wurden 4 Amazon-Gutscheine im Wert von je 15 € verlost. Einschlusskriterien für Patient*innen waren, dass sie sich aktuell in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung befinden und ein Alter zwischen 15 und 21 Jahren, da mit 15 Jahren eine Studienteilnahme ohne Einverständniserklärung der Eltern möglich ist und das 21. Lebensjahr die Grenze für eine Behandlung bei KJP darstellt. Weiterhin wurden KJP (approbiert oder in Ausbildung) sowie Psychologische Psychotherapeut*innen mit Fachkunde Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie eingeschlossen, die Patient*innen zwischen 15 und 21 Jahren im ambulanten Psychotherapiesetting behandeln. Es wurde ein exploratives deskriptives Mixed-Methods-Design verwendet mit der Erhebung von quantitativen Daten (Barrieren) und qualitativen Daten (Faszilitatoren). Eine Stichprobenumfangsplanung mithilfe G*Power 3.1 (Faul et al. 2007) ergab, dass bei einem α‑Niveau von 0,05 mit einer Power von 0,80 um einen mittleren Effekt aufzudecken, jeweils 64 Patient*innen und Therapeut*innen benötigt werden.

Stichprobe

Patient*innen

Einundsechzig Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 21 Jahren (M = 18,4, SD = ±1,6) nahmen an der Studie teil, davon waren 77 % weiblich, 15 % männlich, 7 % divers und 2 % wählten „keine Angabe“. 48 % der Patient*innen besuchten die Schule, 5 % befanden sich in einer Berufsausbildung, 41 % studierten und jeweils 3 % waren arbeitssuchend oder berufstätig. Der Median bereits in Anspruch genommener Therapiestunden war 30. Mit 40 % war eine depressive Störungs die am häufigsten in der Selbstauskunft genannte Diagnose, gefolgt von Angststörungen mit 27 %. Die Patient*innen wiesen eine hohe Komorbidität auf. 59 % berichteten zwei oder mehr Diagnosen. Die psychischen Probleme traten durchschnittlich vor 5 Jahren das erste Mal auf.

KJP

An der Studie nahmen 80 KJP teil, von denen sich 81 % als weiblich, 18 % als männlich und 1 % als divers identifizierten. Das Alter lag zwischen 28 und 69 Jahren (M = 42,3, SD = ±8,8) und die Berufserfahrung zwischen 2 und 27 Jahren (M = 10,6, SD = ±5,7). 83 % hatten eine Approbation und 18 % befanden sich in Ausbildung. 89 % hatten eine Approbation in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und 83 % hatten eine Approbation in Verhaltenstherapie.

Instrumente

Barrieren zur Aufnahme einer Psychotherapie.

Die Barrieren der Patient*innen hinsichtlich Aufnahme einer Psychotherapie wurden mittels der „Barrieren zur Aufnahme einer Psychotherapie-Skala“ (BAPS; Pfeiffer 2023), bestehend aus 24 Items (Tab. 1), erhoben. Auf einer 6‑stufigen Antwortskala (von 1: gar nicht zutreffend bis 6: sehr zutreffend) wird retrospektiv erfasst, in welcher Ausprägung die möglichen Barrieren bezüglich Psychotherapie zugetroffen haben. Höhere Werte stehen dabei für eine stärkere Ausprägung. Die Items lassen sich in folgende Skalen unterteilen: 1) Angst vor öffentlicher Stigmatisierung (6 Items), 2) Angst vor psychotherapeutischem Setting (7 Items), 3) Problemleugnung (5 Items), 4) Hilfesuchstigma (6 Items). Die internen Konsistenzen der Subskalen mit Cronbachs α = 0,81–0,88, die Split-Half-Reliabilität sowie die Test-Retest-Reliabilität sind gut. Konvergente und divergente Validität konnten bestätigt werden. In der vorliegenden Stichprobe zeigte sich für die Skalen mit Cronbachs α (α = 0,71–0,87) akzeptable bis gute Werte.

Tab. 1 Mittelwerte und Standardabweichungen aller Items der Barrieren zur Aufnahme einer Psychotherapie-Skala (BAPS), getrennt für Patient*innen (n = 61) und KJP (n = 80)

Für die KJP wurde der Fragebogen entsprechend der Formulierung angepasst, sodass sie die Items in Bezug auf ihre Patient*innen bewerteten. Die Berechnung der internen Konsistenzen der Skalen ergab ebenfalls akzeptable bis gute Werte (α = 0,74–0,81).

Faszilitatoren zur Psychotherapieaufnahme.

Die Abfrage von Faszilitatoren zur Aufnahme einer Psychotherapie erfolgte mittels eines Items mit offenem Antwortformat („Was hätte Dir/Was hätte Ihren Patient*innen geholfen, früher eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen?“).

Datenauswertung

Die quantitative Datenauswertung erfolgte mit IBM SPSS Statistics for Windows, Version 27.0. Armonk, NY, USA: IBM Corp. Aufgrund eines Forced-Choice-Formates lagen keine fehlenden Daten vor, mit Ausnahme der Fragen mit offenem Antwortformat. Zur Analyse von Mittelwertsunterschieden zwischen den von Patient*innen und KJP berichteten Barrieren wurden zweiseitige t-Tests für unabhängige Stichproben durchgeführt, z. T. mit Welch-Korrektur aufgrund von Varianzheterogenität. Bei signifikanten Unterschieden zwischen Patient*innen und KJP wurde als Maß für die Effektstärke Cohens d (Cohen 1992) berechnet (kleiner Effekt ab |d| = 0,20, mittlerer Effekt ab |d| = 0,50, großer Effekt ab |d| = 0,80).

Zur Auswertung berichteter Faszilitatoren wurden die offenen Antworten der Teilnehmenden nach qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) mittels induktiver Kategorienbildung ausgewertet. Die qualitative Inhaltsanalyse ist gekennzeichnet durch ein systematisches Vorgehen, bei welchem protokollierte Äußerungen regel- sowie theoriegeleitet analysiert werden (Mayring 2015). Zur Entwicklung eines Kategoriensystems, der systematischen Zuordnung der Inhalte zu den Kategorien sowie der Bestimmung der Häufigkeiten der Kategorien und der Interrater-Reliabilität wurde die Software MAXQDA (Version 22.0.1; VERBI Software 2021) eingesetzt. Zur Bestimmung der Interrater-Reliabilität wurde der korrigierte Kappa-Wert (κn) von Brennan und Prediger (1981) errechnet. Die Klassifizierung der Kappa-Werte, bezogen auf den Grad der Übereinstimmung, erfolgte gemäß der Einteilung nach Landis und Koch (1977): moderat ab κ = 0,41, substanziell ab κ = 0,61, fast perfekt ab κ = 0,81.

Ergebnisse

Barrieren und explorative Analyse des Gruppenvergleichs

Die deskriptiven Werte der BAPS sind Tab. 1 zu entnehmen. Die höchste Zustimmung bei Patient*innen wurde für die Skala Problemleugnung (M = 4,3, SD = ±1,1) und Hilfesuchstigma (M = 4,2, SD = ±1,1) berichtet. Die höchste Zustimmung bei KJP wurde für ebenfalls die Skala Problemleugnung (M = 3,8, SD = ±0,9) und Hilfesuchstigma (M = 4,1, SD = ±0,8) berichtet.

In Tab. 2 sind die Ergebnisse des Gruppenvergleichs bezüglich der Skalen der BAPS (Pfeiffer 2023) abgebildet.

Tab. 2 Ergebnisse des Gruppenvergleichs auf Skalenebene der BAPS für Patient*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen (KJP)

Faszilitatoren zur Inanspruchnahme einer Psychotherapie

Das offene Antwortformat wurde von 96 % der Psychotherapeut*innen genutzt, um Faktoren anzuführen, die ihren Patient*innen die Aufnahme einer frühzeitigen psychotherapeutischen Behandlung aus ihrer Sicht erleichtert hätten. Die 134 (Teil‑)Aussagen ließen sich 9 übergeordneten Kategorien zuordnen (Tab. 3). Die Berechnung der Interrater-Reliabilität für das Kategoriensystem ergab eine fast perfekte Übereinstimmung (κn = 0,88). Mehr Wissen/Aufklärung über Psychotherapie und psychische Störungen war die am häufigsten angeführte Kategorie.

Tab. 3 Faszilitatoren zur Inanspruchnahme von Psychotherapie aus Sicht der Kinder - und Jugendlichenpsychotherapeut*innen (KJP)

Aus den 79 (Teil‑)Aussagen der Patient*innen auf die offene Frage, was ihnen geholfen hätte, früher eine Psychotherapie zu beginnen, konnten 8 Kategorien extrahiert werden (Tab. 4). Die Interrater-Reliabilität war fast perfekt, mit κn = 0,91. Die häufigste Nennung war die Unterstützung durch Andere.

Tab. 4 Faszilitatoren zur Inanspruchnahme von Psychotherapie aus Sicht der Patient*innen

Diskussion

Die vorliegende Studie hat zum Ziel, durch den Einbezug von KJP Barrieren und Faszilitatoren zur Psychotherapieaufnahme im Jugend- und im jungen Erwachsenenalter auf Ergänzungen im Vergleich zu Patient*innen in ambulanter Psychotherapie zu explorieren. Insgesamt zeigte sich, dass sowohl aus Perspektive der Patient*innen als auch der KJP Angst vor öffentlicher Stigmatisierung und dem psychotherapeutischen Setting, Problemleugnung und Hilfesuchstigma als relevante Barrieren benannt wurden. Die Befunde bei den Jugendlichen stehen im Einklang mit den Daten aus dem Validierungssample des Messinstrumentes (Pfeiffer 2023), das vor dem Hintergrund einer Literaturrecherche entwickelt wurde, und somit auch mit bisherigen Befunden, die v. a. Stigmatisierung und negative Überzeugungen in Bezug auf professionelle Hilfsangebote, Angst vor Stigmatisierung und Angst vor dem psychotherapeutischen Setting als Hauptbarrieren hervorheben (Aguirre Velasco et al. 2020; Radez et al. 2021). Die Problemleugnung und das Hilfesuchstigma sind hierbei spezifische Barrieren, die ebenso im Einklang mit bisherigen Befunden stehen. Das Konstrukt der Problemleugnung besitzt hierbei eine inhaltliche Überschneidung mit dem Konstrukt der Selbstständigkeit/Autarkie (z. B. der Überzeugung, ohne Hilfe mit dem Problem zurechtzukommen), welche auch als häufige Barriere identifiziert wird (Radez et al. 2021). Letzteres kann als Ressource betrachtet werden, wenn ausreichend Coping-Mechanismen in Relation zur Symptomatik vorhanden sind oder auch als Leugnung des Ausmaßes der Problematik und des Hilfebedarfs und einer möglichen Überschätzung eigener Coping-Mechanismen. Weiterhin zeigten sich erhöhte Werte auf der Skala Hilfesuchstigma, was auch übereinstimmend mit Befunden in Erwachsenenstichproben als eigenes Konstrukt identifiziert werden konnte (Vogel et al. 2006).

Der Vergleich der Patient*innen- und KJP-Perspektive zeigte keine Unterschiede zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Barrieren zur Aufnahme einer Psychotherapie mit Ausnahme der Skala Problemleugnung mit signifikant geringeren Werten seitens der KJP. In Bezug auf die Einschätzung der Relevanz der Angst vor öffentlichem Stigma, der Angst vor dem Psychotherapiesetting und dem Hilfesuchstigma zeigt sich hier ein übereinstimmendes Maß der Einschätzung, mit welchen Barrieren Patient*innen konfrontiert sind. In Bezug auf die Problemleugnung könnte ein möglicher Grund sein, dass Problemleugnung möglicherweise weniger häufig von Patient*innen berichtet wird, im Vergleich zu anderen Barrieren oder möglicherweise weniger von Psychotherapeut*innen exploriert wird.

Als Faszilitatoren zur Psychotherapieaufnahme wurden mehr Wissen/Aufklärung über Psychotherapie und psychische Störungen, Unterstützung durch Andere, mehr gesellschaftliche Akzeptanz von psychischen Störungen und Psychotherapie, weniger strukturelle Barrieren, Niederschwelligkeit zur Aufnahme einer Psychotherapie und mehr Kontakt zu anderen Betroffenen mit psychischen Problemen übereinstimmend von Patient*innen und KJP benannt. Insbesondere beim Bedarf nach Psychoedukation und der Stigmareduktion existiert bereits ein Angebot an Interventionen (Aguirre Velasco et al. 2020). Unklar ist hierbei die Dissemination, inwiefern Jugendliche Zugriff auf evidenzbasierte Interventionen haben, sowie auch die Evaluation von Nebenwirkungen von Interventionen.

In den Rückmeldungen der KJP wurden weiterhin die niederschwellige Bereitstellung von Informationen zu psychischen Störungen und Psychotherapie im Rahmen des Schulsettings oder in sozialen Medien genannt. Das Schulsetting bietet hierbei den Vorteil, dass sowohl Jugendliche als auch Gatekeeper niederschwellig erreicht werden können. In sozialen Medien gibt es zahlreiche Informationen zu mentaler Gesundheitskompetenz, bei denen die Qualität (z. B. korrekte und evidenzbasierte Informationen) und die Auswirkungen nicht immer gesichert sind. Weiterhin ist eine hohe Medienkompetenz erforderlich, insbesondere da es Hinweise gibt, dass junge Menschen mit psychischen Störungen ein höheres Risiko einer problematischen Nutzung haben, als nichtklinische Peers (Kostyrka-Allchorne et al. 2023). Dazu ist die Befundlage zur Entgegenwirkung von Barrieren zum Hilfesuchverhalten heterogen, mit Möglichkeiten einer Entstigmatisierung, aber auch einer Trivialisierung und potenziellen Stigmatisierung von Symptomen einer psychischen Störung (Pavlova und Berkers 2022).

Andere genannte Barrieren zeigen die Komplexität von Interventionen und die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit, die z. B. auf politischer Ebene zur Reduktion von strukturellen Barrieren und auf gesellschaftlicher Ebene (z. B. zur Reduktion von öffentlichem Stigma und Diskriminierung von Menschen mit psychischen Störungen, aber auch die Förderung von sozialer Integration im Sinne einer sozialen Unterstützung von hilfesuchendem Verhalten). Weiterhin werden auch personenzentrierte Aspekte aufgeführt: Patient*innen berichten zusätzlich zu den KJP, dass ein frühzeitiges Eingeständnis ihres Hilfebedarfs und mehr Selbstbewusstsein hilfreich gewesen wären, eine Psychotherapie aufzunehmen. KJP führten die Notwendigkeit von psychologisch geschulten Gatekeepern, z. B. Ärzt*innen und Lehrkräften und positive Vorerfahrungen Hilfesuchender in Erstgesprächen als ergänzende Faszilitatoren an. Gatekeeper können hierbei sowohl eine aktive Rolle im Hilfesuchprozess einnehmen als auch einen mediierten Einfluss auf das Hilfesuchverhalten nehmen (z. B. über die Stärkung von Selbstbewusstsein oder den Ausdruck von Gefühlen und Validierung von Hilfebedarf). Hierbei spielen gerade im Jugendalter auch die Eltern eine sehr wichtige Rolle (Reardon et al. 2017).

Insgesamt bekräftigen die Ergebnisse die Notwendigkeit zum Ausbau und zur (weiteren) Dissemination und Evaluation von Interventionen zur Reduktion von Barrieren zur Aufnahme einer Psychotherapie.

Limitationen und Ausblick

Im Hinblick auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse sei kritisch auf die geringe Anzahl an männlichen Teilnehmern auf Patientenseite und den großen Anteil an Patient*innen mit hohem Bildungshintergrund verwiesen. In künftigen Untersuchungen sollte eine höhere Diversität angestrebt werden. In zukünftigen Studien könnten KJP- und Patient*innen-Dyaden untersucht werden, um fallspezifische Einschätzungen bezüglich der Barrieren zu erhalten und die Entwicklung von Barrieren im Verlauf der Psychotherapie zu erfassen. Aufgrund der retrospektiven Perspektive ist hierbei unklar, inwiefern Barrieren auch mit Beginn einer Psychotherapie weiter vorhanden sind und eine wichtige Rolle für den Psychotherapieprozess spielen. Hierbei spielt auch die Auftrags- und Motivationsklärung eine wesentliche Rolle, für den Fall, dass Jugendliche eine hohe Ausprägung an Verharmlosung von Symptomen zeigen und diese möglicherweise nicht als behandlungsrelevant einstufen, sie aber im Auftrag von Eltern, Freunden oder der Schule zur Psychotherapie kommen. Insbesondere bei Jugendlichen mit starken Symptomen scheint die Motivation zu Beginn der Psychotherapie deutlich geringer ausgeprägt zu sein, im Vergleich zu Jugendlichen mit weniger Symptomen (Merrill et al., 2015), möglicherweise auch vor dem Hintergrund geringerer Ressourcen. Erste Befunde zeigen keine Unterschiede zwischen Barrieren von Jugendlichen über dem „cut off“ von psychischen Störungen, die bereits ein Erstgespräch hatten und Barrieren retrospektiv beurteilen, und welchen, die noch keine Hilfe in Anspruch genommen haben (Pfeiffer 2023). Insgesamt kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass durch die Psychotherapie Barrieren rückblickend anders bewertet und reflektiert werden.

Um mögliche Verzerrungen im Antwortverhalten bei der retrospektiven Befragung zu reduzieren, wäre die Berücksichtigung von jungen Menschen mit psychischen Störungen und Hilfebedarf, die noch keine Psychotherapie begonnen haben relevant, welche man am ehesten im Längsschnitt über Verlaufsdaten evaluieren könnte.

Fazit für die Praxis

  • Problemleugnung spielte bei Patient*innen eine stärkere Rolle, als von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen (KJP) angenommen, und sollte explizit bei Psychotherapieaufnahme exploriert werden.

  • Aus Sicht der KJP spielt die Integration von Gatekeepern (z. B. Kinderärzt*innen und Lehrkräften) eine wichtige Rolle zum Abbau von Barrieren für das Hilfesuchverhalten bei vorliegenden psychischen Störungen.

  • Jugendliche berichten von der Notwendigkeit an Interventionen zur Stärkung der Wahrnehmung und Akzeptanz von Hilfebedarf bei psychischen Störungen und des Selbstbewusstseins.

  • Mehr Wissen und Aufklärung über Psychotherapie und psychische Störungen, weniger strukturelle Barrieren, mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung im Hilfesuchprozess werden von Patient*innen und KJP als notwendig erachtet.

  • Die Weiterentwicklung von Interventionen zur Senkung von Barrieren zur Aufnahme einer Psychotherapie erfordern einen multi- und interdisziplinären Ansatz.

  • (Weitere) Studien zur Dissemination von Interventionen sowie Faszilitatoren zur Implementierung von evidenzbasierten Interventionen sowie auch Nebenwirkungen werden benötigt.