Angaben zu Medikation sowie Vor- und Mitbehandlungen im Bericht an an die Gutachterin oder den Gutachter im Rahmen von Kostenübernahmeanträgen für Psychotherapien sind wichtig, da diese zum Beispiel auf die Schwere und die Prognose der psychischen Erkrankung hinweisen. Für Therapeut:innen ist ihre Kenntnis außerdem relevant, weil die Versorgung psychisch Kranker als gemeinschaftliche Aufgabe verschiedener Berufsgruppen in der Behandlungsplanung bedacht werden sollte und Medikamentenanwendungen die therapeutische Beziehung verändern können. Doch wie häufig werden diese in der Konzeption von Psychotherapien überhaupt benannt und berücksichtigt?

Hintergrund und Fragestellungen

In Anträgen auf Kostenübernahme einer Psychotherapie sollte laut „Leitfaden zum Erstellen des Berichts an die Gutachterin oder den Gutachter“ der Psychotherapie-Vereinbarung (PTV) auch die aktuelle psychopharmakologische Medikation Erwähnung finden. Für diese Maßgabe gibt es gute Gründe: Bei bestimmten psychischen Erkrankungen besteht nach den aktuellen Therapieleitlinien und der darin aufgehenden Evidenz, unter Berücksichtigung der Vorbehandlungen der Patient:innen, ihrer Präferenzen und weiterer Rahmenbedingungen, eine Indikation für eine Kombinationsbehandlung von Psychotherapie und spezifischer Psychopharmakotherapie als Soll-Empfehlung (z. B. bei schweren Depressionen; Bundesärztekammer et al. 2022) oder als Kann-Empfehlung (z. B. bei posttraumatischen Belastungsstörungen; Schäfer et al. 2019). Da eine Gesamtverantwortung aller Behandler:innen für eine den Leitlinien möglichst entsprechende Behandlung anzunehmen ist, sollten die Anträge Kenntnis über die weiteren angewendeten Therapiemaßnahmen aufweisen.

Zudem wird in der ambulanten Versorgung von Patient:innen mit insbesondere schweren psychischen Erkrankungen der Netzwerkgedanke zwischen verschiedenen Berufsgruppen zunehmend wichtiger, was z. B. in der Ende 2021 in Kraft getretenen „Richtlinie über die berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf“ (KSVPSych-RL, https://www.g-ba.de/richtlinien/126/) und entsprechenden S3-Leitlinien (Becker et al. 2018; Benecke et al. 2023) Ausdruck findet. In diesen Netzwerken ambulanter Komplexversorgung können auch Psychologische Psychotherapeut:innen als Bezugstherapeut:in die Koordination übernehmen (G-BA 2021).

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Kenntnis der aktuellen psychopharmakologischen Therapien ihrer Patient:innen durch Psychotherapeut:innen besteht darin, dass das Krankheitsmodell der Patient:innen sowie u. a. Selbst- und Substanzwirksamkeitserwartungen Einfluss auf therapeutische Beziehung und Therapiezufriedenheit haben dürften (Bhui und Bhugra 2004, 2002; Callan und Littlewood 1998; Küchenhoff 2010).

Von vielen Praktiker:innen wird außerdem nachvollziehbar argumentiert, dass die Einnahme bestimmter Psychopharmaka, wie z. B. von Benzodiazepinen, das Neulernen und Neubewerten und damit den psychotherapeutischen Prozess beeinträchtigen kann (Campos et al. 2022; Curran 1986; Guina et al. 2015).

Aufgrund all dieser Aspekte ist die Kenntnis der aktuellen psychopharmakologischen Medikation zentral, um abschätzen zu können, wann und wie eine Psychotherapie überhaupt sinnvoll ist.

Die vorliegende Studie untersuchte daher, wie häufig psychopharmakologische und psychiatrische Behandlungen in der Konzeption von Psychotherapien benannt und berücksichtigt werden. Dabei interessierte auch, ob es diesbezüglich Unterschiede zwischen Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeut:innen gibt, und ob die Medikation häufiger bei jenen Patient:innen beschrieben wird, für die entsprechend den Leitlinien eine Kombinationstherapie angedacht ist.

Die Fragestellungen und Hypothesen waren im Einzelnen:

  1. 1.

    Wie häufig wird in den Berichten an die Gutachterin oder den Gutachter erwähnt, ob die Patient:innen gegenwärtig Psychopharmaka einnehmen oder nicht?

    • Hypothese 1: Es wird relativ häufig nicht erwähnt.

    • Hypothese 2: Ärztliche Psychotherapeut:innen erwähnen dies häufiger als Psychologische Psychotherapeut:innen.

    • Hypothese 3: Dies wird häufiger bei Diagnosen erwähnt, bei denen gemäß Leitlinien eine Kombinationstherapie (medikamentöse Therapie und Psychotherapie) indiziert ist.

  2. 2.

    Wie häufig sind Diagnose und genannte Medikation konsistent?

  3. 3.

    Wie häufig wird in den Berichten an den Gutachter erwähnt, ob, und wenn, ja welche psychiatrischen bzw. psychosomatischen Vor- und Mitbehandlungen stattgefunden haben bzw. stattfinden?

    • Hypothese 4: Diese Behandlungen werden häufiger von Ärztlichen als von Psychologischen Psychotherapeut:innen erwähnt.

  4. 4.

    Wie häufig kommt es vor, dass Patient:innen Psychopharmaka bekommen, ohne dass sie eine psychiatrische oder ärztlich-psychotherapeutische Vor- bzw. Mitbehandlung erhalten?

Methoden

Aus einem großen Pool von Anträgen an verschiedene Krankenkassen zur Kostenübernahme einer tiefenpsychologisch fundierten (TP) oder analytischen Psychotherapie (AP) erwachsener Patient:innen wurden per Zufall 1000 Exemplare ausgewählt und alle personenidentifizierenden Angaben geschwärzt. Anschließend wurden folgende Informationen aus den Formularen (PTV-Bogen) bzw. dem Bericht an die Gutachterin oder den Gutachter extrahiert:

  • welchen Beruf und welche Abrechnungsgenehmigungen der Therapeut bzw. die Therapeutin hat,

  • ob im Bericht erwähnt wurde, ob der Patient bzw. die Patientin gegenwärtig Medikamente einnimmt und wenn ja, welche (Antidepressiva, Anxiolytika/Hypnotika, Antipsychotika, andere Psychopharmaka, Analgetika),

  • ob er bzw. sie in psychiatrischer oder psychosomatischer Behandlung war oder ist (stationär oder ambulant) und

  • welche Diagnose entsprechend der 10. Version der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) verschlüsselt wurde. Wenn keine ICD-10-Ziffer kodiert, die Diagnose aber in Worten eindeutig beschrieben war, wurde sie von Studienmitarbeiter:innen verschlüsselt. Im Fall von uneindeutigen Diagnosen (z. B. „Depression“) wurde kein Code vergeben.

Bei den folgenden ICD-10-Codes wurde definiert, dass laut Leitlinien eine Kombinationstherapie möglicherweise indiziert ist, d. h., dass Medikamente zusätzlich zur Psychotherapie gegeben werden sollen: F2, F30, F31, F32.2, F33.2, F32.3, F33.3 (Bundesärztekammer et al. 2022; Bauer und Pfennig 2019; Gaebel et al. 2019). Bei den folgenden Diagnosen sollten laut Leitlinien keine Psychopharmaka verordnet werden: F40.2, F44, F60, F61, F62.0 (Alpers et al. 2021; Lieb 2022). Alle anderen Diagnosen wurden als den „Kann“-Empfehlungen zugehörig kodiert. Patient:innen mit einer F43.1-Diagnose soll weder Antipsychotika noch Stimmungsstabilisierer verordnet, aber Antidepressiva können verabreicht werden (Schäfer et al. 2019); diese Diagnose wurde ebenfalls den „Kann“-Empfehlungen zugeordnet. Bei multimorbiden Patient:innen mit einer Kombination von Diagnosen, denen laut Leitlinien einerseits Medikamente gegeben, andererseits aber auch nicht gegeben werden sollen (beispielsweise eine Komorbidität von F32.2. mit F61), wurde unter der Annahme, dass es sich nicht um eigentliche Kontraindikationen handelt, ein „Soll“ kodiert.

In die Analyse wurden Erst- und Umwandlungsanträge eingeschlossen, Fortführungsanträge wurden hingegen ausgeschlossen, da bei diesen alles das, was sich seit dem ersten Antrag nicht verändert hat, nicht erwähnt werden muss; das kann auch psychiatrische Mitversorgung und Pharmakotherapie, v. a. aber vorherige Krankenhausaufenthalte betreffen.

Die Datenanalyse beinhaltete χ2-Tests für Gruppenvergleiche sowie multivariate logistische Regressionen. Sie erfolgte mithilfe des Statistikprogramms STATA (Version 16, StataCorp, College Station, Texas).

Die Studie wurde anteilig durch die International Psychoanalytical Association (IPA) finanziert (# 4954). Die zuständige Ethikkommission der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz erteilte ihr zustimmendes Votum zu Beginn der Studie (# 2018-13221). Eine ausführliche Darstellung des Designs und der Datenextraktion kann andernorts nachgelesen werden (Singer et al. 30,31,a, b).

Ergebnisse

Stichprobe

Bei insgesamt 369 Anträgen handelte es sich um Fortführungsanträge, 2 weitere Anträge wurden ausgeschlossen, weil sie keinen Bericht enthielten, sodass 629 Anträge die Grundlage für die vorliegenden Auswertungen bilden.

Die Anträge stammten aus den Jahren 2003–2018. Insgesamt 143 (23 %) waren Anträge auf Kostenübernahme einer AP und 486 (77 %) auf Kostenübernahme einer TP. Die Anträge wurden zu 79 % von Frauen gestellt (Tab. 1). Bei 41 Patient:innen war eine Diagnose, bei der laut Leitlinien eine Medikation gegeben werden soll, verschlüsselt, 69 Patient:innen sollte keine Psychopharmaka verordnet werden, und 12 Patient:innen hatten eine Kombination von Diagnosen, für die die Leitlinien sowohl eine Medikation vorsehen als auch nicht. Zweimal war keine Diagnose angegeben; die restlichen 505 Patient:innen hatten Diagnosen, bei denen Medikamente gegeben werden können. Pro Patient:in waren 0 bis 5 Diagnosen verschlüsselt, im Durchschnitt 1,6 Diagnosen.

Tab. 1 Merkmale der Stichprobe (n = 629)

Die Therapeut:innen waren etwa zur Hälfte (57 %) Psycholog:innen, 42 % waren Ärzt:innen, und 1 % hatten beide Abschlüsse absolviert. Im Folgenden werden diejenigen mit beiden Abschlüssen ebenfalls in der Kategorie „Ärzt:innen“ geführt. Am häufigsten (70 %) hatten die Therapeut:innen eine alleinige Ausbildung in TP, gefolgt von AP in Kombination mit TP (18 %), von alleiniger AP (9 %) und je 2 % in TP plus Verhaltenstherapie sowie in allen 3 Verfahren. Die psychotherapeutischen Verfahren waren bei Ärzt:innen und Nichtärzt:innen in etwa gleich verteilt, wobei die Ärzt:innen etwas häufiger zusätzlich eine Abrechnungsgenehmigung für Verhaltenstherapie hatten.

Wie häufig wird in den Berichten erwähnt, ob die Patient:innen gegenwärtig Psychopharmaka einnehmen oder nicht?

In 246 (39 %) der 629 Berichte wurde thematisiert, ob der Patient bzw. die Patientin gegenwärtig Psychopharmaka einnimmt (121-mal ja, 125-mal nein), d. h., in den übrigen 61 % wurde dies nicht erwähnt (Tab. 2). Einen deutlichen Unterschied gab es zwischen ärztlichen und psychologischen Kolleg:innen. Während 66 % der Psycholog:innen die Medikation nicht erwähnten, war dies nur bei 54 % der Ärzt:innen der Fall (p = 0,002). Die beiden ersten Hypothesen haben sich somit bestätigt.

Tab. 2 Erwähnung von psychiatrischer und psychopharmakologischer Mitbehandlung in Psychotherapieberichten

Es gab keine Hinweise darauf, dass sich die Erwähnungshäufigkeit entsprechend den verschiedenen Abrechnungsgenehmigungen (d. h. dem erlernten Psychotherapieverfahren TP oder AP oder Kombinationen davon) der Therapeut:innen unterscheidet (p = 0,86).

Bei Patient:innen mit einer Diagnose, bei der laut Leitlinien eine Kombinationstherapie wahrscheinlich indiziert ist („Soll“-Kategorie), wurde in 57 % der Berichte eine Medikation erwähnt. Hier gab es keinen relevanten Unterschied zwischen Ärzt:innen und Psycholog:innen (57 % bzw. 56 % erwähnten dies). Im Fall der Diagnosen, bei denen keine Medikation verabreicht werden soll („soll nicht“), wurde dieses Thema in 45 % der Berichte angesprochen. Bei 37 % der übrigen Patient:innen, denen Medikamente gegeben werden können, wurde dies thematisiert (p = 0,02, Abb. 1). Das bedeutet, dass auch die dritte Hypothese mit den erhobenen Daten übereinstimmt.

Abb. 1
figure 1

Häufigkeit der Erwähnung von psychopharmakologischer Medikation im Bericht an den Gutachter, getrennt nach Diagnosen, bei denen laut Leitlinien (LL) eine entsprechende Medikation gegeben werden „soll“, „kann“ oder „nicht gegeben werden soll“. Dargestellt sind die absoluten Häufigkeiten (Zahlenangaben) sowie die Anteile in Prozent (Farbverteilung)

Die multivariate logistische Regression zeigte, dass es einen unabhängigen Effekt sowohl der Berufsgruppe als auch der Indikation („soll“, „soll nicht“ und „kann“) auf die Erwähnungswahrscheinlichkeit von Medikation gibt (Tab. 3).

Tab. 3 Wahrscheinlichkeit der Erwähnung einer Medikation in Berichten an den Gutachter durch Ärzt:innen vs. Psycholog:innen und bei verschiedener Empfehlung für eine Medikation (entsprechend den Leitlinien)

Wie häufig sind Diagnosen und die genannte Medikation konsistent?

In 94 Berichten wurde beschrieben, dass der Patient bzw. die Patientin Antidepressiva erhält. Das entspricht 38 % der Berichte, in denen eine Medikation erwähnt wurde (n = 246). In 9 Berichten (4 %) gab es Angaben darüber, dass gegenwärtig Antipsychotika eingenommen werden, in 13 Berichten (5 %) Angaben zu Anxiolytika und Hypnotika, in 19 Berichten (8 %) zu anderen Psychopharmaka und in 10 Berichten (4 %) zu Analgetika.

Bei den Patient:innen, denen laut Leitlinien Antidepressiva verabreicht werden sollen (n = 45), wurde in 71 % der Berichte nicht erwähnt, ob sie diese erhalten oder nicht. Bei den übrigen 29 % handelte es sich jeweils um die Angabe, dass Antidepressiva gegeben werden.

Bei 2 der 8 Patient:innen mit F2-Diagnosen gab es Angaben zur Einnahme von Antipsychotika und zwar in beiden Fällen derart, dass diese genommen werden; bei den übrigen 6 Patient:innen (75 %) wurde diese Medikation nicht erwähnt. Bei allen 7 Patient:innen, die keine F2-Diagnose hatten, aber Antipsychotika bekamen, war eine F4-Diagnose, in 4 Fällen darüber hinaus eine F3-Diagnose und 3‑mal die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung verschlüsselt worden.

Insgesamt 4 Patient:innen wiesen eine bipolare Störung auf, davon wurde bei nur einem die Einnahme eines Stimmungsstabilisierers (Lamotrigin) beschrieben. Ein Patient erhielt laut Bericht ein Antipsychotikum und ein Antidepressivum. Zu einem Patienten wurde geschrieben: „Eine fachärztliche (medikamentöse) Mitbehandlung ist erforderlich und gesichert“, ohne auf die konkrete Medikation näher einzugehen. Beim letzten Patienten wurde keinerlei Medikation erwähnt.

Von den 105 Patient:innen mit einer Persönlichkeitsstörung erhielten laut Bericht 29 (28 %) eine Medikation, meist Antidepressiva (n = 23), aber auch Anxiolytika/Hypnotika (n = 5), Analgetika (n = 1), Antipsychotika (n = 3) und andere Psychopharmaka (n = 8). Insgesamt 3 der Patient:innen, die eine Medikation erhielten, hatten außer der Persönlichkeitsstörung keine weitere Diagnose.

Wie häufig wird in den Berichten erwähnt, ob, und wenn ja, welche Vor- und Mitbehandlungen stattgefunden haben bzw. stattfinden?

In 39 % der Berichte wurde erwähnt, ob die Patient:innen gegenwärtig in ambulanter psychiatrischer Behandlung sind oder dies früher waren (Tab. 2), und zwar häufiger von Ärztlichen als von Psychologischen Psychotherapeut:innen (44 % vs. 35 %; OR 1,5; p = 0,02).

Aufenthalte in psychiatrischen bzw. psychosomatischen Kliniken wurden in 51 % bzw. 50 % der Berichte erwähnt (Tab. 2). Hier gab es keine Hinweise auf Unterschiede zwischen den Berufsgruppen: Vorausgegangene (teil‑)stationäre psychiatrische Aufenthalte wurden von 50 % der Psycholog:innen und 52 % der Ärzt:innen erwähnt (p = 0,73); Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken von 51 % der Psycholog:innen und 50 % der Ärzt:innen (p = 0,87).

Es gab ebenfalls keine Hinweise darauf, dass sich die Erwähnungshäufigkeit von Vor- und Mitbehandlungen je nach Abrechnungsgenehmigung der Therapeut:innen unterscheidet, weder für eine ambulante Mitbehandlung (p = 0,72) noch für Aufenthalte in psychiatrischen (p = 0,97) oder psychosomatischen Kliniken (p = 0,81).

Ob vor der aktuellen Therapie eine oder mehrere ambulante Psychotherapien stattgefunden hat bzw. haben, wurde in 67 % der Berichte erwähnt (Tab. 2), und zwar von 65 % der Ärztlichen und 68 % der Psychologischen Psychotherapeut:innen (p = 0,42). Mit anderen Worten: In 33 % der Berichte wurde nicht erwähnt, ob im Vorfeld bereits eine Psychotherapie stattgefunden hatte. Wenn erwähnt wurde, dass eine Therapie bei einem anderen Therapeuten bzw. einer Therapeutin erfolgt war (n = 175), fehlte in der Hälfte der Fälle (n = 95, 54 %) die Angabe des Verfahrens, bei 66 % fehlten Angaben zur Dauer der Therapie, bei 74 % zur Anzahl der Sitzungen, bei 95 % zur Sitzungsfrequenz und bei 33 % zur vergangenen Zeit seit dem Ende der letzten Therapie.

Wie häufig kommt es vor, dass Patient:innen Psychopharmaka bekommen, ohne dass sie eine psychiatrische oder ärztlich-psychotherapeutische Vor- bzw. Mitbehandlung erhalten?

Die Antwort auf diese Frage kann sich nur auf die Berichte stützen, bei denen sowohl Medikation als auch Vor- bzw. Mitbehandlungen erwähnt wurden. Dies war bezüglich der ambulanten psychiatrischen Versorgung in 178 Berichten der Fall. Von den darin beschriebenen Patient:innen nahmen 69 eine psychopharmakologische Medikation ein, und 83 % davon (n = 55) waren in ambulanter psychiatrischer Versorgung.

Medikation und stationäre psychiatrische Versorgung waren in 181 der Berichte erwähnt. Von diesen Patient:innen erhielten 65 Medikamente, und 62 % (n = 40) waren in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen gewesen.

Insgesamt 21 Patient:innen erhielten Medikamente, ohne laut Bericht in ambulanter oder (teil)stationärer psychiatrischer oder psychosomatischer Behandlung (gewesen) zu sein, und ohne dass der behandelnde Psychotherapeut ein Arzt war.

Diskussion

Die vorliegenden Analysen zeigen, dass in den Berichten an die Gutachterin oder den Gutachter, die zum Zweck der Beantragung der Kostenübernahme von Psychotherapien durch die Krankenkassen formuliert werden, psychopharmakologische Medikation bzw. psychiatrische und psychosomatische Vor- und Mitbehandlung häufig nicht erwähnt wird. Das ist insofern bemerkenswert, als der Leitfaden der PTV dies für die Berichte explizit vorsieht.

Immerhin waren in den Anträgen der Patient:innen mit Diagnosen, die laut Leitlinien mit einer „Soll“-Empfehlung für eine medikamentöse Therapie zusätzlich zur Psychotherapie einhergehen, häufiger Angaben zur Medikation enthalten. Trotzdem fehlten diese auch hier in 43 % der Berichte.

Welche Faktoren können diese Lücken erklären? Zum einen könnten die Anforderungen an die Berichte hinsichtlich des Formats und der Inhalte dazu beitragen. Die Berichte müssen sehr verdichtet geschrieben werden, und es könnte sein, dass Aspekte, die für die Beurteilung der Therapienotwendigkeit als nicht zentral angesehen werden, deshalb ausgelassen werden.

Weiterhin könnte das Selbstverständnis der Therapeut:innen in der Behandlung eine Rolle spielen, also die Frage, ob die Therapeut:innen sich als verantwortlich für die Gesamtbehandlung oder nur für die angebotene Psychotherapie ansehen. Dies würde auch andere Aspekte der Gesamtbehandlung neben der medikamentösen Therapie betreffen, z. B. bei schweren psychischen Erkrankungen die Soziotherapie, Ergotherapie oder unterstützte Wohnformen (Becker et al. 2018). Man sollte sich dabei vor Augen halten, dass die Approbation dazu verpflichtet, „die Grenzen des eigenen Wissens und Könnens zu erkennen und danach zu handeln“ (Bundesärzteordnung, § 4[2], https://www.gesetze-im-internet.de/b_o/__4.html). Insofern können sich auch Psychotherapeut:innen nicht dieser Verantwortung entziehen und müssen andere Behandlungen mit im Blick haben.

Ein weiterer möglicher Grund für die seltene Erwähnung könnte sein, dass die Medikamentenanamnese sowie die Vor- und Mitbehandlungen überhaupt gar nicht erhoben wurden. Das wäre, wenn es zuträfe, ein bedenklicher Umstand, da die Berücksichtigung dieser Aspekte auch für die aktuelle Psychotherapie aus den bereits genannten Gründen von hoher Relevanz ist.

Außerdem könnte die geringe Anzahl der Nennungen durch die grundsätzliche Haltung zum Einsatz von Psychopharmaka oder das für den Fall spezifisch angenommene und im Bericht entwickelte Krankheitsmodell eine Rolle spielen, in dem eine psychopharmakologische Therapie keine Rolle spielt. Interessanterweise gibt es relativ wenige Studien zur Einstellung von Psychiater:innen und Psychotherapeut:innen zu Psychopharmaka. Eine große Befragung verschiedener Berufsgruppen in 13 lateinamerikanischen Ländern ergab, dass Psychiater:innen häufiger als Psycholog:innen bei verschiedenen Krankheitsbildern eine ausschließlich pharmakologische Behandlung bevorzugen, Letztere häufiger eine ausschließlich psychotherapeutische Behandlung; eine Kombinationstherapie wurde von beiden Berufsgruppen ungefähr gleich häufig gutgeheißen, jedoch unterschiedlich je nach Erkrankung (Heinze und Cortes 2005). Für Europa konnte keine entsprechende Studie gefunden werden. Es ist denkbar, dass die in der Allgemeinbevölkerung vorhandene Skepsis gegenüber psychotroper Medikation (Althaus et al. 2002; Angermeyer et al. 1993, 2017; Benkert et al. 1997; Holzinger et al. 2011; Reavley et al. 2013; Zissi 2006) auch bei Psychotherapeut:innen zu finden ist. Kritisch gesehen werden v. a. die Nebenwirkungen der Medikamente, aber es werden auch Zweifel an deren Nutzen geäußert, in dem Sinne, dass die Ursache der Erkrankung nicht behandelt werden könne (Benkert et al. 1997; Lim et al. 2016), was ja häufig auch der Fall ist.

Auch Unsicherheit bezüglich psychotroper Medikamente aufgrund von eher wenig und oft nur theoretisch in der Ausbildung vermitteltem Wissen dazu sowie die daraus resultierende Vermeidung von Verunsicherndem könnten eine Rolle spielen (BMG 2016). Sowohl bezüglich der Krankheitsmodelle und Wirkannahmen seitens der Therapeut:innen als auch bezüglich ihres Wissens über Medikamente wäre zu erwarten, dass Ärzt:innen häufiger als Psycholog:innen Angaben zur Medikation machen, da sie mit den Medikamenten durch die Ausbildung vertrauter sind und diese selbst verordnen dürfen. Tatsächlich bestätigte sich in der Studie, dass Ärztliche häufiger als Psychologische Psychotherapeut:innen die Medikation in ihren Berichten erwähnten. Eine alternative Erklärung für diesen Befund wäre, dass bei Ärztlichen Psychotherapeut:innen häufiger Patient:innen in Behandlung sind, die laut Leitlinien eine Kombinationstherapie bekommen sollen, dass also der Unterschied zwischen den Berufsgruppen nur ein scheinbarer wäre. Die multivariaten Regressionsanalysen zeigten jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Das bedeutet, dass die häufigere Erwähnung von Medikation bei Ärzt:innen vermutlich nicht darauf zurückgeführt werden kann, dass diese mehr Patient:innen behandeln, bei denen eine Kombinationstherapie indiziert ist.

Dass unterschiedliche Krankheitsmodelle, Wirkannahmen und Unsicherheiten eine Rolle spielen könnten, wird durch den Befund gestützt, dass es bezüglich der Erwähnung von psychotherapeutischen Vorbehandlungen keine Hinweise auf Unterschiede zwischen Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeut:innen gab. Insgesamt wurden im Rahmen der vorliegenden Studie aber auch Defizite in der Erwähnungshäufigkeit relevanter Informationen gefunden, beispielsweise zum zeitlichen Abstand seit der letzten Psychotherapie oder zum damals angewendeten Verfahren.

Die Ergebnisse der vorgestellten Studie sollten im Licht ihrer Limitationen interpretiert werden. Eine wesentliche Einschränkung besteht darin, dass die Passung von Diagnosen und Medikation dem Stand der gegenwärtigen Leitlinien entspricht. Die Berichte stammen jedoch auch aus früheren Jahren, bei denen womöglich andere Empfehlungen zutrafen. Zu vermuten ist jedoch, dass dies nur einige der „Soll-nicht“-Einschätzungen betrifft, da eine medikamentöse Behandlung bei beispielsweise schweren Depressionen oder bipolaren Störungen auch schon 2003, dem ersten Jahr der eingeschlossenen Berichte, üblich war. Zudem muss bedacht werden, dass eine Diagnose allein noch keine Indikation für eine konkrete Medikation darstellt. Zu groß ist das Spektrum individueller Dynamiken und Rahmenbedingungen pro Diagnosekategorie (Maier et al. 2023), als dass eine Indikation in einem quasilinearen Wenn-Diagnose-dann-Medikament-X-Bezug gestellt werden könnte. Hinzu kommt, dass auch die Validität von Diagnosen, die im klinischen Alltag gegeben werden, nicht immer hoch ist. Neben möglichen Fehleinschätzungen können auch strategische Überlegungen (z. B. Schutz des Patienten bzw. der Patientin vor Benachteiligung bei Versicherungen, erwartete Wahrscheinlichkeit der [Nicht-]Befürwortung von Anträgen bei bestimmten Diagnosen etc.) eine Rolle spielen. Insofern können die durchgeführten Analysen nur Hinweise auf mögliche Zusammenhänge in der klinischen Realität geben; sie stellen keine Beweise für oder gegen etwas dar.

Eine weitere Limitation besteht darin, dass nicht bekannt ist, wer von den Ärztlichen Psychotherapeut:innen selbst Psychiater oder Psychiaterin ist. Diese würden keine ambulante psychiatrische Mitbehandlung „nötig haben“ (es sei denn, sie wollten die medikamentöse von der psychotherapeutischen Behandlung getrennt halten) und dies deshalb vielleicht auch nicht für erwähnenswert halten. Falls diese Annahme zuträfe, wäre der Unterschied zwischen Ärzt:innen und Psycholog:innen in Wahrheit sogar noch größer, als er sich in den Ergebnissen darstellt.

Schließlich sollte berücksichtigt werden, dass eine Nichterwähnung im Bericht nicht zwangsläufig bedeutet, dass pharmakologische und psychiatrische Mitbehandlungen in der Therapie nicht berücksichtigt werden. Sie legt dies nur nahe. Träfe dies zu, wäre das ein bedenklicher Umstand. Unabhängig davon, welche Einstellung zur Psychopharmakotherapie vertreten wird, sollte bei der psychotherapeutischen Behandlung bekannt sein und berücksichtigt werden, ob die Patient:innen entsprechende Medikamente einnehmen oder nicht. Dies ist einerseits wichtig, weil die Versorgung psychisch Kranker, wie eingangs erwähnt, häufig eine gemeinschaftliche Aufgabe verschiedener Berufsgruppen ist und dies in der eigenen Behandlungsplanung berücksichtigt werden sollte, andererseits weil die Einnahme und Gabe von Medikamenten die therapeutische Beziehung verändern können (Küchenhoff 2010). Auch für die Gutachten selbst ist die Angabe der Medikation sowie der Art und des Umfangs von Vor- und Mitbehandlungen wichtig, da sich hieraus möglicherweise weitere Hinweise auf die Schwere der psychischen Erkrankung sowie die Prognose der Psychotherapie ableiten lassen, die für die Entscheidungsfindung der Begutachtenden hoch relevant sind.

Ein sinnvoller nächster Schritt wäre deshalb, Kenntnisse über und Einstellungen zu Psychopharmakotherapie, zur Mitbehandlung durch andere Berufsgruppen (Psychiatrie, Allgemeinmedizin, Ergotherapie, künstlerische Therapien, Soziotherapie etc.) sowie zu Krankheits- und Wirkmodellen bei den Psychotherapeut:innen direkt zu erfragen. In der Aus‑, Weiter- und Fortbildung sollte die Relevanz dieser Themen ebenfalls erörtert werden.

Ein Hinweis auf mögliche Probleme der Versorgung könnte sein, dass eine relevante Zahl von Patient:innen psychopharmakologische Medikamente erhielt, ohne in psychiatrischer Versorgung zu sein – zumindest dem Bericht zufolge. Entsprechend der Leitlinie Unipolare Depression ist dies auch nicht immer notwendig, aber bei schweren oder chronischen Verläufen, Non-Response oder längerer Arbeitsunfähigkeit sollte eine psychiatrische Versorgung erfolgen (Bundesärztekammer et al. 2022). Die Befunde decken sich mit Analysen von Krankenkassendaten, die zeigten, dass etwa ein Drittel der Patient:innen mit schwerer Depression und die Hälfte mit psychotischer Depression ausschließlich in hausärztlicher Behandlung war (Wiegand et al. 2016). Wenn die psychiatrische bzw. psychosomatische Betreuung fehlt, ist das Risiko einer nichtleitliniengerechten Pharmakotherapie oder Kombinationstherapie bei Depressionen erhöht (Melchior et al. 2014; Wiegand et al. 2020). Gaebel et al. fanden, dass Patient:innen mit schweren Depressionen, die initial nur von Fachärzt:innen für Allgemeinmedizin oder von Fachdisziplinen der somatischen Medizin behandelt wurden, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie anschließend nicht zu einem „mental health care professional“ wechseln (Gaebel et al. 2013). Auch dort besteht also eine gewisse Gefahr der „Selbstisolation“ der Fächer (Singer 2023). Im Sinne der Patient:innen wäre es wünschenswert, aus diesem Inseldenken herauszukommen und sich gemeinschaftlich um deren Versorgung zu kümmern. Diesem Wandel hin zu kooperierenden Netzwerken in der ambulanten Versorgung trägt auch die neue Komplexrichtlinie Rechnung (G-BA 2021). Hierbei können auch Psychologische Psychotherapeut:innen die Behandlungsführung übernehmen, was einmal mehr unterstreicht, warum diese sich mit Medikation und nichtpsychotherapeutischen Behandlungsformen auskennen sollten, selbst wenn sie diese nicht selbst anbieten.

Fazit für die Praxis

  • Die psychopharmakologische, psychiatrische bzw. psychosomatische und psychotherapeutische Vor- und Mitbehandlung sollte in Berichten an den Gutachter immer erwähnt werden, selbst wenn keine entsprechende Behandlung erfolgt ist.

  • Die Gutachter:innen der Anträge könnten mehr darauf achten, dass diese Angaben vollständig erbracht werden.

  • In der Aus‑, Weiter- und Fortbildung von Psychotherapeut:innen sollte die Relevanz dieser Themen stärker vermittelt werden.