Lernziele

  • Nach dieser Lektüre wissen Sie, innerhalb welcher gängiger diagnostischer Kategorien Dissoziation ein klinisches Kriterium ist und bei welchen Krankheitsbildern sich häufig akzessorisch dissoziative Symptome zeigen.

  • Sie können die von Holmes et al. vorgeschlagenen Kategorien der Dissoziation hinsichtlich ihrer Phänomenologie unterscheiden.

  • Sie können mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich klinischen Symptomen bei Schizophrenien und Dissoziation nennen.

  • Sie ziehen Schlüsse, welche Ereignisse in Diagnostischen Gesprächen im Zusammenhang mit Dissoziativen Symptomen besonders aufmerksam verfolgt werden sollten.

  • Sie wissen, bei welchen Krankheitsbildern sich häufig akzessorisch dissoziative Symptome zeigen.Sie kennen die drei Fragebögen zur Diagnostik von Dissoziativen Störungen und können einen Fragebogen nennen, der auch Hinweise auf kPTBS einschließt.

  • Sie können drei Phasen der Behandlung von schweren dissoziativen Störungen benennen und leiten jeweils Behandlungselemente ab, die in den jeweiligen Phasen besonders relevant erscheinen.

Begriffsgeschichte

Die Geschichte des Begriffs Dissoziation geht auf Pierre Janet (1859–1947) zurück; dieser belegte ihn insbesondere mit der Bedeutung eines psychischen und psychophysischen Krankheitsmechanismus. Unter Dis-assoziationen verstand er die Auswirkungen psychologischer Automatismen, die demzufolge u. U. aus dem Bewusstseinsstrom herausgelöst werden können. In der damaligen, der Entschlüsselung des Seelischen verschriebenen, Epoche entstand somit neben der Freud’schen Neurosenlehre ein weiteres, einflussreiches psychopathologisches und ätiopathogenetisches Modell zur Erklärung psychischer Phänomene. Beide Modelle haben gemeinsam, dass sie im Zentrum der psychischen Krankheitslehre die Möglichkeit postulieren, die psychische Homöostase könne durch die Verbannung belastender mentaler Inhalte aus dem Bewusstsein aufrechterhalten werden.

Pierre Janet prägte im ausgehenden 19. Jh. in Anknüpfung an Forschungen zur Hysterie das Konzept der Dissoziation (Janet 1889) als eines ihrer Merkmale. Dieser Begriff wird heutzutage in der gängigen medizinischen Terminologie nicht mehr verwendet, auch weil die ursprüngliche Bedeutung – „hystera“ (die Gebärmutter) – einseitig konnotiert ist. Es zeigte sich, dass „hysterische“ Phänomene auch bei Männern auftreten, weshalb diese von nun an geschlechtsunspezifisch und in Anspielung auf ihre Auslösung durch Eisenbahnunfälle als Antwort auf „wiederholte Schrecken“ erklärt wurden. Janet und Freud differenzierten dieses pathogenetische Modell in unterschiedlicher Weise aus, wobei beide annahmen, dass die der Hysterie zugeordneten Symptome ganz wesentlich mit psychischen Ursachen zusammenhingen. Während Janet psychologische Automatismen mit dem Effekt einer unterbewussten (d. h. in der Tiefe des Bewusstseins verankerten) Matrix präformierter assoziativer Kontexte postulierte (Janet 1889), verwies Freud auf den dem Bewusstsein a priori verschlossenen Charakter des Unbewussten (Freud 1924).

Janet nahm an, dass eine Empfänglichkeit für hysterische Phänomene auf hereditärer Grundlage beruhe und unter dem Einfluss äußerer belastender Ereignisse zum Tragen komme, in Form einer Abspaltung der sog. psychologischen Automatismen aus dem Bewusstsein. Zudem nahm er an, dass die psychische Organisation aus einer Vielzahl von Automatismen bestehe, die dem Menschen eigentlich bewusst seien. Infolge traumatischer Ereignisse könnten sich jedoch einzelne psychische Automatismen abspalten und Eigendynamik entwickeln, die sich in den mannigfaltigen hysterischen Phänomenen widerspiegele (Janet 1889). Freud hingegen sah den entscheidenden pathogenetischen Vorgang in der Konversion, worunter er – semantisch offen – den „rätselhaften Sprung aus dem Seelischen ins Körperliche“ verstand. Konversion kann somit verstanden werden als das Ausgreifen psychischer Spannung auf die Integrität und Funktionalität des Körpers. Die Ursache erkannte Freud in der Unvereinbarkeit von Fantasien und Wünschen mit inneren Normen. Diese würden durch unbewusste konflikthafte Verarbeitung eine entsprechende innere Konfliktspannung, die sich im Symptom entlade, erzeugen (Freud und Breuer 1952 [1895]). In der zeitgenössischen Literatur überwiegt allerdings der deskriptive Ansatz, auch wenn die 10. Aufl. der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) Konflikte und Traumatisierungen als für die Dissoziation pathogenetisch bedeutsam benennt und Konversionssymptome als psychogen einstuft.

Definition

Übereinstimmend verstehen die gängigen diagnostischen Klassifikationssysteme unter dem Phänomen der Dissoziation die Desintegration der üblicherweise integrierten Funktionen des Gedächtnisses, des Bewusstseins, der Identität sowie der Wahrnehmung der eigenen Person und der Umwelt (Tab. 1). Dissoziative Symptome wie Stupor oder Amnesie gelten i. Allg. als eine traumatisch bedingte Symptomatik. In der ICD-10 (Dilling et al. 2008) werden unter der Kategorie dissoziativer Störungen auch Symptome wie die Desintegration motorischer und sensibler Funktionen subsumiert. Auch die 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM‑5; APA 2013) führt die dissoziativen Störungen als eigenständige Störungskategorie an. Innerhalb der gängigen Klassifikationen sind dissoziative Symptome als klinisches Kriterium eher marginaler Bestandteil nur weniger weiterer diagnostischer Kategorien, wie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und der akuten Belastungsreaktion, deren Kriterium B einige dissoziative Symptome umfasst (z. B. DSM: Bryant et al. 2011). Diese Konzeption erkennt das Phänomen der Dissoziation im Zusammenhang mit unmittelbaren Traumafolgen als eine traumatisch veranlasste Reaktion an. Die sog. peritraumatische, also im engen zeitlichen Zusammenhang mit einem traumatisierenden Erlebnis auftretende, Dissoziation wird als eine Voraussetzung für posttraumatischen Disstress oder andere krankheitswertige Traumakorrelate angesehen (van der Hart et al. 2008).

Tab. 1 Dimensionen derDissoziation

Diagnostische Extension

Als eigenständige dissoziative Störungskategorien werden in der ICD-10 innerhalb des Kap. V, F 44 (dissoziative Störungen [Konversionsstörungen]), die folgenden Diagnosen unterschieden:

  • die dissoziative Amnesie (Verlust der Erinnerung an kurz zurückliegende, wichtige, meist traumatische Ereignisse). Eine weitergehende Definition (Arbeitsgemeinschaft Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie, AMDP) bezieht den Begriff der Amnesie auch auf das Vergessen biografisch relevanter Informationen;

  • die dissoziative Fugue (der plötzliche und später nicht erinnerliche Ortswechsel; ICD-10: F44.1);

  • der dissoziative Stupor (das Fehlen oder die Verringerung von Willkürbewegungen und „normalen Reaktionen auf äußere Reize“, etwa Haltungsverharren; ICD-10: F44.2);

  • Trance und Besessenheitszustände (zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung, der Eindruck, der Herrschaft durch andere Personen, Geister oder andere Kräfte zu unterliegen; ICD-10: F44.3);

  • dissoziative Bewegungsstörungen (motorische Defizite aller Art ohne organische Verursachung; ICD-10: F44.4);

  • das Depersonalisations- und Derealisationssyndrom (s. auch Detachement; ICD-10: F48.1);

  • dissoziative Krampfanfälle (d. h. psychogen verursachte Krampfanfälle, die in ihren krampfartigen Bewegungen epileptischen Anfällen ähneln können; ICD-10: F44.5);

  • dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (sensible Defizite aller Art ohne organische Verursachung, z. B. Verlust der normalen Hautempfindung, Seh‑, Hör‑, Riechverluste; ICD-10: F44.6);

  • dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) gemischt (ICD-10: F44.7);

  • sonstige dissoziative Störungen (Konversionsstörungen; ICD-10: F44.8), einschließlich:

    • des Ganser-Syndroms (Bild inkorrekten [„Vorbei-“]Antwortens, häufig in Verbindung mit anderen dissoziativen Symptomen);

    • der multiplen Persönlichkeits- bzw. dissoziativen Identitätsstörung (DIS; Vorhandensein mehrerer Persönlichkeiten bzw. getrennter Identitäten in einem Individuum);

  • der transitorischen dissoziativen Störung (Konversionsstörung) in Kindheit und Jugend und der sonstigen anderen dissoziativen Störung.

Prävalenz

Dorahy et al. (2014) geben eine Prävalenz von ca. 1 % in Bezug auf die DIS in der Allgemeinbevölkerung an. Jedoch gilt für Inanspruchnahmepopulationen (wie psychiatrische Patienten) eine Prävalenz von 5 % (Gast et al. 2006). Dabei seien Frauen im Verhältnis 9:1 dramatisch häufiger betroffen. Allerdings sind männliche Individuen mit ausgeprägter Dissoziation (und Trauma) eher in forensischen, als in den angeführten allgemeinpsychiatrischen Stichproben anzutreffen (Akyüz et al. 2007). Hinsichtlich der kPTBS, die ein dissoziatives Symptomprofil aufweist, berichteten Brenner et al. (2018) eine Häufigkeit bis zu ca. 13 % in einer psychosomatischen Inanspruchnahmepopulation. Zu einem deutlicheren Ergebnis kommen Spitzer et al. (2021), die die Prävalenz pathologischer Dissoziation bei Patienten mit einer Borderline-Störung mit 20–37 % angeben und zeigen, dass auch Persönlichkeitsstörungen zu einem dissoziativen Ausdruck neigen können. In Bezug auf subklinische, nonpathologische Dissoziation in der Allgemeinbevölkerung wird auf die Darstellung in Tab. 2 verwiesen, die aufzeigt, dass Alltagsdissoziation z. B als absorptives Erleben auftreten kann, wie bei konzentrativer Versunkenheit.

Tab. 2 Dissoziative Symptome in der Allgemeinbevölkerung. (Auszugsweise Darstellung nach Mulder et al. 1998 sowie Ross et al. 1990)

Akzessorische Dissoziation

Diese Auflistung kategorialer dissoziativer Störungen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dissoziative Symptome eine hohe klinische Relevanz als komorbide Phänomene bei anderen psychiatrischen und psychosomatischen Erkrankungen haben. Lyssenko et al. (2018) haben diesen Komplex in einer kürzlichen Übersicht ausgeleuchtet und ein sehr anschauliches Ranking psychischer, psychiatrischer und psychosomatischer Störungen in Bezug auf die akzessorische Ausprägung dissoziativer Erscheinungen vorgestellt. Dabei finden sich die höchsten Ausprägungen dissoziativer Symptome bei der DIS (48,7 %), gefolgt von der PTBS (28,6 %) sowie der Borderline-Persönlichkeitsstörung (27,9 %). Die Prozentangaben beziehen sich dabei auf jenen Anteil der Zeit, in dem die untersuchten dissoziativen Erscheinungen auftraten.

Bei Entitäten wie Angststörungen, Konversion, Essstörungen und der somatischen Belastungsstörung fallen die erreichten Scores deutlich ab, auch wenn insbesondere Angst und Konversion traditionell mit der Neigung zu dissoziieren in Verbindung gebracht werden. Wohlgemerkt weisen Gesunde einen FDS-Score von ca. 10 % auf. Somit sind dissoziative Symptome bei traumaassoziierten Störungen besonders häufig, scheinen aber darauf nicht beschränkt zu sein. Zudem zeigen die Autoren qualitative Unterschiede im Hinblick auf das Dissoziationspotenzial unterschiedlicher Entitäten: Bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen bildet sich ein Schwerpunkt auf der Absorption (d. h. Versunkenheit in inneres Erleben). Dieser liegt dagegen für dissoziative Störungen auf den Dimensionen der Derealisation und Depersonalisation.

Diese Zahlen machen deutlich, dass die weite Definition der Dissoziation auch dazu führt, dass sich sehr unterschiedliche Phänomene auf bestimmte Symptomkonstellationen projizieren, wobei es überraschen mag, dass die Dimension der Amnesie bei diesen schweren, von Lyssenko et al. (2018) untersuchten psychischen Erkrankungen gar nicht ins Gewicht zu fallen scheint. Das akzessorische Auftreten dissoziativer Symptome im Rahmen psychischer Erkrankungen scheint überdies zwar gut zur Annahme eines dissoziativen Kontinuums zu passen. Dieses vermutet die Uniformität dissoziativer Symptome in ätiologischer Hinsicht, auch wenn es in diesem Spektrum unterschiedliche Schweregrade gibt. Zugleich lässt sich aber fragen, ob so unterschiedliche Kontexte wie die oben genannten psychischen Erkrankungen allesamt unter den „Trauma-Hut“ passen.

Dissoziative Erscheinungen im Kontext anderer Störungen

Psychopathologische/psychische Prozesse

Abgesehen von der Kausalität einer Traumafolge scheint die Dissoziationsneigung durch bestimmte psychopathologische bzw. psychische Prozesse begünstigt zu werden. Hierzu zählen Depressivität bzw. emotionale Labilität und Insomnie (Giesbrecht und Merckelbach 2005).

Andere Faktoren, die zur Dissoziation beitragen können, sind psychologischer Natur und lösen teils starke Kontroversen über die Natur der Dissoziation aus: Die Rede ist von der Neigung zu fantasieren und der zu kognitiven Fehlern (Giesbrecht und Merckelbach 2005). Moderate Korrelationen dieser Konstrukte mit der deutschen Version der Dissociative Experiences Scale (DES) werfen die Frage auf, ob es sich bei dissoziativen Phänomenen um Denkfehler und um Suggestionen handelt. Diese sehr kontroverse Debatte soll sie hier nicht geführt werden. Vielmehr ist zu betonen, dass die dissoziativen Anteile einer individuellen Symptomatik aus der jeweiligen Subjektivität heraus am besten zu verstehen sind, d. h., dass Belastungen sich auch aus den individuellen Grenzen der Belastbarkeit definieren können. Ein Beispiel sind aktuelle Erhebungen zur psychischen Gesundheit unter pandemischen Umständen, die auf eine erhöhte Belastung mit dissoziativen Symptomen hinweisen (Rossi et al. 2021). Hier wird deutlich, dass gesellschaftliche Belastungen eine Vulnerabilität für dissoziative Symptome bedeuten können. Deshalb ist eine gesellschaftliche Krisensituation, die kein Trauma im engeren Sinne darstellt, in Verbindung mit einer gesundheitlichen Bedrohung möglicherweise dissoziationsauslösend. Somit bleibt die Frage, ob dissoziative Symptome immer auf einem konkreten Trauma beruhen, offen und ungeklärt. Allerdings unterstreichen diese Befunde die Funktionalität dissoziativer Symptome als Abwehrmechanismus, der die emotionale Homöostase auch unter schwierigen Bedingungen aufrechterhalten hilft. Dissoziation muss in diesem Sinne nicht immer als eine krankhafte Symptomäußerung verstanden werden; mitunter wird ihr ein Verständnis als Stresskorrelat eher gerecht.

Cave

Dissoziative Symptome fungieren als Abwehr auch jenseits konkreter traumatisierender Ereignisse.

Schizophrenie

Eine besondere Konstellation dissoziativer Psychopathologie zeigt sich im Hinblick auf „severe mental illness“, und insbesondere auf die Schizophrenie. Nach Ross und Keyes (2004) liegt bei etwa 40 % der Patienten mit Schizophrenie eine ausgeprägte dissoziative Symptomatik vor. Zugleich weisen diese Patienten eine hohe Traumatisierungsrate auf. Umgekehrt finden sich psychotische, d. h. halluzinatorische und paranoide Syndrome, auch bei nichtschizophrenen Erkrankungen, namentlich bei posttraumatischen Entitäten wie der PTBS, der Borderline-Persönlichkeit oder dissoziativen Störungen. Erstaunlicherweise sind psychotische Symptome bei diesen Patientengruppen sogar als akzentuierter beschrieben worden, als das bei genuin Schizophrenen der Fall ist (Hamner et al. 2000). Anscheinend gibt es auch qualitative Unterschiede zwischen dem Stimmenhören bei Schizophrenie und bei posttraumatischen Störungen: Während Stimmen im Rahmen der Schizophrenie einen eher imperativen Charakter aufweisen (z. B. Stimmen geben Befehle), sind sie bei PTBS eher als Ich-dyston und innerhalb des Kopfes wahrgenommen beschrieben worden. Zudem scheinen psychotische Symptome im Zusammenhang mit posttraumatischen Störungen eher Ausdruck der Dissoziation als unmittelbare Traumafolge zu sein. Diese Einschätzung trägt auch der Tatsache Rechnung, dass Halluzinationen kein Wiedererleben repräsentieren, denn es handelt sich nicht um Wahrnehmungen, wie sie in der traumatischen Situation stattgefunden hätten (McCarthy-Jones und Longden 2015). Demzufolge handeln oder fühlen diese Betroffenen unter dem Eindruck ihrer Halluzination eben gerade nicht so, wie sie es in der traumatisierenden Situation taten, sondern erleben Symptome in einem anderen Kontext, der durch diese Symptome dem traumatisierenden angeglichen wird. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Hypothese einer dissoziativen Variante der Schizophrenie, und es lässt sich daraus zumindest hypothetisch ableiten, dass auch Halluzinationen eine Abwehrfunktion innehaben können, die auf dissoziativen Mechanismen beruht. Die Verlagerung der aversiven, spannungsinduzierenden psychischen Inhalte erfolgt in die Außenwelt, und nicht in das Unbewusste oder den Körper.

Cave

Dissoziative Symptome und Symptome der Schizophrenie können spezifische Wechselwirkungen aufweisen.

„Topografie“

In Anbetracht des weiten Spektrums unterschiedlicher Symptome, die unter dem Dissoziationsbegriff zusammengefasst werden, haben Holmes et al. (2005) eine Differenzierung vorgeschlagen, die zwei distinkte Klassen von artverwandten, aber wesentlich unterschiedlichen Symptomen differenziert.

  • Das Merkmal der Desintegration mentaler Inhalte, in diesem Modell „compartmentalization“ genannt, bezieht sich auf das Fehlen einer bewussten und willentlichen Kontrolle über kognitive, emotionale und handlungsbezogene Prozesse, die eigentlich dem Willen unterworfen sind. Solche Symptome, die aus Automatismen entspringen, sind aus freien Stücken nicht beeinflussbar und entsprechen v. a. der dissoziativen Amnesie. Es geht also um Phänomene, die sich auf den Verlust mnestischer Inhalte und auf überschießende Erinnerungen beziehen (Spitzer et al. 2004) sowie des Weiteren um körperliche Dissoziation bzw. Konversion (Nijenhuis et al. 1996).

  • „Detachment“ hingegen subsumiert veränderte Bewusstseinszustände, die aus Entfremdungseindrücken gegenüber der eigenen Person oder der Umwelt resultieren und von einer emotionalen Verflachung bis hin zur totalen Indifferenz begleitet werden. Dissoziation vom Detachment-Typ beinhaltet v. a. Derealisations- und Depersonalisationsphänomene, die häufig bei Traumafolgestörungen, wie etwa der PTBS und – darüber hinaus – beim Depersonalisationssyndrom auftreten (Holmes et al. 2005).

Dissoziation vom Detachment-Typ (Fokus Entfremdung) und Dissoziation vom Kompartmentalisationstyp (Fokus Desintegration) können sich durchaus überlappen bzw. gegenseitig beeinflussen. So können Dissoziation vom Kompartmentalisationstyp sich z. B. auf abgespaltene emotionale Anteile einer traumatischen Erinnerung beziehen oder aber Dissoziation vom Detachment-Typ die Speicherung wichtiger Erfahrung in das Gedächtnis erschweren (Vogel et al. 2013). Der wesentliche Unterschied dieser beiden Dissoziationsvarianten liegt darin, dass bei der Dissoziation vom Kompartmentalisationstyp mnestische Funktionen eher punktuell und ereignisbezogen gestört sind. Dagegen sind im Fall von Detachment strukturelle Funktionen wie Bewusstsein und Wahrnehmung von einer weitreichenden und nicht nur punktuellen Störung betroffen (Holmes et al. 2005). Es handelt sich demnach bei den vorgeschlagenen Kategorien dissoziativen Erlebens um unterscheidbare, aber interaktive und einander nicht ausschließende Kategorien, die theoretisch auf unterschiedlichen pathogenetischen Prozessen beruhen können und auf unterschiedlichen Kontinua angesiedelt sind. Hierin liegt der besondere Charakter dieses Vorschlags (Holmes et al. 2005), bricht er doch mit dem Paradigma eines dissoziativen Kontinuums, demzufolge alle dissoziativen Phänomene Varianten ein- und desselben Prozesses darstellen würden, die von psychologischem Alltagserleben (wie geistige/konzentrative Versunkenheit) bis hin zu verschiedensten pathologischen Formen reichen sollen. Dieses Modell könnte zudem helfen, die oben erwähnte Kontroverse um die Dissoziation zu befrieden, denn zwei distinkte Klassen von Dissoziation müssen keine einheitliche Genese aufweisen. Butler et al. (2019) konnten diese bifaktorielle Struktur des Modells in einer klinischen und einer nichtklinischen Stichprobe bestätigen und entwickelten zur weiteren Überprüfung der Theorie als Erhebungsinstrument das „Detachment and Compartmentalization Inventory“ (Butler et al. 2019).

Entwicklungspsychologische Aspekte

Die frühe Traumatisierung in der Kindheit trifft auf eine unreife bzw. unausgereifte Psyche, die demzufolge nur eingeschränkt zur Bewältigung bzw. zum Coping in der Lage ist. Die Erfahrungswelt von Kindern ist durch Exploration bestimmt, sowohl in dinglicher als auch in psychischer, emotionaler, menschlicher und zwischenmenschlicher Hinsicht. Unter anderem sind tragende Beziehungen zu familiären Bezugspersonen zu etablieren, und es müssen ein rudimentäres Selbst(konzept) sowie ein erstes Weltbild errichtet werden. Dabei ist die Verleugnung neben anderen frühen Abwehrmechanismen eine eingeübte Modalität der Wirklichkeitsmodulation (Chess und Thomas 1976), aber auch mit Fantasie und Vorstellung kann das Kind sich in Beziehung zur Umwelt regulieren. Missbrauchserfahrungen in diesen kritischen Jahren können nur auf dieser Grundlage verarbeitet werden, sodass eine nach erwachsenen Maßstäben gelingende Verarbeitung von vornherein ausgeschlossen erscheint. Dissoziative Prozesse haben hier nach vorherrschender Sichtweise die Funktion einer Abwehr, die die belastenden traumatischen und traumaassoziierten Inhalte aus dem Bewusstsein herauslösen soll. Eine Metaanalyse zeigt etwa, dass Opfer von Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit als Erwachsene stärker ausgeprägte dissoziative Erfahrungen aufweisen, verglichen mit nichtmissbrauchten oder vernachlässigten Stichproben (MAbuse = 23,5; MNeglect = 18,8; MControl = 13,8; Vonderlin et al. 2018). Diese Funktion ist bei amnestischen Phänomenen sehr sinnfällig, jedoch dienen auch Detachment-Symptome diesem Ziel, indem sie emotionale und psychische Anteile „unsichtbar“ machen oder zumindest in einen dissoziativen Nebel hüllen. Diese Vorgänge können im Rahmen einer fortwährenden Manifestation während der Kindheit die Konsolidierung des Selbst und die Integration der verschiedenen Aspekte der Umwelt erschweren, womöglich sogar systematisch verhindern (Farina et al. 2019).

Cave

Die Bedeutung komplexer Traumatisierungen erschließt sich oftmals aus deren biographischen Auswirkungen als frühe Traumatisierungen mit entsprechenden Auswirkungen auf die psychische Entwicklung.

Neurobiologische Aspekte

Mithilfe bildgebender Untersuchungsmethoden gerieten in den letzten Jahren auch die neurobiologischen Korrelate der dissoziativen Störungen mehr in den Fokus. Einerseits wird betrachtet, wo die dissoziativen Symptome entstehen, und andererseits untersucht, welche neurobiologischen Prozesse damit verbunden sind. Weiterhin sind die Dispositionen, die solche Symptome begünstigen, von Interesse.

Konkrete dissoziative Symptome könnten mit distinkten Prozessen verbunden sein (Lotfinia et al. 2020). So wurde beispielsweise bei dissoziativen Krampfanfällen eine erhöhte Konnektivität zwischen motorischen Arealen, Arealen der Emotionsverarbeitung und Arealen der exekutiven Funktionen gefunden (Ding et al. 2013). Bei funktionellen Bewegungsstörungen hingegen weisen Befunde auf eine Störung des Handlungsbewusstseins hin (Voon et al. 2010). Bezüglich der Disposition für dissoziative Symptome zeigte sich überdies, dass Kindheitstraumata zu einer gestörten emotionalen Regulation und Veränderung der Aktivität der Amygdala führen können (Grant et al. 2011). Patienten mit einer Konversionsstörung zeigen wiederum eine erhöhte funktionelle Konnektivität zwischen der Amygdala und dem supplementär-motorischen Kortex (Voon et al. 2010). Diese Befunde scheinen auch die Assoziation zwischen Dissoziation und (Kindheits‑)Trauma widerzuspiegeln, denn stressassoziierte Prozesse können durch epigenetische Veränderungen Reaktionsmuster prägen. So scheinen dissoziative Phänomene mit einer veränderten Aktivierung des Default-Mode-Netzwerks einherzugehen, das mit selbstreferenzieller Prozessierung in Verbindung gebracht wird (Vogel und Metzger 2017) und bei Dissoziation funktionelle Entkopplungen zeigt.

Diagnostik

Allgemeine Aspekte

Wie auch im Hinblick auf andere psychische Störungen beruht die Diagnostik der Dissoziation auf der deskriptiven Erfassung des psychopathologischen Befundes sowie auf differenzialdiagnostischen Erwägungen und Ausschlüssen anderer Erkrankungen. Hierbei sollte insbesondere der Ausschluss einer neurologischen Erkrankung durch eine ausführliche neurologische Untersuchung erfolgen, wobei die Objektivierbarkeit der subjektiv geschilderten Symptome im Vordergrund steht.

Zudem stehen diagnostische Klärungsbedarfe im Zusammenhang mit den ätiologischen bzw. konzeptuellen Grundlagen dissoziativer Phänomene im Raum. Würden dissoziative Symptome als traumaassoziiert gelten, wäre der Nachweis bzw. Bericht einer Traumatisierung konfirmatorisch. Wenn hingegen die Annahme eines neurotischen Konflikts vorherrscht, wäre die dissoziative Abwehr sinnvoll in ein psychodynamisches Modell einzubeziehen. Eine besondere Stellung nehmen schwere dissoziative Störungen ein, die mit einem Identitätswechsel verbunden sein können. Diese umfassen eine Reihe von Alter Egos, die sich auch durch ihnen eigene Symptome ausweisen können. Schwere Dissoziation kann so mit schwerer dissoziativ-somatoformer Symptomatik verbunden sein. Die Theorie der DIS besagt im Hinblick auf diese Symptome, dass es sich um verkörpertes Wiedererleben handele; dieses materialisiere sich in der jeweiligen dissoziierten Traumaerinnerung (Loewenstein 2018). Diese Symptome, und auch dissoziative Anfälle, stellen also einen fragmentierten Anteil einer Gesamtpathologie dar, den man ohne diesen Kontext aber diagnostisch wahrscheinlich falsch einordnen wird. Insofern ist die Diagnostik nicht nur phänomenologisch und deskriptiv zu gestalten, sondern auch unter Berücksichtigung ätiologischer Paradigmen aufzurollen.

Cave

  • Dissoziative und Konversionssymptome können wie bei der DIS einen fragmentierten Teil einer Gesamtpathologie darstellen.

  • Ohne die Gesamtpathologie zu kennen, wird man die Symptome wahrscheinlich falsch einordnen und behandeln.

Herangehen in Bezug auf Traumatisierung

Potenziell traumatische Ereignisse sind für die Dissoziation ätiologisch relevant. Insofern dient die Anamnese auch der Absicherung der Diagnose einer psychischen Störungen mit dissoziativen Symptomen. Vor diesem Hintergrund sollte für die Diagnose die Einteilung traumatisierender Ereignisse in Typ-I-Traumata (akute, singuläre, z. B. Verkehrsunfälle, kurz andauernde Naturkatastrophe, kurz andauernde Gewalterfahrung) – und Typ-II-Traumata (wiederholte, komplexe, z. B. Kriegserlebnisse, Missbrauch in Kindheit) berücksichtigt werden. Relevant ist außerdem die Systematik der Diagnostik posttraumatischer Störungen, insbesondere das A‑Kriterium der PTBS, das sich in einer Auflistung möglicher Typ-I-Traumatisierungen widerspiegelt (belastendes Ereignis/Situation von außergewöhnlicher Schwere). Im Übrigen beschreibt das A‑Kriterium die peritraumatische Dissoziation (z. B. intensive Hilflosigkeit), die als prognostisch ungünstiger Faktor, der die Einspeicherung des erlebten Traumas hemmt und der desintegrierten Memorierung Vorschub leistet, gilt. Sowohl für das A‑Kriterium als auch für die PTBS insgesamt eignen sich die in Tab. 3 aufgeführten Instrumente.

Tab. 3 Instrumente zur Diagnostik bei dissoziativer Störung

Das Phänomen der Dissoziation prägt einige der elementaren posttraumatischen Symptome, die im Kontext der PTBS-Diagnose definierend sind: Derealisation, Amnesie und Hypermnesie (Wiedererleben).

Indes handelt es sich bei dissoziativen Störungen meist nicht um die Korrelate singulärer Widrigkeiten, sondern um die Manifestationen der pathogenen Potenziale komplexer Traumatisierungen. Diese treten sequenziell auf und häufig bereits früh in einer individuellen Biografie, deshalb empfiehlt sich die Diagnostik aversiver Kindheitsereignisse, z. B. mithilfe von Fragebogen.

Die anderenorts nicht spezifizierte dissoziative Störung bzw. „disorder of extreme stress not otherwise specified“ (DESNOS), eine Art attenuierter DIS, entspricht phänomenologisch der kPTBS. Die kPTBS zeichnet sich durch veränderte emotionale bzw. psychische Regulation aus, ferner durch den Verlust der Orientierung an spirituellen und religiösen Halten, Veränderungen der Sexualität wie beispielsweise Libidoverlust und aufgehobene bzw. eingeschränkte Nähetoleranz (Frommberger et al. 2014). Somit weist die kPTBS eine inhaltliche und phänomenologische Nähe zur Borderline-Persönlichkeitsstörung auf, die letztlich auch die Validität der kPTBS als distinkte diagnostische Kategorie infrage stellt (Cloitre et al. 2014). Diese Symptome können zusätzlich zu denen der PTBS (Wiedererleben, Vermeidung und Arousal) auftreten, und auch ein Trauma sollte im Kontext der Diagnosestellung gesichert werden. Die kPTBS umfasst eine Reihe von dissoziativen Symptomen wie Amnesie, Depersonalisation bzw. Derealisation, Fugue, Identitätsspaltung bzw. mehrere Identitäten. Von grundlegenden ätiologischen Erwägungen einmal abgesehen, ergibt sich aus der Überlappung der Borderline-Persönlichkeit mit kPTBS auch die Schlussfolgerung, die Borderline-Persönlichkeit selbst als posttraumatische Entität, die ebenfalls durch dissoziative Symptome definiert wird (z. B. Derealisation), zu verstehen. Die aktualisierte Version der DSM greift diese Gemengelage folgerichtig dadurch auf, dass sie die PTBS definitionsgemäß um einen dissoziativen Subtyp erweitert (Spiegel et al. 2013). Dieser beruht auf der Erkenntnis, dass es eine Subgruppe von PTBS-Betroffenen gibt, die an ausgeprägtem Detachment leidet und zugleich eine höhere Belastung durch Wiedererleben, jüngeres Manifestationsalter, Kindheitstrauma und Suizidalität sowie obendrein eine weniger belastbare Rollenfunktion aufweist. Zudem hat die dissoziative PTBS eine hohe Überschneidung mit dem dissoziativen Taxon, und die taxometrischen Untersuchungen in Bezug auf den dissoziativen Subtyp der PTBS unterstreichen den dissoziativen Charakter des Wiedererlebens (Lanius et al. 2012).

Therapie

Die Behandlung dissoziativer Störungen und Syndrome gilt als schwierig – teilweise auch aus dem Grund, dass die Ätiologie nicht immer klar und „Dissoziation“ nicht immer pathologisch ist.

Eine rezente Übersicht vom Cochrane-Format, die die Therapiemöglichkeiten bei Konversionsstörungen und dissoziativen Störungen untersuchte, weist für verschiedene Therapieformen auf eine nur mäßige Wirksamkeit hin; vor allem zeigt die Übersicht aber den Mangel an systematischer Forschung auf, der evidenzbasierte Schlussfolgerungen zu Effektivität psychosozialer Interventionen erschwert (Ganslev et al. 2020). Dem steht eine breite Evidenzlage für Therapieformen bei psychischen Erkrankungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung oder der PTBS gegenüber (Schäfer et al. 2019), die ebenfalls mit dissoziativen Symptomen einhergehen. Auch psychopharmakologische Ansätze erweisen sich bisher als wenig vielversprechend im Hinblick auf eine dadurch kaum in Aussicht gestellte Remission dissoziativer Beschwerden (Sutar und Sahu 2019). Von Bedeutung scheint in diesem Zusammenhang gerade in Zeiten steigender Migration zudem der differenzielle interkulturelle Aspekt, der bei dissoziativen Störungen zu unterschiedlichen Bewertungen führen kann.

Während in östlichen Kulturen Bewusstseinsspaltung eher als Trance bewertet wird, gilt diese in westlichen Kulturkreisen eher als Depersonalisation (Subramanyam et al. 2020). Die Identitätsspaltung hingegen wird fernöstlich als Besessenheit begriffen, im hiesigen Umfeld jedoch vorzugsweise im Sinne multipler Identitäten aufgefasst. In Analogie zu diesen Bewertungen sind auch die Therapieerwartungen in Abhängigkeit vom kulturellen Kontext andere, denn gemäß Subramanyam et al. (2020) beinhaltet die eher spirituelle Konnotation dissoziativer Phänomene auch eine eher spirituelle Heilserwartung, während die psychische, psychosomatische und psychotraumatologische Konzeption hierzulande eher die Erwartung einer psychotherapeutischen Heilung nahelegt. Somit scheint interkulturell immerhin ein Konsens etabliert zu sein, nämlich, dass Psychopharmaka wenig Potenzial zur Heilung dissoziativer Symptome zugeschrieben wird. Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch pharmakologische Ansätze verfolgt werden, wobei dies v. a. im Hinblick auf Detachment-Dissoziation in Koinzidenz mit PTBS oder BPD, und hier in Bezug auf Naloxon und Paroxetin mit einer positiven Bewertung bei allerdings moderater Evidenz, gilt (Sutar und Sahu 2019).

Komplextherapie

Die Behandlung bei dissoziativen Störungen beruht auf der akkuraten Diagnostik dieser Störungen, einschließlich biografischer und Beziehungsdiagnostik sowie ggf. psychopathologischer Weiterungen. Ferner erfordern komplexe Dissoziationslagen eine komplexe Therapie, weil neben der psychischen Integration ggf. auch andere psychosoziale Bedarfe zu bedienen sind, wie z. B. sozialarbeiterischer Art.

Bei der Therapie sollten folgende Grundprinzipien (nach Espay et al. 2018) unabhängig von der Art der Dissoziation sowie der eigenen Therapieschule beachtet werden:

  • Verstehbarmachen der Diagnose im Rahmen des biopsychosozialen Modells,

  • Förderung von Transparenz, insbesondere bezüglich diagnostischer Merkmale in Abgrenzung zu z. B. neurologischen Erkrankungen,

  • Exploration nichthilfreicher Krankheitsüberzeugungen und nichthilfreichen Krankheitsverhaltens,

  • Förderung von Therapiemotivation durch Vermittlung der Möglichkeit einer Symptomremission,

  • Förderung von Unabhängigkeit und Selbstverantwortung,

  • ggf. Einbeziehung von Familie, Pflegenden, Betreuern etc.

Komplexe Therapieansätze sollten psychoedukative Elemente enthalten, die helfen können, die Symptome als Ausdruck einer behandelbaren Störung zu begreifen und die eigenen, z. B. alltagspraktischen Defizite in diesem Zusammenhang als symptomatisch zu werten. Zudem kann Psychoedukation dazu beitragen, die subjektive Kontrolle zu stärken, indem der Wert entsprechender Skills vermittelt wird.

Sind die dissoziativen Störungen stressinduziert, können günstigenfalls Techniken zur selbstwirksamen Regulation geeignet sein, die Symptommanifestation zu verhindern. In diesem Sinne finden „Skills“, wie sie der Dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) entlehnt sind, Anwendung bei dissoziativen Störungen. Zudem profitieren Patienten mit einer dissoziativen Störung von einer verbesserten Emotionsregulation, insbesondere im Hinblick auf negative Emotionen. Dissoziative Symptome wie Depersonalisation können einer Konditionierung unterliegen, nachdem sie zunächst durch eine Gefahren- oder Bedrohungssituation ausgelöst worden sind. Hier ist der Vergleich mit einem Totstellreflex gezogen worden (Sack 2005), der verdeutlicht, wie fundamental dieses Reiz-Reaktion-Muster ist. Auch im Kontext anderer psychopathologischer Syndrome kann Dissoziation zum Gegenstand der Behandlung werden, um den damit verbundenen, hohen Leidensdruck zu minimieren. Diesem Zweck dienen Symptomtagebücher, die die auslösenden Umstände protokollieren, ferner die Reduktion von Stressoren sowie die konfrontativen Techniken (s. oben). Auch bei der akzessorischen Dissoziation gilt es, eine gleichzeitige Traumaexposition zu vermeiden, d. h., etwaige gewalttätige Beziehungen müssten zumindest für die Dauer der Behandlung unterbrochen sein, bzw. der Kontakt mit Täterin oder Täter ist zu vermeiden.

Kognitive Verhaltenstherapie

Lerntheoretische Modelle der PTBS begründen die Anwendung der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) bei deren Behandlung (Maercker 2022). Ein neutraler Reiz kann zufällig mit einer traumatischen Erfahrung gekoppelt werden, sodass der dann konditionierte Reiz als Auslöser einer Angstkaskade fungieren kann. Operant wird die Vermeidung dieser Reize stabilisiert und so das Reiz-Reaktion-Muster gestärkt. Allerdings gelten im Zusammenhang mit posttraumatischen Störungen auftretende Kognitionen als komplex, da sie typischerweise den Verlust des Vertrauens in andere Menschen, die eigene Vulnerabilität, Entfremdungserleben und die pessimistische Prognose der Zukunft beinhalten. In dieser Konstellation wird die Wahrnehmung der Person als bedroht und beschädigt nachhaltig ausgestaltet. Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze beruhen auf einer Konfrontation in vivo oder in sensu, kognitiver Umstrukturierung und Modalitäten der Rückfallprophylaxe. Wichtig sind die vorbereitende Edukation über das posttraumatische Störungsmodell, die Benennung eines Veränderungsziels und die gemeinsame Vereinbarung zwischen der therapierenden und der therapierten Person. Die Desensibilisierung bezieht sich auf traumatische Erlebnisse und die einzelnen, sie konstituierenden polysensorischen Facetten des Erlebens, wobei diese einzeln imaginiert werden, um ihre Prägnanz sukzessive zu reduzieren.

Bedeutende Hemmnisse der Traumaverarbeitung sind Schuld- und Schamgefühle, die auf der Grundlage von Denkfehlern zu verzerrten Selbstkonzepten und Umwelteindrücken führen können.

Eye Movement Desensitization and Reprocessing

Eine traumaspezifische Behandlungsmodalität stellt die Intervention Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR, Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung) dar. Es handelt es sich um ein traumakonfrontatives Verfahren, das phasengerecht zur Anwendung kommen soll. Durch bilaterale Stimulation, bewirkt durch ein horizontales Pendeln der Blickrichtung, in Verbindung mit der Erinnerung an ein traumatisierendes Erlebnis bzw. dessen Elemente soll bei diesem Verfahren die Integration offensichtlich bihemisphärisch verstreuter Erinnerungsfragmente gelingen. Durch die begrenzte Fokussierung auf bestimmte Aspekte der Traumaerinnerung und die bihemisphärielle Stimulation wird die Wucht der Erinnerung attenuiert, sodass das Ergebnis einer Desensibilisierung bzw. Exposition entspricht.

Interventionen bei schwerer Dissoziation

Insbesondere bei schweren dissoziativen Störungen ist die Behandlung phasenorientiert (Fiedler 2009), d. h., es geht zunächst um Stabilisierung und Symptomreduktion. Erst dann folgt die Phase des Durcharbeitens bzw. konfrontativer Techniken, an die sich zuletzt die Integration der Identitätsanteile anschließt.

Ähnlich wie bei der DIS gilt auch für die komplexe PTBS, dass ein fortwährendes und frühes Trauma die Pathogenese auslöst. Im Gegensatz zur „einfachen“ PTBS gilt der Leidensdruck bei kPTBS als noch einschneidender, nicht nur, weil die Affektregulation und die Körperwahrnehmung betroffen sind, sondern auch weil pathologische Dissoziation und Somatisierung sowie häufig – als qualitativer Ausdruck des Leidensdrucks – Suizidalität die Bewältigung erheblich erschweren (Cloitre et al. 2014). Aus diesem syndromalen Profil ergibt sich schon die Unkontrollierbarkeit bzw. die überwältigende Natur dissoziativer Störungen, deren heftige und vielfältige Symptomatik genuin schwer oder nicht reguliert werden kann. Auch aus diesem Grunde ist die Vermittlung eines Gefühls von Sicherheit und Gefahrlosigkeit ein wichtiges und grundlegendes Element der Behandlung. Dies ist aber kein passiver Akt für die Betroffene, sondern ein Anlass, die eigenen Verhaltensgewohnheiten auf ihre „Gefährlichkeit“ bzw. Risikogeneigtheit hin zu überprüfen. Dies beinhaltet z. B. die reflexive Introspektion zur Identifikation entsprechender Identitätsaspekte, die die riskant steuernde Funktion innehaben. Hinsichtlich der bei Traumatisierten so häufig ausgeprägten Süchte entwickeln Betroffene in der Stabilisierungsphase ein kritisches Bewusstsein und idealerweise eine Überwindungsmotivation hinsichtlich solcher heillosen Kompensationsversuche. Weiterhin hat gerade diese Phase eine sozialpsychiatrische und soziotherapeutische Komponente, wenn beispielsweise Sachverhalte mit Behörden zu klären sind, wenn eine Distanzierung zu Milieus oder ggf. auch geschützte Therapiesettings in Erwägung zu ziehen sind, oder wenn der therapeutische Fokus dringend auf akute, u. U. lebensbedrohliche Probleme, wie z. B. Anorexia nervosa, gelegt werden muss (International Society for the Study of Trauma and Dissociation, ISSTD, 2011).

Von der Vermeidung bzw. Eindämmung lebensbedrohlichen Verhaltens abgesehen, umfasst die Stabilisierung auch die Begrenzung „therapiegefährdenden“ Verhaltens, was eine dramatisierende Beschreibung ambivalenter und abwehrender Haltungen (die sich in Zu-spät-Kommen etc. äußern kann) darstellt. Ferner zählt zum initialen Gleichgewicht die Stabilität der Lebensverhältnisse, die vor einer traumafokussierenden Behandlung herzustellen ist (ISSTD 2011).

Die eigentliche Behandlungsphase ist dynamisch und hierarchisch strukturiert. Dabei kann die Traumabehandlung als Expositionstherapie angesehen werden, die allerdings sorgfältig zu planen ist. In der dialektisch-behavioralen Tradition werden die getroffenen Vereinbarungen vertraglich zwischen den Parteien fixiert. Zudem wird der Umgang mit emotionalen bzw. affektiven Reaktionen gebahnt, etwa im Hinblick auf die bei Traumatisierten so habituierten Scham- und Schuldgefühle. Zur Anwendung können kognitive Strategien mit dem Ziel der Umstrukturierung kommen (beispielsweise Disputation oder Advocatus-Diaboli-Technik; Steil et al. 2015). Dissoziative Symptome sollten zudem tagebuchartig dokumentiert werden. Starke sensorische Reize aus dem DBT-Instrumentarium dienen der Unterbrechung dissoziativer Symptomgeneration. Ein beherzter Biss in die Chilischote kann über einen intensiven Sinneseindruck das dissoziative bzw. dissoziierte Bewusstsein quasi überschreiben und so die Erfahrung von Kontrolle über den ansonsten überwältigenden Dissoziationssturm ermöglichen. Im Zuge der eigentlichen antidissoziativen Behandlung ist es wichtig, zwischen dem tatsächlichen Grund der Misere (dem Trauma) und seinen geistigen, psychischen, emotionalen und sensorischen Korrelaten zu unterscheiden. Auch wenn bestimmte Wahrnehmungen posttraumatische Symptome auszulösen imstande sind, handelt es sich nicht um ein reales Trauma. Die Exposition erfolgt graduiert und flankiert durch den Einsatz der zuvor eingeübten und perfektionierten Skills und verfolgt so das Ziel der Habituation.

Eine weitere Sphäre der Behandlung ist die Partizipation im Sinne einer freien und wunschgemäßen Entfaltung, wie sie sich beispielsweise auf das Führen einer Liebesbeziehung oder aber auf eine berufliche Tätigkeit beziehen kann. Diese Errungenschaften können ihrerseits durch eine Steigerung der interaktionellen Kompetenzen ermöglicht werden. Wie i. Allg. dient die therapeutische Beziehung als Übungsfeld und Kristallisationspunkt vielfältiger, mit der Traumatisierung verbundener negativer Übertragungen, wie z. B. ausgeprägten Misstrauens. Dieses markiert traumatische Erfahrungen bzw. ist den Erinnerungen daran kongruent, sodass seine Auflösung auch nähephobische bzw. zwischenmenschlich vermeidende Tendenzen überwinden helfen kann. Generell erfordert die Behandlung traumatisierter Menschen ein gewisses Maß an Flexibilität, und das Herangehen kann am ehesten als eklektizistisch verstanden werden, d. h., es handelt sich nicht um eine orthodoxe Anwendung bestimmter Schulen, sondern um eine Kombination verschiedener Behandlungsformen. Dabei beziehen sich auch Kontraindikationen auf die unterschiedlichen Behandlungsformen, etwa übermäßige Konfrontation im Hinblick auf Verhaltenstherapie, und übermäßige Deutung im Hinblick auf psychodynamische Therapie. Als psychodynamische Therapien geeignet erscheinen beispielsweise stabilisierende Therapien wie die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (Reddemann 2009), in der Deutungen gemieden sowie Selbstregulation und Ressourcen gestärkt werden. Die KVT ist auch als Frühintervention geeignet, d. h. bei akuter Belastungsreaktion (Flatten et al. 2011). Allerdings ist in Bezug auf Bedarfe bei chronifiziertem Verlauf einschränkend zu ergänzen, dass sich einer aktuellen Metaanalyse zur Therapie der dissoziativen Störungen zufolge (Ganslev et al. 2020) keine Empfehlung ableiten lässt, entweder, weil sich für das untersuchte therapeutische Verfahren keine Wirksamkeit zeigte (z. B. Psychoedukation), oder weil der Evidenzgrad als sehr niedrig eingeschätzt worden ist. Damit verbinden die Autoren die Schlussfolgerung, dass in diesem Feld mehr Studien unternommen werden sollten. Ferner lassen sich in Bezug auf die Behandlung spezifischer dissoziationsgeneigter Entitäten, wie PTBS oder Borderline-Persönlichkeit, die jeweiligen durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) koordinierten Leitlinien konsultieren.

Fallbeispiel

Der 47-jährige Patient berichtete von täglichen Panikattacken, chronischer Niedergeschlagenheit und Rückzug. Sein Umzug führte ihn in eine fremde Stadt und somit in die soziale Isolation – analog zur bisherigen, sehr einsamen Lebenssituation. Eine weitgehende Desintegration in sozialer und beruflicher Hinsicht infolge seiner langjährigen Krankengeschichte hatte lange bestanden. im Jahr 2005 wurde eine Colitis ulcerosa diagnostiziert. Eine vor diesem Hintergrund indizierte Kortisongabe resultierte in 4 Wirbelkörperfrakturen und einer stationären Behandlung (> 1 Jahr) sowie dem Bezug einer EU-Rente. Der Sohn einer Dekorateurin und eines Kaufmanns war als Kind seitens beider Eltern Herabwürdigungen und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Mit 8½ Jahren erlebte er einen Amoklauf an einer hessischen Schule. Unvermittelt hatte der Täter den Lehrer erschossen; weitere Tote waren zu beklagen. Nach dieser horrenden Erfahrung zog die Familie in eine Nachbarstadt, und der Patient wechselte die Schule. Zu Hause sei das Ereignis totgeschwiegen worden. Erst im Alter von 20 habe er, aufgrund eines irritierenden Albtraumes, wieder daran gedacht. Erstmals habe er sich angesichts seines nun einsetzenden Leidensdruckes in psychiatrische Behandlung gegeben, Sertralin habe nicht geholfen. Nach dem Abi zog er in eine Metropole, wo er ein journalistisches Studium abschließen konnte, ohne jedoch Anschluss und Freunde zu finden. Während des Studiums sei die Kolitis ausgebrochen – für eine berufliche Laufbahn zu instabil, habe er sich dessen auch zunehmend vor Ämtern und Behörden geschämt. Die hohen Lebenskosten der Metropole veranlassten ihn zum Umzug in die Provinz. Die COVID-19-Pandemie hat ihn sehr verängstigt.

Die Diagnostik zeigte eine kPTBS in kriteriumsgemäßer Ausprägung, die Impact of Event Scale keine PTBS, und zusätzlich gab der Patient folgende dissoziative Symptome im FDS an:

  • veränderte Handschrift;

  • sensible Störungen,

  • Selbstgespräche,

  • Erleben eigentlich fremder Kompetenzen und

  • Fugue.

Im CTQ erwies sich der emotionale Missbrauch als gravierende Bürde. Auf der Achse I waren hinsichtlich der emotionalen Auslenkung eine depressive Episode und hinsichtlich der beklagten Panikattacken eine Panikstörung nicht zu übersehen. Infolge der Kolitis und der Wirbelkörperfrakturen bestehende Körperbeschwerden, insbesondere Schmerzen, verweisen auf eine somatoforme Dimension der Erkrankung.

Insgesamt erweisen sich die gesundheitlichen Schäden als chronische Traumafolgen, wobei die Kindheitstraumatisierung eine Vulnerabilität erzeugt hat, auf deren Grundlage die Auswirkungen des miterlebten Amoklaufes umso verheerender waren. Der Fokus der stationären Behandlung liegt auf der „Entschämung“ und Überwindung interaktioneller Hemmnisse sowie der sozialen Integration.

Fazit für die Praxis

  • Dissoziative Symptome sind in der Allgemeinbevölkerung, aber auch bei psychischen, psychosomatischen und psychiatrischen Störungen häufig und gelten – wie die kategorialen dissoziativen Störungen – als traumaassoziiert. Verbunden damit ist die Funktionalität als Abwehr(-mechanismus), die eine psychodynamische Relevanz der Dissoziation nahelegt.

  • In jedem Fall sollten die dissoziativen Erscheinungen und Störungen im Rahmen der Diagnostik und Therapieplanung grundlegende Beachtung finden, selbst dann, wenn es zunächst vordergründig um andere Problemstellungen gehen mag.

  • Die Behandlung sollte psychotraumatologisch informiert erfolgen und individualisiert sein. Das Vorgehen ist einvernehmlich mit der betroffenen Person vereinbart und sollte nach Möglichkeit evidenzbasiert sein, auch wenn zu diesem Zwecke die Basis dieser Evidenz verbreitert und möglicherweise das differenzialpathogenetische Verständnis innerhalb des dissoziativen Symptomspektrums erweitert werden sollte.