Hintergrund

Psychotherapieschäden können entstehen, wenn es zu Nebenwirkungen einer korrekt durchgeführten Psychotherapie (PT) kommt, aber auch, wenn in einer PT Behandlungsfehler gemacht werden. Eine Gruppe solch schädigender Behandlungsfehler sind die Verletzungen von Grenzen. Untersuchungen haben gezeigt, dass dann verschiedene Formen von Grenzverletzungen ineinandergreifen. Es finden sich etwa narzisstischer, sexueller oder finanzieller Missbrauch nebeneinander, soziale Grenzen werden missachtet, die Schweigepflicht wird verletzt (Schleu 2019, 2021). Diese Grenzverletzungen kommen auch in Lehrtherapien vor, im Besonderen wird von AWT vermehrt über Verletzung der Schweigepflicht berichtet (Schleu 2021). In einer qualitativen Studie soll untersucht werden, auf welche Weise der Ausbildungskontext oder eine Institutsanbindung in diese schweigepflichtverletzenden Verläufe hineingewirkt hat.

Die Besonderheiten von grenzverletzenden Lehrbehandlungen sind – im Gegensatz zu Heilbehandlungen – noch weitgehend unbeleuchtet (Schleu 2019, 2021). Die „institutionalisierte Lehranalyse“ ist zwar problematisiert worden; systematische Untersuchungen fehlen hingegen (Gabbard 2017; Thorwart 2015b; Tibone und Schmieder-Dembeck 2015; Treurniet 1992), ebenso Hinweise, die sich auf Grenzverletzungen in Lehrtherapien anderer Verfahren beziehen.

In der Diskussion steht v. a. das Beziehungsgeflecht, in dem AusbildungskandidatFootnote 1 und Lehranalytiker/-therapeut sich innerhalb eines Instituts befinden (z. B. Thorwart 2015b; Gabbard 1999; Herrmann 2014; Kernberg 2012). Es trage zu hinderlichen, unauflösbaren Identifikationen und Idealisierungen bei und könne die Vulnerabilität für (sexuelle) Grenzverletzungen erhöhen (Thorwart 2015b; Tibone und Schmieder-Dembeck 2015; Frank 2017; Pflichthofer 2017). Auch zeigt sich in der quantitativen Auswertung der Beratungsdaten des Ethikvereins, dass AWT im Vergleich zu Patienten nahezu ebenso unter Verletzung der Basisvariablen in der Lehrtherapien klagen und darüber hinaus auch sogar vermehrt Schweigepflicht- und Befangenheitsprobleme beschreiben (Schleu 2021). In diesem Zusammenhang erweist sich das Konzept der „multiplen Rollen“ (Gabriel 2005) als hilfreich. Gabriel hat anhand empirischer Untersuchungen „multiple Rollen“, die Psychotherapeut und Klient füreinander einnahmen, als Risikofaktor für Störungen und Entgleisungen der Behandlung differenziert.

Angesichts der Hinweise auf eine den Psychotherapiepatienten ähnlich große Vulnerabilität wird vorgeschlagen, Aus- und Weiterbildungsteilnehmende (AWT) im Ausbildungsbetrieb analog zu Patienten im Gesundheitssystem gemäß den medizinethischen Prinzipien nach Beauchamps (2019) zu behandeln (Tibone und Schmieder-Dembeck 2015; Kahl-Popp 2007). Das bedeutet, AWT zu schützen, indem die Prinzipien der Autonomie (durch Information und fehlende Einflussnahme auf Entscheidungen), Fürsorge, Nichtschädigung und Gerechtigkeit institutionell verankert und umgesetzt werden. Die Veränderungsvorschläge zentrieren sich bislang hauptsächlich auf den Lehranalytiker – seine Ausbildung, Trianguliertheit und Unabhängigkeit vom Ausbildungsinstitut. Auch wird über eine Abschaffung der institutsangebundenen Lehranalyse nachgedacht und eine Demokratisierung der Institute gefordert (z. B. Kahl-Popp 2007; Thorwart 2015b; Pflichthofer 2017; Kernberg 2012). Damit werden die Prinzipien „Fürsorge“ und „Nichtschädigung“ berücksichtigt.

Verschwiegenheit in Lehranalysen und Lehrtherapien und ihre Verletzung

Aus behandlungstechnischer Sicht wird die Verschwiegenheit des Psychotherapeuten als Grundbedingung für das Gelingen eines therapeutischen Prozesses dargestellt (Burka 2008). Verletzungen dieser „Verschwiegenheitshülle“ (Furlong 2005) bewegen sich auf einem Kontinuum, sobald aus Behandlungen berichtet wird, ohne dem Behandlungsziel selbst dienlich zu sein (Burka 2008; Lander 2003; Goldberg 2004).

Es ist nun naheliegend, an der Einhaltung dieser Verschwiegenheit zu zweifeln, wenn Behandler und Behandelter sich im selben komplexen Rollengefüge eines Ausbildungsinstituts bewegen (Thorwart 2015a). Die Hälfte von 171 befragten AWT berichtete solche Zweifel für ihre Lehrtherapie (Wiegand-Greve und Schuhmacher 2006).

Insbesondere der Rollenkonflikt des Lehranalytikers, gleichzeitig „Lehrender“ und „Analytiker“ zu sein, kann im Eitingon-Modell (Bohleber 2019) problematisch für die Verschwiegenheit sein. Ein als ungeeignet empfundener Kandidat kann nicht guten Gewissens und im Einklang mit der Verpflichtung dem Institut gegenüber zum Therapeuten ausgebildet werden. Ethikleitlinien (DPG und DGPT Ethik-Leit-Linien 2017) empfehlen, lediglich die Beendigung der Lehranalyse mitzuteilen und auf Begründungen zu verzichten. Neben dieser besonderen Konflikthaftigkeit wird eine Reihe von psychodynamischen Thesen zur Genese von Schweigepflichtverletzungen formuliert. Hier geht es um Überforderung, z. B. Macht- und Racheimpulse zu halten oder sich „unverdaulichen Materials“ zu entledigen (Burka 2008; Lander 2003; Goldberg 2004; Thorwart 2015a).

In Einzelfallstudien werden destruktive Folgen der Verschwiegenheitsverletzung dargestellt: Sie kann Verrat, abrupten Verlust einer idealisierten Beziehung oder Wiederholung eines frühen Beziehungstraumas bedeuten (Burka 2008).

Fallveröffentlichungen von Lehranalysen

Verschiedentlich wird von Psychoanalytikern darauf verwiesen, dass Veröffentlichung von Fallmaterial für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse unabdingbar für die Theorie- und Konzeptionsentwicklung sei und der Konflikt mit dem Verschwiegenheitsgebot darum unauflösbar sei, bestenfalls gehe es um Schadensbegrenzung (Stimmel 2013). Empirische Daten beschreiben einen möglichen erheblichen Einfluss einer Fallveröffentlichung auf den jeweiligen Lehranalysanden, sowohl in narzisstisch gratifizierender als auch in destruktiver Weise (Kantrowitz 2005).

Auf die ethischen Standards für gute klinische Forschungspraxis, (z. B. Deklaration von Helsinki 2013) wird in dieser Diskussion kein Bezug genommen. Nach diesen Standards haben Patientenrechte – ausdrücklich das Recht auf Integrität und Vertraulichkeit – eindeutig Vorrang vor dem Wissenschaftsinteresse. Ein Abhängigkeitsverhältnis belaste dabei die Einwilligungsfähigkeit des Patienten und erfordere den Einbezug von Dritten. Übertragungsgeschehen und Ausbildungserfordernisse legen nun unschwer die besondere Abhängigkeit eines AWT von seinem Lehrtherapeuten nahe (Thorwart 2015; Goldberg 2004; Lander 2003). Die Ethikleitlinien der meisten Berufsverbände von Psychoanalytikern im deutschsprachigen Raum (z. B. DGPT, VaKJP, DGIP, Stand 04/2021) beinhalten, dass Publikationen die Schweigepflicht berücksichtigen sollen. Zur besonderen Situation der AWT wird keine Stellung genommen.

Da eine Fallveröffentlichung nicht dem Fortschritt der Behandlung dient, sondern einem persönlichen Interesse des Behandlers, wird sie grundsätzlich als potenzielle Abstinenzverletzung oder Agieren verstanden (Thorwart 2015a; Goldberg 2004).

In der vorliegenden Arbeit werden Beschwerden über Schweigepflichtverletzungen untersucht, die in einem Ausbildungskontext stattgefunden haben. Es wird untersucht, in welchen konkreten Aspekten der Ausbildungskontext den problematischen Behandlungsverlauf – positiv oder negativ – beeinflusst hat. Die Frage, welche strukturellen Faktoren die Autonomie von Ausbildungskandidaten besser schützen könnten (i. S. Beauchamps 2019), geriet im Auswertungsprozess zunehmend in den Fokus.

Material und Methode

Es werden alle – strikt anonymisierten – Dokumentationen von Beratungsfällen des Ethikvereins e. V. (der Ethikverein bietet ein niederschwelliges Beratungsangebot bei Fragen zu Grenzverletzungen in der Psychotherapie an, detaillierte Darstellung z. B. in Linden und Strauss 2018; www.Ethikverein.de) zwischen 2006 und 2020 ausgewertet, in denen von einer Schweigepflichtverletzung in einem Ausbildungskontext berichtet wird.

Zur Dokumentation des Beratungsverlaufs gehören strukturierte Zusammenfassungen von Beratungsgesprächen (von den Beratenden angefertigt) sowie Mailverkehr mit den Ratsuchenden, schriftliche Beschwerden bei einem Institut oder Berufsverband und Gesprächsprotokolle über moderierte Klärungsversuche.

Mit einem qualitativen Untersuchungsansatz sollen Hypothesen und Ideen generiert werden, die das Verständnis von grenzverletzenden Verläufen in Lehrtherapien/-analysen erweitern können. Es werden die Vorschläge von Charmaz (2014) aus „constructing grounded theory“ aufgegriffen und die Verweise der „reflexive grounded theory“ (Breuer et al. 2019) v. a. auf die gewinnbringende Reflexion der Gegenübertragungen der Untersucher auf das Material berücksichtigt.

Das Textmaterial wurde in MAXQDA eingepflegt. Es wurde ein Prozess vom initialen, sequenziellen Kodieren bis hin zur Entwicklung von Kernkategorien mit Anreicherung durch Subkategorien durchlaufen. Dies wurde kontinuierlich durch die Arbeit in einer Kodiergruppe, die im Mehraugenprinzip zu konsensualem Urteil fand, begleitet.

Ergebnisse

Von insgesamt 48 Beratungsfällen aus Ausbildungskontexten der Richtlinienpsychotherapieverfahren befassten sich 18 mit Schweigepflichtverletzungen (1 VT, 7 TfP, 10 PA). In keinem Fall war dies die einzige Form von Grenzverletzung – oft aber diejenige, die dem Ratsuchenden als Erstes zugänglich wurde.

Die Beratungen umfassten bis zu 20 Kontakte über einen mehrjährigen Zeitraum und fanden überwiegend per Telefon und E‑Mail, in Ausnahmesituationen auch in Präsenz, statt. Es wurden sowohl AWT (12) als auch Lehrende (6) als Lehrtherapeut oder Supervisor beraten. Die AWT hatten selbst Grenzverletzungen erlebt, während die Lehrenden als Beobachter von Grenzverletzungen Rat suchten oder vermeiden wollten, in einer problematischen Situation selbst Grenzen zu verletzen. Unter den Ratsuchenden waren 17 Frauen und ein Mann.

Im Sinne der Reflexive grounded theory wurden die Gegenübertragungsphänomene der Untersuchenden stetig reflektiert. So versuchten wir, über eine Dezentrierung die Gegenübertragungseffekte auf den Kodierprozess zu relativieren und so das Verständnis des Materials anzureichern. Dies waren v. a. polarisierende Empörung und Verurteilungstendenzen über die Grenzüberschreitungen, aber auch Pathologisieren des Ratsuchenden oder Nicht-glauben-Können der Schilderungen („Das ist doch jetzt wirklich paranoid“). Auch trat das Phänomen einer Schuldumkehr auf, mit dem Empfinden, Beschuldigte schützen zu müssen, indem Details weggelassen werden („Darüber kann ich aber nicht schreiben“).

Aus den im sequenziellen Kodieren entstandenen 381 Kodes wurden 4 Kernkategorien generiert – drei bilden ausbildungsspezifische Situationen ab, in denen es zur Schweigepflichtverletzung kam, nämlich Eignungszweifel, Publikationswunsch und institutionelle Toleranz von Grenzverletzung. Die vierte Kernkategorie bildet den Klärungsversuch ab, den der Betroffene mit dem Institut unternimmt. Aus den initialen Kodes wurden weitere Kategorien (37) gebildet, die die Kernkategorien anreicherten. Die Kategorien „Schweigepflichtverletzung geht mit weiteren Grenzverletzungen einher“, „Probleme durch multiple Rollen des Lehrtherapeuten“, „schwierige Behandlungssituation geht der Schweigepflichtverletzung voraus“ kamen in allen Kernkategorien vor (Beispielauszug aus dem Kodesystem: Tab. 1).

Tab. 1 „Grenzverletzungen im Institut“ – Auswahl an Subkategorien und Textbeispiele

Im Folgenden werden die Kernkategorien mit einigen ausbildungsspezifischen Subkategorien anhand pseudonymisierter Fallvignetten dargestellt.

Schweigepflichtverletzungen im Zusammenhang mit Eignungszweifeln

Die Kernkategorie „Eignungszweifel“ umfasst Beratungen, in denen Eignungszweifel des Lehrtherapeuten als zentrales Problem des schwierigen Behandlungsverlaufs geschildert werden. Die Schweigepflichtverletzung besteht in einer gezielten Mitteilung über die Eignungszweifel an Außenstehende, um in den Ausbildungsverlauf einzugreifen.

Der Verlauf dieser Lehrtherapien ist zunächst vom misslungenen Gespräch über die Eignungszweifel geprägt. Die Eignungszweifel werden als Entwertung erlebt, und der Kandidat fühlt sich verwirrt und ohnmächtig. Die reale Abhängigkeit vom Lehranalytiker, das Ausbildungsziel zu erreichen, wird spürbar. Übertragungsaspekte und reale Aspekte sind für den Kandidaten kaum mehr unterscheidbar. Im ungünstigsten Fall versucht der Lehrtherapeut in dieser Situation, im Außen aktiv handelnd in den Ausbildungsverlauf einzugreifen, und geht dabei über die vorgesehene Mitteilung über eine Beendigung der Lehranalyse an das Institut hinaus:

Eine Lehrtherapeutin geht auf den Wunsch ihrer Ausbildungskandidatin ein, eine Supervision nach dem Ende der Selbsterfahrung zu übernehmen. Nun ist die Lehrtherapeutin unzufrieden mit ihr. Sie fordert von ihr, in einem erneuten Selbsterfahrungsprozess bei ihr ihre „Defizite“ aufzuholen. Die Kandidatin fühlt sich entwertet, ohnmächtig und verwirrt. Sie versteht nicht, was an ihr kritisiert wird. Sie ist weder über die Strukturen an ihrem Institut noch über die Problematik dualer Rollen informiert und kann die Machtkonstellation und die Schweigepflichtproblematik nicht erfassen und sich daher auch nicht vor der Verstrickung schützen. (E‑3 „Konfusion“)

Im Rahmen einer entgleisten Lehranalyse wünscht die Lehranalytikerin, in die Lebensführung ihrer Analysandin einzugreifen. Sie ist überzeugt davon, dass die von ihr gestellte Diagnose mit einer psychotherapeutischen Berufstätigkeit unvereinbar sei. Zugleich gelingen der Analysandin aber berufliche Karriereschritte mühelos, und sie empfindet ihre psychotherapeutische Tätigkeit als bereichernd. Die beim selben Arbeitgeber beschäftigte LA (Lehranalytikerin) informiert den Vorgesetzten der Analysandin über ihre Einschätzung und empfiehlt, sie nicht weiter als Psychotherapeutin zu beschäftigen. Mit etwas Abstand konnte die ratsuchende Kandidatin zahlreiche Grenzverletzungen benennen, die sie erfahren hatte. (E-7)

Ein Ratsuchender berichtet, erst im Nachhinein von den Eignungszweifeln seines LA erfahren zu haben, der die Analyse beendet hatte, aber seine inhaltlichen Bedenken im Institut öffentlich gemacht hatte. („Verleumdungen“ E‑4)

Schweigepflichtverletzung durch veröffentlichte Falldarstellungen

Die Untersuchung dieses Fallmaterials verweist auf die – gegenüber „fachfremden“ Analysanden – erhöhte Vulnerabilität von Ausbildungskandidaten, deren Lehranalytiker eine Fachveröffentlichung über die Lehranalyse verfassen möchte, denn eine Anonymisierung erscheint angesichts der sozialen Nähe zur potenziellen Leserschaft nahezu unmöglich:

Eine Ratsuchende berichtet, sie zweifle an der Effektivität einer Anonymisierung. Sie gehe davon aus, dass Kollegen am Institut sie recht mühelos in der Veröffentlichung wiedererkennen können. (P-1)

Die Problematik der Anonymisierung kommt auch im Fall eines Beschwerdeverfahrens zum Tragen, wenn sensible biografische Details in der Veröffentlichung erwähnt sind:

Eine Betroffene entscheidet sich gegen Einreichung einer Beschwerde wegen Verletzung der Schweigepflicht durch eine Veröffentlichung, der sie nicht zugestimmt hatte. Sie fürchtet, sich weiterer Beschädigung auszusetzen, da sie in einem Beschwerdeverfahren ja selbst die Anonymisierung der veröffentlichten Details aus ihrer Biografie endgültig aufheben würde. Zudem fühlt sie sich durch die Publikation pathologisiert und geht davon aus, man würde ihr kaum Glauben schenken, wenn sie gegen einen erfahrenen Lehranalytiker aussagen würde. (P-2)

Schweigepflichtverletzungen innerhalb einer Institutskultur, die Entgrenzungen aufweist

Einige Schweigepflichtverletzungen waren in eine Vielzahl von scheinbar „alltäglichen“ und „harmlosen“ Grenzverletzungen im Miteinander am Institut eingebettet. Die Schwierigkeiten von Rollenüberschneidungen kommen hier besonders zum Tragen; Problembewusstsein und das Bemühen, mit Rollenüberschneidung verantwortlich umzugehen, fehlen. Kandidaten erleben die Zeugen der Schweigepflichtverletzung als unbeteiligt (Tab. 1).

Eine Kandidatin schildert, dass ihr Lehranalytiker die Lehranalyse abgebrochen habe, nachdem sie versucht habe, ihm ihre emotionale Überforderung in der Analyse mitzuteilen. Im Nachhinein habe sie von Mitkandidaten erfahren, dass der Lehranalytiker während der problematischen Behandlungsphase den Teilnehmern einer Gruppenselbsterfahrung, die er leitete, persönliche Details aus ihrer Behandlung mitgeteilt habe. (G‑8 „die Analyse ist die Hölle für mich!“)

Eine andere Kandidatin beschreibt, Kontrollverlust und Ohnmacht seien schwer zu ertragen, da sie erfahren habe, dass über ihre Schwierigkeiten in der Lehrtherapie am Institut gesprochen würde, sie aber nicht wisse, welche Einzelheiten weitergegeben und welche Personen involviert seien. (G‑1 „das Institut weiß Bescheid“)

Die institutionelle Abwehr

Einige Kandidaten und Lehrende versuchten, die erlebten Grenzverletzungen mit dem Institut zu klären. Diese Bemühungen waren in keinem der untersuchten Fälle erfolgreich. Die Kollegen in den zuständigen Gremien nahmen die Grenzverletzungen oft nicht wahr. Stattdessen kam es zu Streit und Spaltungsprozessen. Gremien am Institut schützten den Beschuldigten, und manchmal kam es dazu, dass der Beschwerdeträger ausgegrenzt oder angegriffen wurde. Die Betroffenen empfanden dies als Verrat und fühlten sich persönlich erheblich beschädigt.

Eine Kandidatin berichtet, zwar ein erfolgreiches Schiedsverfahren im Berufsverband angeregt zu haben, aber im Heimatinstitut kein Gehör für ihre Grenzverletzung erfahren zu haben. Das Institut habe den Lehranalytiker geschützt und seine fortgesetzten Schweigepflichtverletzungen offensichtlich ausgeblendet. (P-1)

In einem anderen Fall geht die institutionelle Abwehr so weit, dass in Erwägung gezogen wird, ein den beschuldigten Lehranalytikerkollegen belastendes juristisches Gutachten beiseitezulegen. Man könne vielleicht beschließen, das Gutachten habe es nie gegeben und keine Konsequenzen daraus zu ziehen. (G-7)

Folgen der dysfunktionalen Lehrtherapien

Den dargestellten Vignetten ist die emotionale Belastung der Ratsuchenden inhärent. In allen untersuchten Fällen war die Fortsetzung der Lehrtherapie allenfalls bei einem anderen Lehrtherapeuten oder einem anderen Ausbildungsinstitut möglich. Einige Betroffene schilderten eine so große Symptomlast, dass sie sich zunächst einer Heilbehandlung unterziehen mussten. Das Erreichen des Ausbildungsziels verzögerte sich. Es kam ebenfalls zur Aufgabe des Berufsziels, was nicht einer Einsicht in eine etwaige fehlende Eignung geschuldet war, sondern der Entlastung dienen sollte. Die mangelnde Resonanz der mitwissenden Kollegen und der Institute wurde als ein weiterer Verrat erlebt und vertiefte die bereits erlittene persönliche und berufliche Beschädigung.

Zusammenfassung (Abb. 1)

  1. 1.

    Den untersuchten schwierigen Lehrbehandlungsverläufen war gemeinsam, dass neben der Schweigepflichtverletzung weitere Grenzverletzungen auftraten: Es wurden ebenso Empathieverlust mit Entwertung sowie Pathologisierung, Machtmissbrauch und nichtsexuelle Abstinenzverletzungen beobachtet.

    Abb. 1
    figure 1

    Grenzverletzungen in Lehrtherapien: Bausteine zu Prävention und Risiko

  2. 2.

    Anhand der untersuchten Verläufe konnte beobachtet werden, dass Grenzverletzung und Verstrickung in Lehrtherapien in Wechselwirkung mit einem institutionellen Kontext stattfanden. Problematisch waren dabei: Eignungszweifel, Publikationswunsch, der Umgang mit multiplen Rollen und mit einer Institutskultur, die Grenzverletzung toleriert, sowie die nachfolgenden Klärungsversuche mit dem Ausbildungsinstitut.

  3. 3.

    Betroffenen waren in diesen schwierigen Situationen explizierende Handlungsleitlinien meist nicht zugänglich. Kandidaten waren über die Problematik multipler Rollen und über die Besonderheiten in Lehrtherapien nicht informiert. Dies erhöhte ihre Vulnerabilität und schränkte ihren Handlungsspielraum ein. Sie waren in ihrer Autonomie durch die fehlende Aufklärung eingeschränkt.

  4. 4.

    Betroffene Institute hatten für die genannten Situationen meist nur bedingt hilfreiche Strukturen und Verfahrensregeln aufgestellt, oder solche Regeln waren am Institut nicht verinnerlicht und handlungsleitend. Allgemein gehaltene Regeln waren im Krisenfall dann nicht ausreichend.

Diskussion und Limitationen

Die Untersuchung bezog sich auf Dokumentationen von Beratungsverläufen, somit ist die Qualität dieser Dokumentationen auch ein limitierender Faktor für die Ergebnisqualität. Eine Gefahr in der Beratung ist es, dass die subjektive Einfärbung des Erlebens der Ratsuchenden die Beratenden veranlasst, die Gesamtsituation analog dazu verzerrt wahrzunehmen und zu dokumentieren. Wir konnten dieses Risiko nicht ausschalten, aber relativieren, durch die klinische Erfahrung der Berater (+ 10 J Berufserfahrung, oft Mitarbeit in versch. Ethikkommissionen und Gremien), durch Gruppensupervision, durch die nach Möglichkeit „multiperspektivisch“ angelegten und halbstandardisierten Dokumentationen und die längeren Beratungsprozesse. Hinweise im Textmaterial auf verzerrende Darstellungen wären kodiert worden, traten aber nicht auf.

Unsere Ergebnisse stimmen mit der Literatur in mehreren Aspekten überein: Grenzverletzende Behandlungen sind oft ein komplexes Geschehen mit verschiedenen ineinandergreifenden Formen der Grenzverletzung (Schleu 2021). Die Beobachtung, dass Schweigepflichtverletzungen in schwierigen Behandlungssituationen auftreten, fand im vorliegenden Material Bestätigung (Lander 2003). Auch die Dynamik einer institutionellen Abwehr kam im Fallmaterial zur Darstellung (Burka 2019; Gabbard 2001).

Unser Datenmaterial zeigt eine auffällige Häufung von Beschwerden über psychodynamische Lehrtherapien (17 AP/TP und 1 VT). Dies stimmt nicht mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen der Beratungsdaten zu anderen Fragestellungen überein. Bislang wurde kein Zusammenhang zwischen Therapieverfahren und Vorkommen von Grenzverletzungen festgestellt (Schleu 2021, S. 255). Unser Studiendesign lässt keine quantitative Datenanalyse zu, dennoch mag dieser Befund nachdenklich stimmen und regt zu weiterer Untersuchung an.

Bislang nicht in der Literatur beschrieben, ist der Mangel an „Autonomie“ (i. S. Beauchamps) in der Psychotherapie-Ausbildung, der in den untersuchten Fällen zur Darstellung kam. Es fehlten umfassende Aufklärung und explizierende Handlungsleitlinien, die Ausbildungsteilnehmer befähigen würden, sich selbst besser vor Grenzverletzung zu schützen. Die Frage der „Generalisierbarkeit“ dieses Befundes kann und will eine streng qualitative Studie i. S. der Grounded-theory-Methodologie nicht beantworten. Ihr Wert liegt vielmehr in ihrem Anregungscharakter, in der Praxis eine konkrete Ausbildungssituation einmal unter dem Aspekt zu betrachten, wieweit die Autonomie der AWT strukturell verankert und gefördert wird.

Schlussfolgerungen für die Praxis

Schweigepflichtverletzungen können als „red flags“ verstanden werden und zur Überprüfung der Behandlungssituation anregen.

AWT in Lehrtherapien sollten medizinethisch mit Patienten gleichgesetzt und geschützt werden, denn die Prozesse einer intensiven Selbsterfahrung sind vergleichbar mit denen einer Krankenbehandlung und können mit einer vergleichbar erhöhten Vulnerabilität einhergehen. Aufklärung über die Besonderheiten einer institutsangebundenen Lehrtherapie ermöglicht den AWT mehr Autonomie. Für AWT ist es bedeutsam, die Verzahnung von Ausbildungsziel und Selbsterfahrung zu verstehen, und über das Beziehungsgeflecht und multiple Rollen am Institut informiert zu sein. Dazu gehört auch ein transparentes Arbeitsbündnis, zumal – anders als in Heilbehandlungen – der Rahmen, wie die Dauer und das Ziel der Behandlung, nicht immanent, durch den Leidensdruck, sondern durch Faktoren außerhalb der Dyade vorgegeben sind.

Triangulierung als schützendes Prinzip in verstrickten Beziehungssituationen sollte Kandidaten ermöglicht werden, z. B. in Form von regelmäßiger externer Reflexion der Lehranalyse/-therapie. Im Rahmen einer solchen Reflexion könnten (noch zu entwickelnde) Instrumente (Fragebogen, Checklisten) genutzt werden, die die Qualität der Grenzen in der Behandlungsbeziehung erfassen helfen. Auch sollte die Möglichkeit, sich für einen institutsfernen Lehrtherapeuten zu entscheiden, selbstverständlich sein.

In Risikosituationen bieten explizierende detaillierte Handlungsleitlinien notwendige Orientierung für Ausbildungsteilnehmer und Lehrtherapeut. Allgemein gehaltene Begriffe und Formulierungen stellen in einer krisenhaften Situation eine Überforderung dar.

Beispielsweise benötigt die „Non-reporting-Regel“ Ausführungen: Wer berichtet wann was an wen? Welche begleitenden Maßnahmen sollen wie umgesetzt werden: Intervision, Kandidatengespräch, Umwandlung in Heilanalyse, Wechsel des Lehrtherapeuten?

Für den Fall eines Publikationswunsches des Lehrtherapeuten ist wichtig festzulegen: Wer klärt den Kandidaten – vor Beginn der Lehrtherapie – über die Risiken und das Prozedere einer Veröffentlichung auf – oder wird eine Veröffentlichung institutsseitig sogar ausgeschlossen?

Detaillierte, explizierende Handlungsleitlinien können auch der institutionellen Abwehr im Fall einer Grenzverletzung vorbeugen, indem z. B. explizit festgelegt ist, wann externe Berater eingebunden werden.