Psychische Komorbiditäten bilden die Behandlungsrealität psychischen Leidens bei Depressionen ab. Mit dem Begriff Komorbidität wird das gemeinsame Auftreten mehrerer diagnostizierbarer Störungen in einem Individuum definiert (Klykylo 2002, S. 475). Um Behandlungsmethoden effektiv zu gestalten bzw. sie als evidenzbasiert bezeichnen zu können, sollten zugrunde liegende wissenschaftliche Untersuchungen das Vorliegen psychischer Komorbiditäten ausreichend berücksichtigen.

Komorbiditäten bei Depressionen

Studien mit depressiven Probanden legen nahe, dass das Vorliegen psychischer Komorbiditäten keine Ausnahme darstellt: De Graaf et al. (2002) berichten, dass bei lediglich 39,5 % der Patienten mit einer depressiven Erkrankung keine Komorbiditäten vorliegen. Hollon et al. untersuchten eine Stichprobe (n = 240), in der mehr als 80 % mindestens eine weitere psychische Störung aufwiesen (Hollon et al. 2005). Insgesamt variieren Prävalenzangaben in epidemiologischen Studien zu psychischen Komorbiditäten bei Depressionen zwischen 60 und 72,1 % (De Graaf et al. 2002; Kessler et al. 2003; Wittchen et al. 2010). Angsterkrankungen stellten dabei die häufigsten komorbiden Störungen dar (54,3–59,2 %) (De Graaf et al. 2002; Kessler et al. 2003).

Aus dem Vorliegen psychischer Komorbiditäten ergeben sich behandlungsrelevante Implikationen, da sie mit einem höheren Schweregrad, einer höheren Chronizität und folglich stärkeren Beeinträchtigungen einhergehen (Hofmeijer-Sevink et al. 2012). Daraus resultiert nicht nur die Relevanz, komorbide Störungen sorgsam mitzudiagnostizieren, sondern es erfordert auch eine angemessene Behandlung (Hofmeijer-Sevink et al. 2012). Westen et al. (2004) argumentieren, dass das Konzept der Manualisierung voraussetzt, dieselbe Technik sei für dieselbe Störungsdiagnose anwendbar, ungeachtet interindividueller Unterschiede wie Entstehung der Störung, Persönlichkeitsmerkmale oder komorbide Symptomatik. Sie sind der Meinung, dass diese Annahme jedoch nicht evidenzbasiert ist und daher nicht als Grundlage von Hypothesentests zu allen Behandlungsformen und allen Störungsbildern genutzt werden sollte (Westen et al. 2004, S. 636). Ziel der vorliegenden Arbeit ist, aktuelle Metaanalysen zur Wirksamkeit von Depressionsbehandlungen hinsichtlich des methodischen Einbezugs psychischer Komorbiditäten zu untersuchen.

Methodisches Vorgehen

Um beurteilen zu können, ob psychische Komorbiditäten in Studien zur Wirksamkeit von Depressionsbehandlungen ausreichend berücksichtigt wurden, wurden Prüfkriterien definiert, die in der vorliegenden Literaturübersicht auf die Studiendesigns von 17 deutsch- und englischsprachigen Metaanalysen angewendet wurden. Um den Umfang der narrativen Übersichtsarbeit zu begrenzen, wurden Studien mit einem Veröffentlichungsdatum vor 2000 ausgeschlossen und bis 2020 begrenzt, dem Jahr der aktiven Literaturuntersuchung dieser Arbeit. Psychische Komorbiditäten gelten in der vorliegenden Arbeit dann als ausreichend berücksichtigt, wenn sie systematisch als Variable definiert und mögliche Effekte anhand statistischer Berechnungen untersucht wurden. Dazu zählt auch die Erhebung anderer als depressiver Outcomes im Rahmen von Sekundäranalysen. Die Festlegung von Komorbiditäten als Ein- bzw. Ausschlusskriterium ohne weiterführende Effektanalysen wird hier als unzureichende Berücksichtigung kategorisiert.

In Tab. 1 werden die für die Literaturübersicht genutzten Datenbanken und verwendeten Schlüsselwörter aufgelistet. Von der Betrachtung ausgeschlossen wurden Studien, in denen Stichproben mit somatischen Erkrankungen als Erstdiagnosen hinsichtlich ihrer depressiven Symptomatik untersucht wurden.

Tab. 1 Auflistung verwendeter Literaturdatenbanken und Schlüsselworte für die Literatursuche

Ergebnisse zur Berücksichtigung von Komorbiditäten

Die Auswertung der Untersuchungsdesigns der Metaanalysen ergab, dass psychische Komorbiditäten in 4 von 17 Arbeiten ausreichend berücksichtigt wurden (Tab. 2). Psychische Komorbiditäten wurden in der Studie von Abbass et al. (2011) in Form eines Vergleichs zwischen komorbiden und nichtkomorbiden depressiven Stichproben berücksichtigt. Ihre Befunde weisen nach, dass psychodynamische Kurzzeittherapie bei Depressionen mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen (PKS) wirksam ist (Abbass et al. 2011). Cuijpers et al. (2009) führten einen Vergleich der Behandlungseffekte von verschiedenen Psychotherapien zwischen nichtkomorbiden Stichproben und komorbiden Stichproben durch. Dieser ergab eine Unterschiedlichkeit, die als Trend (p= 0,1) zu bewerten ist. Dabei fiel die Effektstärke in der komorbiden Gruppe größer aus als in der nichtkomorbiden Gruppe (dkomorbid= 0,49; dnicht komorbid= 0,24) (Cuijpers et al. 2009, S. 283). Eine 2016 publizierte Metaanalyse von Cuijpers et al. untersucht den Einfluss psychischer Komorbiditäten anhand der Effekte psychotherapeutischer Angst- und Depressionsinterventionen auf die Depressionsoutcomes von Angstpatienten. Die Befunde legen eine störungsunspezifische Wirksamkeit von Angstbehandlungen auf Depressionssymptome nahe (Cuijpers et al. 2016). Dies kann einerseits in einer hohen Koinzidenz zwischen Angst und Depression begründet sein. Andererseits veranlasst dieses Ergebnis die Autoren selbst dazu, das Diagnosekonzept generell infrage zu stellen (Cuijpers et al. 2016, S. 3461). Kasper und Dienel (2002) führten eine Clusteranalyse an 3 depressiven Stichproben durch. Cluster 1 umfasst die Kernsymptomatik einer Depression, Cluster 2 depressionsassoziierte Angst- und Schlafstörungen. Die Ergebnisse ihrer Studie bestätigen einerseits die Überlegenheit von Johanniskraut gegenüber der Einnahme eines Placebos für die Behandlung leichter bis moderater depressiver Symptome (Kasper und Dienel 2002, S. 301–305). Andererseits spiegeln die Ergebnisse wider, dass sich die Wirksamkeit im Sinne der Ansprechrate von Johanniskraut zwischen den zentralen Symptomen einer Depression (hier in Cluster 1 dargestellt) und depressionsassoziierten, komorbiden Symptomen (Cluster 2) unterscheidet (Kasper und Dienel 2002, S. 305).

Tab. 2 Prüfkriterien zum methodischen Umgang mit psychischen Komorbiditäten in ausgewählten Metaanalysen

Die unzureichende Berücksichtigung psychischer Komorbiditäten in den verbleibenden 13 Studien stellt sich einerseits dadurch dar, dass psychische Komorbiditäten in 3 Studien als Ausschlusskriterium definiert wurden (Tab. 2), in 4 Studien als Einschlusskriterium ohne ergänzende differenzielle Analyse des Effekts auf die untersuchten Outcomevariablen (Tab. 2) und in 6 Metaanalysen in keiner Form berücksichtigt wurden (Tab. 2). Eine nähere Betrachtung dieser 6 Metaanalysen (Tab. 2) führt zu dem Ergebnis, dass in mindestens einer der zugehörigen Primärstudien Komorbiditäten deskriptiv oder statistisch Teil der Untersuchung waren, obwohl Komorbiditäten aus den metaanalytischen Betrachtungen ausgeschlossen wurden.

Implikationen zum methodischen Umgang mit Komorbiditäten

Effektbefunde solcher Metaanalysen, die Komorbiditäten nicht mitberücksichtigen, belegen eine Wirksamkeit, unabhängig davon, ob komorbide Belastungen vorliegen oder nicht. Solche Wirksamkeitsnachweise sind insbesondere im Rahmen von Zulassungsstudien relevant. Außerdem ist es bei der Durchführung randomisierter kontrollierter Studiendesigns (auf die sich fast alle der untersuchten Metaanalysen beschränkt haben) nachvollziehbar, das Vorliegen von Komorbiditäten auszuschließen, sofern allein der Effekt auf Depressionsoutcomes untersucht wird. Erkenntnisse dazu, ob sich Effekte in Abhängigkeit des Vorliegens von Komorbiditäten unterscheiden, eine Behandlungsmethode oder -kombination bei komorbiden PatientInnen besser als eine andere wirkt, bleiben jedoch aus, obwohl sie nicht weniger relevant sind.

Um die Repräsentativität von Effektbefunden der Versorgungsforschung zu erhöhen, sollten jene Studien mit hohem Anspruch an interner Validität vermehrt durch Studien ergänzt werden, deren Fokus verstärkt auf die externe Validität gerichtet ist. Wirksamkeitsuntersuchungen könnten dazu vermehrt an spezifischen Patientengruppen durchgeführt werden (z. B. an Patienten mit komorbiden Störungsdiagnosen wie Depressions- und Angststörungsdiagnosen). Außerdem könnten ForscherInnen bei Untersuchungen an Stichproben, die nur eine Erstdiagnose im Bereich der Depressionen aufweisen, die „symptomatische Komorbidität“ erheben, indem z. B. Skalen, die das Leidensspektrum einer Angststörung abbilden, zusätzlich als abhängige Variable definiert werden. Dadurch würde man Komorbiditäten, ob diagnostiziert oder nicht, in Form des komorbiden, symptomatischen Leides mitberücksichtigen. Auch der Einbezug von Patientenbeurteilungen zum allgemeinen Wohlbefinden, der psychosozialen Gesundheit oder Zufriedenheit mit einer Behandlung würden die „symptomspezifische Wirksamkeit“ einer Behandlung um ganzheitliche Wirksamkeitsaspekte sinnvoll ergänzen. In Kombination mit globaleren Skalen zur psychischen Gesundheit wäre man in der Lage, die Bedeutung von diagnostizierten oder symptomatischen Komorbiditäten für das Leiden Depressiver einzuschätzen und in Behandlungsplanungen einzubinden.

Wenn Wirksamkeitsstudien die hier formulierten Kriterien einer ausreichenden Berücksichtigung von Komorbiditäten erfüllen, bleibt infrage zu stellen, wie die praktische Handhabung von Komorbiditäten als Faktor kontrolliert wird bzw. inwiefern dies einen Einfluss auf mögliche Effektbefunde haben könnte. Auch unter Berücksichtigung von Komorbiditäten sollte bei der Interpretation von Effektbefunden kritisch diskutiert werden, dass das Vorliegen komorbider Belastungen nicht zwangsläufig das Vorliegen komorbider Diagnosen bedeutet, welche Bedeutung eine oder mehrere Diagnosen überhaupt für psychotherapeutische Interventionen haben und inwieweit Effektbefunde dann noch auf Personen der untersuchten Diagnosegruppen verallgemeinert werden können. Je mehr die Realität komorbider Belastungen bei Depressiven in der Versorgungsforschung abgebildet wird, desto mehr kann über den praktischen Umgang mit Komorbiditäten und ihre Auswirkungen auf Behandlungserfolge aufgeklärt und die Behandlungseffektivität gesteigert werden.

Fazit für die Praxis

  • Aus dem Vorliegen psychischer Komorbiditäten ergeben sich behandlungsrelevante Implikationen, da sie mit einem höheren Schweregrad, einer höheren Chronizität und folglich stärkeren Beeinträchtigungen einhergehen.

  • Vergleiche zwischen komorbiden und nichtkomorbiden Stichproben ermöglichen fundierte Aussagen darüber, ob das Vorliegen psychischer Komorbiditäten einen systematischen Einfluss auf die Wirksamkeit von Interventionen hat.

  • Zur Erhöhung der externen Validität kann Komorbidität in zukünftigen Wirksamkeitsstudien vermehrt als abhängige Variable operationalisiert werden, indem Effekte nicht nur an depressionsassoziierten Skalen gemessen werden (Erhebung einer „symptomatischen Komorbidität“).

  • Eine konventionelle Berücksichtigung von Komorbiditätseinflüssen in der Versorgungsforschung kann über den Umgang mit Komorbiditäten in der Depressionsbehandlung und ihren Einfluss auf Behandlungserfolge aufklären, wodurch berufspraktische oder -politische Entscheidungen anhand von Befunden getroffen werden, die mehr an die Realität komorbiden Leidens bei Depressionen angepasst sind.