Nonverbales Verhalten fristet in vielen Übersichtswerken zum Handwerk der Psychotherapie ein Schattendasein. Vor dem Hintergrund der schulenübergreifenden Einigkeit bezüglich der Relevanz nonverbalen Verhaltens für die Therapiebeziehung erstaunt dieser Zustand. Möglicherweise trägt die schwere Greifbarkeit des Phänomens dazu bei. Eine einfache Heuristik für einen möglichen Umgang mit nonverbalen Signalen in Therapiesitzungen wird skizziert und anhand empirischer Daten illustriert.

Grundlagen

In der Psychotherapie gibt es einige wenige Faktoren, die therapieschulenübergreifend als zentral für den Erfolg einer Therapie betrachtet werden: Diese können als generelle Faktoren („common factors“) zusammengefasst werden (Pfammatter und Tschacher 2012). In diesem Beitrag wird vorgeschlagen, den Faktor „nonverbales Verhalten“ an eine ebenfalls prominente Position zu setzen. In vielen Therapieschulen wird nonverbales Verhalten explizit betont und herausgestrichen, was auch an diversen deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema abgelesen werden kann (z. B. Geißler 2005; Hermer und Klinzing 2004). Viele Praktiker:innen würden der Relevanz nonverbalen Verhaltens für die interpersonale Ebene zweifelsfrei zustimmen. In diesem Beitrag soll anhand eines einfachen Modells versucht werden, „nonverbales Verhalten“ auf einer übergeordneten Ebene in die psychotherapeutische Praxis zu integrieren. Die konkrete Darstellung, wie und wann nonverbales Verhalten eingesetzt und verändert werden kann, scheint insbesondere im Bereich der kognitiv-behavioralen Richtungen noch unzureichend ausgereizt zu sein (mit positiven Ausnahmen, z. B. Roediger 2016). Aber gerade in der Einführungsliteratur sind generelle Aufforderungen, auf nonverbales Verhalten zu achten (ohne weitere Hinweise, wie das geschehen soll) so abstrakt, dass angehende Therapeut:innen wohl nur wenig Praktisches daraus ziehen können. Wenn in einem Einführungswerk steht, dass „z. B. die Fähigkeit, ein größeres Spektrum nonverbalen Verhaltens bewusst einzusetzen …“ (Caspar 2021, S. 46) von Vorteil sei, dann leuchtet dies durchaus ein, aber bietet noch wenig Hilfestellung für eine konkrete Umsetzung in der Therapie. Wie können angehende Psychotherapeut:innen nonverbales Verhalten in ihre praktische Tätigkeit integrieren? Eine mögliche – vorerst vereinfachte – Richtung versucht das hier vorgestellte Modell aufzuzeigen.

Nonverbales Verhalten

Aktuelle Übersichtsarbeiten zu nonverbalem Verhalten (Hall et al. 2019) bilden das breite Einflussgebiet dieses Phänomens gut ab – was auch in folgender Aussage zum Ausdruck kommt: „There is hardly an area in the study of human behavior where nonverbal behavior is not involved“ (Harrigan et al. 2005, S. 2). In der Psychotherapie gilt dies auch; menschliches Verhalten ereignet sich in definierter Form auf regelmäßiger Basis zwischen zwei oder mehr Personen. In diesem Setting läuft der nichtsprachliche Ausdruck immer mit und beeinflusst die Qualität und den Verlauf von Therapien. Der Stellenwert, den nonverbales Verhalten in der Psychotherapieforschung in den vergangenen Jahrzehnten eingenommen hat, ist jedoch an einem anderen Ort anzusiedeln, denn eine Sichtung verschiedener Einführungsbücher in die Thematik „Psychotherapie“ spricht eine andere Sprache: „Nonverbales“ wird in solchen Werken selten in einem eigenen Abschnitt behandelt (Rief et al. 2021).

Nonverbales Verhalten und Psychotherapie

Diverse Metaanalysen zu nonverbalem Verhalten im Bereich der Psychotherapie (Hall et al. 1995) oder zur Kommunikation im Ärzt:innen-Patient:innen-Kontakt (Schmid Mast 2007) liegen vor und veranschaulichen die allgemeine Relevanz der Thematik. Im Bereich der Körperpsychotherapie (Geißler und Heisterkamp 2013; Geuter 2015) sind zudem verschiedene ausführliche Abhandlungen zu nonverbalem Verhalten und konkrete Hinweise zur Umsetzung zu finden. Die in den Metaanalysen berichteten Befunde tauchen auch regelmäßig in konkreten Anweisungen zu „günstigem“ Verhalten von Therapeut:innen auf. Im Folgenden wird exemplarisch auf einen einzelnen, oft genannten Aspekt eingegangen und dieser knapp in seinen empirischen Kontext eingeordnet. Es handelt sich um die Sitzkonfiguration von Therapeut:innen: Eine aufrechte Körperhaltung und eine leichte Neigung des Oberkörpers zum oder zur Patient:in werden empfohlen (so z. B. in einem Buch zur therapeutischen Beziehung und zur Gesprächsführung [Lammers 2017, S. 93], einem Einführungsbuch zu psychologischer Therapie [Rief et al. 2021] und auch in Grawes expliziten Therapeutenvorschlägen seines Buches Psychologische Therapie [Grawe 1998, S. 311]): „Therapeuten sollten mit dem Oberkörper zum Patienten hingeneigt sitzen …“. Diese Konstellation soll Interesse und Engagement signalisieren und werde von Patient:innen mit mehr Empathie, Einsatz und Kompetenz assoziiert (Trout und Rosenfeld 1980). Tatsächlich basiert diese Empfehlung jedoch auf einer überschaubaren Anzahl von Studien, die beispielsweise mit 30-sekündigen, gestellten Videoausschnitten operiert haben (Harrigan und Rosenthal 1983). Die einzige empirische Überprüfung in „vergleichbar normalen“ Counseling-Sitzungen (mit einem Schauspielpatienten) fand sogar das Gegenteil des erwarteten Zusammenhangs: In Minuten mit tiefem Rapport war die vorwärts geneigte Position öfter beobachtbar als in Minuten mit hohem Rapport (Sharpley et al. 2001). Die Autor:innen resümieren denn auch, dass nicht das Zeigen einer Vorwärtsneigung „per se“, sondern deren flexibler und variierender Einsatz sinnvoll sei. Im Folgenden wird jedoch nicht auf dieser konkreten Ebene argumentiert, sondern für eine „offene“ Grundeinstellung hinsichtlich des Einsatzes nonverbalen Verhaltens in Therapiesitzungen plädiert. Weitere konkrete Anregungen finden sich in Büchern aus dem Bereich der Körper- oder der Gestaltpsychotherapie (z. B. Geuter 2015; Joyce und Sills 2018) – im vorliegenden Beitrag wird das Phänomen „nonverbales Verhalten und Psychotherapie“ vorerst auf einer allgemeinen Ebene und mit einem primär kognitiv-behavioralen Hintergrund beschrieben.

Akronym iCAST

Mit dem hier eingeführten Akronym iCAST wird primär eine mnestische Verankerung der verschiedenen zentralen Elemente für den Umgang mit nonverbalem Verhalten in der Psychotherapie angestrebt. Die exakte Reihenfolge und Gewichtung sind sekundär, auch können nur einzelne Aspekte in einer Sitzung umgesetzt werden. Das englischsprachige „cast“ hat eine breite Bedeutungspalette aufzuweisen, auf welche im Folgenden wiederholt eingegangen wird: Cast kann sowohl als Substantiv als auch als Verb verwendet werden („to cast“). Als Substantiv eignet sich Cast im Sinne von Mitwirkenden eines Theaterstücks, Films oder einer anderen Produktion; die Mitglieder einer Band (Musik): Jedes Element von iCAST trägt sinngemäß in seiner eigenen Ausprägung zum Gelingen und zum Charakter der Arbeit mit nonverbalen Signalen in Psychotherapiesitzungen bei.

i – Information

Das Modell beginnt mit dem Erfassen von sichtbarer oder in der Interaktion erschließbarer Information. Diese Information bildet die Grundlage für weitere Schritte des Umgangs mit nonverbalen Signalen, denn, um auf bewusster Ebene mit nonverbalem Verhalten arbeiten zu können, muss dieses auch registriert werden. Dieser erste Schritt wurde in bisherigen Anleitungen zum Umgang mit nonverbalen Signalen oft erwähnt und kann „beibehalten“ werden: Das gewohnheitsmäßige Wahrnehmen und Verarbeiten nonverbaler Signale könnten Therapierende zum Teil einer basalen „Begegnungshaltung“ machen, denn diese Informationsquelle bietet essenzielle Hinweise zum Prozess (in der Sitzung) und auch zum generellen Verhalten/Interagieren der Patient:innen. Die Art und Weise, wie ein:e Patient:in nonverbal in der Sitzung agiert, ist in übergeordneter Weise auch Teil ihrer bzw. seiner erworbenen Art, „sich in die Welt zu stellen“ (Rosa 2016), und somit potenziell für die Therapie relevant. Neben einer solchen Empfänglichkeit für nonverbale Signale ist das aktuelle Wissen um nonverbale Auffälligkeiten der verschiedenen Störungsbilder hinzuzufügen: Nur wenn angehende Therapeut:innen mit diesem stetig wachsenden Wissen ausgestattet sind, können sie die nonverbalen Signale konkret für die Sitzung oder auch für die weitere Therapieplanung nutzen. Vergleichbar zum Wissen auf störungsspezifischer Ebene könnte somit das Wissen um nonverbale Eigenheiten verschiedener psychischer Phänomene angereichert werden. Beispielhaft wird auf eine Studie zum nonverbalen Verhalten von Patient:innen mit einer Störung aus dem depressiven Spektrum verwiesen (Altmann et al. 2021). Das i für Information steht somit für die Verknüpfung von Wissen über störungsrelevante nonverbale Spezifitäten (Hall et al. 1995) und auch für das bewusste Wahrnehmen solcher Signale. Beim i von iCAST kann „to cast“ im Sinne von formen (gießen, Abdruck anfertigen) gesehen werden: Die wahrgenommene Information hinterlässt einen Abdruck bei den Therapierenden; sie gibt dem weiteren Prozess Form; d. h., substantiviert ist Cast im Bereich der Information als Form/Abdruck zu sehen, der aus der Interaktion zwischen Patient:in und Therapeut:in entsteht.

C – to „comment/confront“

Wird etwas Relevantes im nonverbalen Bereich wahrgenommen, kann es in vielen Fällen kommuniziert werden. Relevant kann dabei vieles bedeuten, sei es im Sinne von „bisher nicht aufgetreten“ (z. B. eine geballte Faust bei bislang unterdrücktem Ärger) oder im Sinne von „stärker/schwächer ausgeprägt“ (z. B. mehr Emotionsausdruck im Gesicht bei bisher flachem Affekt), im Sinne von „Nichtübereinstimmung mit verbalem Inhalt“ (z. B. ein Lächeln beim Erzählen der Auseinandersetzung mit einer Bezugsperson) und in vielen anderen Situationen, die der oder die Therapeut:in als wichtig erscheinen. Das verbale Aufgreifen einer solchen Beobachtung kann ebenfalls ein breites Spektrum, das von neutralem Beschreiben der Beobachtung bis zu explizitem Konfrontieren reicht, annehmen. Eine solche aktive Therapeut:innen-Intervention erfolgt entweder auf der sprachlichen Ebene (z. B. „Mir fällt auf, dass …“; „Können Sie diesen Seufzer nochmals machen …“, „Ich frage mich, ob Ihre Fußbewegung eine Bedeutung hat …“) oder auch auf der nichtsprachlichen Ebene, z. B. ein „Nicht-Mitlachen“ wie es im Bereich des Austausches von Gesichtsmimik beschrieben worden ist (Bänninger-Huber 1992). Der Hauptaspekt dieses Schrittes besteht somit darin, dass den Patient:innen durch verbale oder verhaltensbasierte Aktionen der Therapeut:innen ein Bewusstsein für nonverbale Aspekte der aktuellen Situation geschaffen wird. Patient:innen werden mit diesem (wohlwollenden) Aufgreifen eingeladen, über das Phänomen zu reflektieren. Diese Information kann in einem nachfolgenden Schritt mehrgleisig weiterverfolgt werden, sei es mithilfe klärungsorientierter Vertiefung oder auch mithilfe bewältigungsorientierter Methoden. Eine Reihe von Therapieverfahren beinhaltet diesen bzw. einen vergleichbaren Schritt seit jeher ausdrücklich im therapeutischen Vorgehen. Die Gestalttherapie und ihr phänomenologischer Fokus auf das Hier und Jetzt sind ein Beispiel einer solchen Richtung (Perls et al. 2006), und auch die intensive psychodynamische Kurztherapie (ISTDP) sowie die Körperpsychotherapie (Geißler und Heisterkamp 2013; Geuter 2015) könnten hier genannt werden. In aktuellen Therapieverfahren der 3. Welle finden sich passende Elemente beim Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP), bei der Emotionsfokussierten Therapie (EFT) und auch in einigen weiteren therapeutischen Ausrichtungen. Historisch kann dieser Teil von iCAST ganz explizit den Ausführungen von Beier und Young (1998) zugeordnet werden, denn in ihrer Analyse des Verhaltens von Therapeut:innen sprechen sie an vielen Stellen von „nichtsozialem“ Verhalten – Verhalten, das das Potenzial habe, Patient:innen so weit zu überraschen/konfrontieren, dass ein Aufbrechen bisheriger Reaktions- und Verarbeitungsgewohnheiten überhaupt erst ermöglicht werde). Beim C von iCAST kann deshalb der Bedeutungsaspekt der Bewegung (Blickbewegungen, Fischerei, Würfelspiel, Seefahrt: abtreiben lassen, an Land spülen, losmachen, über Bord werfen) als wichtiger Aspekt genannt werden. Denn durch die Bewusstmachung (verbal oder szenisch) kann ein Transformationsprozess in Gang gesetzt werden. Die Therapierenden versuchen mit ihrem Aufgreifen nonverbaler Aspekte, einen potenziell wichtigen Gesichtspunkt ihres Gegenübers einzufangen.

A – to „attune/acknowledge“

In sämtlichen Stufen/Schritten des Modells lohnt es sich, wenn Therapeut:innen, sich des Effekts bzw. der gegenseitigen Beeinflussung durch das Gegenüber gewahr sind und sich insbesondere diesem Prozess auch öffnen: Durch den Resonanzprozess zwischen Interaktionspartner:innen wird ein dyadisches Phänomen, das mittlerweile auch empirisch relativ gut erforscht ist, erzeugt. Beispielhaft für solche Angleichungsprozesse kann die nonverbale Synchronie – beispielsweise als das Phänomen der koordinierten Körperbewegung zwischen Patient:in und Therapeut:in – aufgeführt werden. Nonverbale (Bewegungs‑)Synchronie wurde bereits in den 1960er-Jahren beschrieben; eine aktuelle empirische Methode zur Erfassung von Synchronie ist die Motion Energy Analysis (MEA; Ramseyer 2020). Die erste randomisierte Studie zu nonverbaler Synchronie in ambulanter Psychotherapie hatte gezeigt, dass mehr nonverbale Synchronie mit höherer Beziehungsqualität (aus der Patient:innenperspektive) und besserem Therapieerfolg assoziiert war (Ramseyer und Tschacher 2011). Nachfolgende vergleichbare Studien konnten diesen Zusammenhang bestätigen (Altmann et al. 2020; Cohen et al. 2021), wohingegen andere Studien – mit teilweise deutlich unterschiedlich verwendeten Kennwerten – auch zu widersprüchlichen Befunden geführt haben (Paulick et al. 2018; Schoenherr et al. 2019a). Ein Teil der Widersprüchlichkeit kann in den nicht einheitlich verwendeten Parametern zur Quantifizierung von nonverbaler Synchronie gesehen werden (Schoenherr et al. 2019b), ein anderer Faktor könnte auch in der mehrfachen Bestimmtheit des Phänomens liegen: Synchronie wird nicht nur durch Affekt oder Beziehung beeinflusst, sondern beispielsweise auch durch kognitive Last (Van der Zee et al. 2020), die Art der Aufgabe (Tschacher et al. 2014) oder die soziokulturelle Zusammensetzung der Dyade (Hamel et al. 2022). Insgesamt scheint aber im Bereich des Sich-gegenseitig-Beeinflussens zwischen Therapeut:in und Patient:in ein vielversprechendes Phänomen zu bestehen (Wiltshire et al. 2020), das in zukünftigen Studien hoffentlich eine weitere Ausdifferenzierung erfahren wird. Beim A von iCAST steht mitunter der Aspekt des Auslösens/Abgebens (Schattenwurf, Schein, Stimmabgabe, Zauberei) im Vordergrund: Patient:innen bewirken bei ihren Therapeut:innen Veränderungen auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens (nonverbal), die in beide Richtungen weitergehen (im Sinne eines sich entwickelnden Prozesses auf der Ebene der Dyade).

S – to „shape/soothe/stimulate“

Viele Klient:innen gelangen in eine Psychotherapie, weil ihre Erfahrungen im alltäglichen Leben nicht so gestaltet sind, dass weiteres Wachstum und/oder Bearbeitung der Problematik möglich wären. In diesem Sinne haben Therapeut:innen immer auch die Funktion, den Klient:innen andere und neue Erfahrungen zu ermöglichen, die sich korrektiv oder heilsam auf ihren sozialen Bereich auswirken: Neben der (sprach-)inhaltlichen Plattform, die eine therapeutische Interaktion schafft, kann man sinngemäß auch das nonverbale Erleben als (neues) Erfahrungsfeld bezeichnen. Wenn nämlich Therapeut:innen mit ihrer Präsenz (Geller und Greenberg 2002), ihrer vollen Aufmerksamkeit bei ihren Patient:innen sind, dann birgt diese Beziehungserfahrung schon für sich allein genommen ein enormes Potenzial für Veränderung, was auch Carl Rogers in einem späten Interview betont hatte (Baldwin 2000). Mit einer geeigneten Art, sich nonverbal in Beziehung zu setzen, können somit die korrektiven Erfahrungen auf der zwischenmenschlichen Ebene weiterbefördert werden. Therapierende können bei entsprechendem Bewusstsein und passender Gestaltung ihres nonverbalen Verhaltens ihre Klient:innen in die geeignete Richtung beeinflussen (z. B. beruhigend bei Überaktivierung; anregend bei Unteraktivierung). Beim S von iCAST steht damit die Beeinflussung oder Hilfestellung im Sinne von Halt/Struktur geben (Gipsverband, Abdruck/Form) im Vordergrund. Durch eine bewusste Gestaltung der Beziehungssituation und der von den Therapierenden ausgesendeten nonverbalen Signale kann eine neue oder hilfreichere Erfahrung bzw. ein Zustand auf zwischenmenschlicher Ebene eingebettet werden.

T – to „train/test/transfer“

„Reden ist Silber, real erfahren ist Gold“ (Grawe 1995, S. 136): Das gilt sehr klar auch für den Bereich des nonverbalen Verhaltens: Nur bei einer prozessualen Aktivierung der relevanten körperlichen Elemente kann diese Erfahrung verkörpert werden („embodied“) und im zweiten Schritt auch ein Transfer von der Therapiesituation in den Alltag erfolgen. Das Konzept der korrektiven Erfahrung (Castonguay und Hill 2012) passt gut zu diesem Schritt: In der Sitzung oder mithilfe angeleiteter Umsetzung zwischen Sitzungen kann den Patient:innen eine korrektive (neue) Erfahrung ermöglicht werden. Während dies im oben beschriebenen shape/soothe/stimulate mehrheitlich implizit erfolgen kann, ist der übliche Modus bei train/test/transfer das bewusste Herstellen oder Instruieren von Situationen. Die Verhaltenstherapie hat den Wert von Inszenierungen (oder auch Rollenspielen) seit jeher hochgehalten und bietet auch explizite Hinweise für deren Umsetzung an (Hautzinger 2022). Diverse Ansätze der dritten Welle haben diesen aktivierenden Teil längst fließend in ihr Vorgehen aufgenommen (sei es auf der emotionalen oder auch auf der interaktionellen Ebene), und viele eklektisch arbeitende Therapeut:innen bauen solche Elemente in ihre Arbeit ein. Neben diesen weitum bekannten Möglichkeiten im Bereich der szenischen Aktivierung findet sich heute zudem eine Reihe von computerbasierten Verfahren, die ein Erleben/Üben im Therapieraum ermöglichen (Schmid Mast et al. 2018). Das T von iCAST betrifft somit den Umbruch, die Veränderung, die mit Verlieren/Abwerfen (Gehörn: Tierreich; Blätter: Pflanzen; Häuten: Reptilien, Krustentiere); das Ablegen, Vergessen, Fallenlassen (Vorurteile/Hemmungen: Mensch) passend erfasst wird. Nur über einen solchen – oft auch anstrengenden – Prozess/Bewältigung kann ein neuer Zustand erreicht werden. Diese Umsetzung können Therapierende mithilfe geeigneter Inszenierungen inner- und außerhalb der Therapiesitzung gestalten.

Train: Auch für Therapeut:innen?

Was bedeuten die soeben beschriebenen Schritte nun für die psychotherapeutische Praxis? „Die systematische Beachtung des nonverbalen Kommunikationsverhaltens der Therapeuten und seine gezielte Veränderung sollten daher ein ausdrücklicher Bestandteil psychotherapeutischer Ausbildungen und insbesondere der Supervision sein“ (Grawe 1998, S. 311). Dieser Aussage Grawes kann vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen vollkommen zugestimmt werden. Wenn es gelingt, angehende Therapeut:innen auf die Relevanz und mögliche Faszination nonverbalen Verhaltens aufmerksam zu machen, wird dadurch eine zusätzliche Möglichkeit für Veränderung geschaffen.

Phase der Therapie

Der Autor des vorliegenden Beitrags hat die Erfahrung gemacht, dass das iCAST-Modell in allen Phasen einer Therapie mehr oder weniger explizit zur Anwendung kommen kann. Für Therapeut:innen bietet sich die Aufmerksamkeitslenkung auf nonverbales Verhalten (im Generellen) von den ersten Sekunden der Interaktion an. Nonverbale Hinweisreize können von „wahrnehmungsoffenen“ Therapeut:innen vom ersten Moment der Begegnung verwendet werden und liefern relevante Möglichkeiten für die Gestaltung einer Sitzung per se, und natürlich auch für die weitere Gestaltung der Beziehung.

Bedingungen für den Einsatz

Die oben beschriebenen Elemente des iCAST sollten in „normalem Einsatz“ nicht „abgearbeitet“ werden, da situative und Patient:innen-spezifische Elemente die jeweilige Wahl leiten sollten. Die hier präsentierte Abfolge ist auch teilweise der Akronymbildung geschuldet: Während „information“ und auch „attunement“ immer und während aller Interaktionen eine Rolle spielen können, sind andere Elemente einfacher von den übrigen separierbar: „Trainieren und testen“ lassen sich Dinge in der Therapiesitzung selbst, aber man kann diese Elemente problemlos auch als Projekte („Therapie“-Aufgaben) für die Zeit zwischen Sitzungen planen und in Auftrag geben. Wesentlich für den Einsatz in Sitzungen ist nicht die Abfolge, sondern der passende Einsatz im richtigen Moment.

Empirisches Beispiel

Die bisherigen Ausführungen zum iCAST-Modell sollen mithilfe eines einfachen empirischen Beispiels illustriert werden. Der Autor bezieht sich auf einen öffentlich zugänglichen Datensatz im Open Science Framework (OSF; https://osf.io/gkzs3/), der mit einem automatisierten Programm zur videobasierten, objektiven Quantifizierung von Körperbewegung erstellt worden ist (MEA; Ramseyer 2020) und für welchen geeignete statistische Auswerteverfahren verfügbar sind (Kleinbub und Ramseyer 2021). Es handelt sich um 103 Erstgespräche eines Therapeuten mit unterschiedlichen Patient:innen, d. h., in diesem Datensatz können intraindividuelle Auffälligkeiten in Abhängigkeit von demografischen oder diagnostischen Merkmalen exploriert werden.

Resultate

Exemplarisch soll auf das Ausmaß der Kopfbewegung des Therapeuten eingegangen werden: In Abb. 1 lässt sich die Verteilung der Bewegungsaktivitäten, getrennt für affektive Störungen (n = 31; rosa) und Angststörungen (n = 19; türkis) herauslesen. Der zeitliche Verlauf innerhalb der Sitzungen ist von Beginn (unten, „window“) des Gesprächs bis zu Minute 55 (oben, „window_50“) dargestellt. Es ist ein deutlicher Unterschied im Ausmaß der Kopfbewegung in Abhängigkeit von der Diagnose zu erkennen: Bei Patient:innen mit affektiven Störungen bewegt der Therapeut seinen Kopf häufiger (T (430,3) = 3,34; p < 0,001; d = 0,30). Auch die Patient:innen zeigen einen Unterschied in die gleiche Richtung – Patient:innen mit affektiven Störungen bewegen ihren Kopf mehr als solche mit einer Angststörung – allerdings mit einer geringeren Effektstärke (p = 0,036; d = 0,20). Diese diagnosespezifischen Bewegungsunterschiede lassen eine gegenseitige Beeinflussung erschließen, d. h., Patient:innen und Therapeut scheinen sich gegenseitig im Ausmaß ihrer Kopfbewegung zu beeinflussen.

Abb. 1
figure 1

Verlauf der Kopfbewegung des Therapeuten, getrennt nach Diagnosen. window Zeitsegment der Analyse (5-min-Segmente), Bewegung Therapeut prozentuale Kopfbewegung Therapeut

Dieser Effekt kann anhand des Ausmaßes der synchronen Bewegung weiter exploriert werden: Die sog. nonverbale Synchronie (Ramseyer und Tschacher 2011) – die zeitgleiche und zeitversetzte Koordination der Körperbewegungen zwischen Patient:in und Therapeut:in – unterscheidet sich in diesem Datensatz jedoch nicht zwischen den 2 Diagnosegruppen (d = 0,06), sie ist aber mit hoher Effektstärke signifikant über dem Zufallswert von Pseudosynchronie (d = 0,94; p < 0,001). Die Pseudosynchronie bezeichnet das Ausmaß von Synchronie, die man aufgrund rein zufälliger Übereinstimmung der Bewegungen einer Dyade erwarten würde; gebildet wird Pseudosynchronie durch die Kombination von Bewegungszeitreihen von Personen, die nie miteinander interagiert haben. Die nonverbale Synchronie der Körperbewegung ist im vorliegenden Datensatz hingegen im Zusammenhang mit einem anderen Kennwert von Interesse: Der weitere Therapieverlauf nach dem Erstgespräch wurde jeweils erhoben: Patient:innen wechselten nach dem Gespräch entweder zu einem oder einer Therapeut:in, der oder die sich in Therapieweiterbildung befindet (norm; n = 76) oder sie entschieden sich gegen eine Therapie (Drop-out; n = 14). Eine weitere Untergruppe beendete die Behandlung bei den neuen Therapierenden vorzeitig (term; n = 13). Über alle 3 Gruppen und über die gesamte Zeitverschiebung hinweg (± 10 s) sind Unterschiede sichtbar (Abb. 2); diese fallen aufgrund der geringen Gruppengrößen jedoch nicht signifikant aus. Es findet sich allerdings ein Trend für Unterschiede im Ausmaß der Imitation des Therapeuten (F (2) = 2,89; p = 0,060). Die 2 Subgruppen „Drop-out/out“ und „vorzeitiger Abbruch/Term“ unterscheiden sich bei differenzierterer Auflösung darin, wie stark sie vom Therapeuten im Erstgespräch imitiert worden sind: Patient:innen, die nur das Erstgespräch besucht haben, wurden vom Therapeuten weniger imitiert [„Patient:in (pat) führt“] als solche, die ihre Behandlung vorzeitig beendet haben (T (21,3) = −2,61; p = 0,016; d = 1,03), und Patient:innen mit regulärem Therapieabschluss befanden sich zwischen diesen 2 Gruppen. Im Bereich der Imitation des Therapeuten durch die Patient:innen [„Therapeut:in (th) führt“] ließen sich keine signifikanten Unterschiede feststellen. Die jeweiligen Unterschiede im Ausmaß der Synchronie können in Abb. 2 grafisch erkannt werden.

Abb. 2
figure 2

Ausmaß der Synchronie über verschiedene Zeitverschiebungen hinweg (Lag). |zCCF| absolute Kreuzkorrelation, Fishers Z-standardisiert. term (blau) Therapieabbruch, norm (grün) regulärer Therapieverlauf, out (pink) Drop-out nach Erstgespräch, random (grau) Pseudosynchronie (Vergleich mit Zufall)

Diskussion der Befunde

Eine ausführliche Interpretation dieser Befunde würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen, und die Daten sind primär zur Veranschaulichung präsentiert. Man kann aber durchaus schlussfolgern, dass die Variable „Kopfbewegung“ – die i. Allg. wenig unter bewusster Kontrolle steht – als Ausdruck von bewegungsbasierten Angleichungsprozessen (nonverbale Synchronie) Bestand hat, und dass die gefundenen Bewegungsähnlichkeiten zwischen Patient:innen und Therapeut:innen etwas mit der jeweiligen Psychopathologie zu tun haben. Das differenzielle Imitationsmuster bei Patient:innen, die unterschiedlich auf das Therapieangebot eingegangen sind oder nicht, deutet darauf hin, dass Unterschiede im Ausmaß der Synchronie möglicherweise sehr schnell zutage treten (beim Erstgespräch) und dass diese Unterschiede prognostisch relevant sein können. Zukünftige Untersuchungen könnten sich diese Zusammenhänge zu prognostischen Zwecken zunutze machen. Es ist zu hoffen, dass durch die zwei Beispiele deutlich wird, wie reichhaltig ganz einfache nonverbale Kennwerte wie die Körperbewegung (und -synchronie) erfasst und ausgewertet werden können, und wie viel Potenzial solche Quantifizierungen haben können.

Diskussion

Gemäß Grawe kann man sich vorstellen, dass „Schauspieler auch gute Psychotherapeuten wären“ (Grawe 2002; persönliche Mitteilung in einem Seminar). Schließlich sind sie Expert:innen im Verkörpern verschiedener Rollen, d. h., sie weisen in der Mehrzahl eine hohe Flexibilität in ihrem nonverbalen Ausdruck auf. Die Parallele bezüglich der Flexibilität kann sehr wohl auch zu Psychotherapeut:innen gezogen werden, denn auch in dieser Profession ist es von Vorteil, verschiedene (nonverbale) Funktionsmodi mit unterschiedlichen Patient:innen verkörpern zu können. Wenn hier der Terminus „verkörpern“ verwendet wird, deutet dieser bewusst auf den Forschungsbereich des Embodiment (Tschacher und Pfammatter 2016): Prozesse auf der Kognitionsebene sind nicht entkoppelt bzw. unabhängig von Prozessen im Körper; es besteht eine bidirektionale Beeinflussung. Das skizzierte iCAST-Modell schafft somit eine einfache Grundlage, die die bewusste Wahrnehmung des reichhaltigen nonverbalen Verhaltens in der Psychotherapie und v. a. die aktive Beeinflussung des Therapieprozesses ermöglicht. Eine solche Einflussnahme dient nicht nur der Gestaltung der Therapiebeziehung – sie hilft auch dabei, Schwierigkeiten zu erkennen und aufzugreifen. Wie und wann Beobachtungen und eigenes (nonverbales) Erleben thematisiert werden, sollte von den Therapierenden jeweils fallspezifisch im Prozess entschieden werden. Für diese Entscheidung hilft auch der Blick nach innen: Das wichtigste Instrument der Therapierenden sind sie selbst – ihre Reaktionen auf den oder die Klient:in und ihr eigenes Wahrnehmen im Hier-und-Jetzt (Joyce und Sills 2018, S. 39).

Fazit für die Praxis

  • Nonverbales Verhalten ist für viele Therapierichtungen ein wichtiger Faktor, aber die konkrete Arbeit mit nonverbalen Signalen ist bisher wenig systematisiert. Insbesondere in kognitiv-verhaltenstherapeutisch basierten Richtungen fehlen konkrete Hilfestellungen.

  • Das iCAST-Modell stellt einen schulenübergreifenden Ansatz dar, der Therapeut:innen die Wahrnehmung und das Arbeiten mit nonverbalen Signalen erleichtern kann.

  • Die vorgeschlagene Grundhaltung konzeptualisiert Therapeut:innen als sensible Messinstrumente, die sich im Prozess der Interaktion mit Patient:innen beeinflussen lassen, diese Beeinflussung wahrnehmen, und durch ihr explizites Aufgreifen dieser Geschehnisse das Gegenüber einladen, klärungsorientiert zu reflektieren sowie bewältigungs- bzw. erfahrungsorientiert zu erleben und zu bearbeiten.

  • Sie setzen ihr eigenes nonverbales Verhalten dazu ein, um Patient:innen zu einer Erhöhung ihrer Freiheitsgrade (Erweiterung der Möglichkeiten) zu führen.

  • Das Konzept des Embodiment kann als theoretische Basis für diese Prozesse betrachtet werden.